„Züri brännt“ und „Befreit Grönland vom Packeis“ steht 1980 auf Häuserwänden im wohlhabenden Zürich. Zwei Jahre lang kommt es zu heftigen Jugendunruhen. Nur wenige Schweizer Intellektuelle finden Verständnis für das Aufbegehren.
Eine Ausnahme ist der 64-jährige Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin. Er, der Intellektuelle und skeptische Menschenfreund, unterstützt die Jugendlichen mit seinen Mitteln: 1980 veröffentlicht er in einer Fachzeitschrift eine psychoanalytische Studie über die Motive der aufbegehrenden Jugendlichen in der Stadt, in der Parin mit kurzzeitigen Unterbrechungen bereits seit über vierzig Jahren lebt. Betitelt ist sie mit „Befreit Grönland vom Packeis. Zur Zürcher Unruhe 1980“. Abgeschlossen hat er sie im Juli 1980. Die scheinbar unverständlichen, abrupt aufgebrochenen Unruhen dauern zu diesem Zeitpunkt noch an. Paul Parin wendet also als Zeitzeuge und wissenschaftlicher Chronist seine in den Jahren von 1954 bis 1971 gemeinsam mit Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler in Afrika entwickelte Methode der Ethnopsychoanalyse an.
Wissenschaftlicher Blick auf die 80er Unruhen
Paul Parin beginnt seine Studie so: „’Mached us em Staat Gurkesalat’, ‚Lieber blutt als kaputt’, ‚Ohne Polizei kein Krawall’. (…) Das sind Parolen der ‚Zürcher Unruhe’ im Frühsommer 1980. Diese Protestbewegung ging auf die Strasse, als die traditionellen Theaterfestspiele am 30. Mai mit einer Galavorstellung im Opernhaus eröffnet wurden.“
Weiter beschreibt Parin gewaltsame Szenen und Machtsymbole, die den Zorn der jungen Leute noch zusätzlich anfachten: „Ein Kontingent Polizisten, mit Helmen und Schilden bewehrt, war im Innern des Opernhauses verborgen. Die Polizisten stürmten heraus, kämpften den Eingang frei und trieben die Jugendlichen, die bald zu fliehen anfingen, gegen die innere Stadt. Pflastersteine flogen in die Scheiben der Oper und in die Schaufenster etlicher Geschäfte und Gaststätten. Die Polizei rückte mit Verstärkung an, schnitt Fluchtwege ab, setzte Tränengas und Hartgummigeschosse ein. Es tobte ein regelrechter Kampf. Es gab mehrere Leichtverletzte auf beiden Seiten.“
Parin arbeitet den spielerisch-kreativen Aspekt dieser Proteste heraus. Diese imponieren ihm: „So mutig, spielerisch und selbstbewusst die jungen Leute auch auftreten, der Humor hat immer einen düsteren Beiklang; die Angst, die sie haben, wird nicht verdrängt, sie reden darüber und tragen sie mit Gesten zur Schau. Jeder neue Einfall, so sehr man darüber lachen muss, erinnert an die lustigen und makabren Nummern trauriger Clowns. So verstehen sie sich untereinander, ohne lang zu reden, und wer will, kann ihre Sprache, die ausdrückt, dass sie nicht ins Gespräch kommen, nachvollziehen.“
Ein politisches Leben
Heute wäre der am 20. September 1916 in Slowenien Geborene 100 Jahre alt geworden. Vor vier Jahren habe ich im Journal 21 schon einmal Paul Parins Vita und wissenschaftliches Wirken nachgezeichnet.
Paul Parin wächst auf als Sohn eines assimilierten jüdischen Grossgrundbesitzers unter privilegierten Umständen auf dem Gutshof Novikloster. Er besucht keine Schule, sondern erhält Hausunterricht. Bei Ausflügen in die ländliche Umgebung zeigt sich früh sein Entdeckerdrang. Ein halbes Jahrhundert später versammelt er seine Jugenderinnerungen in seinem Erzählband „Untrügliche Zeichen von Veränderung“. Sowohl für seine psychoanalytisch-theoretischen als auch für seine späteren literarischen Werke wird er vielfach mit Preisen ausgezeichnet.
Mit 16 Jahren hört Parin erstmals von Hitlers „Mein Kampf“ – und erkennt die Gefahr. Ein Jahr später besucht er in Graz doch ein Gymnasium, um einen Abschluss zu erhalten. Es ist eine „Nazischule“, wie er es selbst nennt. Er erlebt die Ermordung von drei jüdischen Mitschülern, „während ich, der letzte Nichtarier an dieser Schule, überlebte“. Das Morden ist nun erlaubt.
Seine eigene Gefährdung als Jude ist Parin früh bewusst. Aber er vermag sich mit seinen Mitteln zu wehren: Mittels seiner Beobachtungsgabe und seiner Sprachkraft. Er macht seine nationalistischen Gegner lächerlich. Und kommt damit durch.
16-jährig beteiligt er sich erstmals an antifaschistischen Aktionen. Von 1934 bis 1938 studiert er Medizin in Graz, Zagreb und Zürich, wo er auch promoviert. 1937 geht der junge, marxistisch interessierte Student von Graz nach Zagreb, „um hier abzuwarten, ob die ‚braune Flut’ nicht noch einmal zurückebben würde, bevor sie Österreich überschwemmte“. Ein Jahr später emigrieren die Parins in das sichere Zürich.
Im Oktober 1944 geht der 27-Jährige mit sechs weiteren Schweizer Ärzten – gegen den ausdrücklichen Willen der Schweizer Regierung – aus Protest gegen die Politik der Schweizer Regierung, die ein „J“ in die Pässe der flüchtenden Juden stempelt, als Widerstandskämpfer zu Titos Partisanen. Angst hat der junge Intellektuelle nicht: „Ich war neugierig, wie sich das entwickeln würde, und ich dachte: Ich komme durch“, erinnerte er sich 2006.
„Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden“, schreibt Parin 1991 in seinem Erinnerungsbuch „Es ist Krieg und wir gehen hin“ über seine Zeit als anarchistischer Sozialist bei Tito.
Gesellschaftskritische Psychoanalyse
Juni 1946: Die Nationalsozialisten sind besiegt, in Jugoslawien wird Parins anarchische Utopie durch die sozialistische Bürokratie verdrängt. Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy gehen zurück nach Zürich, machen eine psychoanalytische Ausbildung. Bald gilt er als ein führender Theoretiker, der Freuds Psychoanalyse mit gesellschaftskritischen Aspekten anreichert. Ab den 70er Jahren ist er in „der Linken“ schon mehr als ein Geheimtipp. In „Widerspruch im Subjekt“ (1978) sowie „Subjekt im Subjekt“ (1986) versammelt er seine psychoanalytisch-gesellschaftskritischen Studien.
Zürich wird den Parins rasch zu eng. Von 1954 bis 1971 unternehmen sie, gemeinsam mit ihrem Kollegen Fritz Morgenthaler, sechs selbst finanzierte Forschungsreisen nach Westafrika, um mit Hilfe der von ihnen entwickelten Ethnopsychoanalyse das Seelenleben westafrikanischer Völker zu untersuchen. Nebenbei legen sie zwei ethnopsychoanalytische Grundlagenwerke vor: „Die Weissen denken zu viel“ (1963) und „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst“ (1971).
Werk mit Ausstrahlung
Die aufbegehrende 68-er-Generation greift die markanten Buchtitel auf. 1980 schliesst der 74-Jährige seine Gemeinschaftspraxis am Utoquai 41 und wird Schriftsteller. 1985 erscheint mit „Zu viele Teufel im Land“ sein schmerzhafter Abschied von Afrika, es folgen zahlreiche Erzählbände, u. a. „Noch ein Leben“ (1980), „Karakul“ (1993), „Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären“ (1995), „Der Traum von Ségou“ (2001), „Die Leidenschaft des Jägers“ (2003) und „Das Katzenkonzil“ (2005).
Als Goldy 1997 stirbt, möchte auch Paul gehen. Zwölf Jahre lebt er weiter, aus Zuneigung zu seinen in der ganzen Welt verstreuten Freunden und Schülern. Dass er der Versuchung zum Freitod nach dem Dagingehen Goldys nicht nachgibt, ist vielleicht seine grösste seelische Leistung. Paul Parin war sich bewusst, dass jeder Suizid bei zurückbleibenden Freunden Schuldgefühle hinterlässt.
Als Paul erblindet, wird seine Wohnung am Utoquai 41 zum Treffpunkt seiner in der ganzen Welt verstreuten Freunde. Und er, der sich zusammen mit Goldy bewusst gegen eigene Kinder entschieden hatte, erfährt in seinen letzten Lebensjahren eine ganz aussergewöhnliche Wohltat: Sein Freund Johannes Reichmayr und viele andere organisieren per Internet, dass jeden Abend jemand in seiner Wohnung ist, für ihn kocht und die Besucher aus der weiten Welt, darunter viele psychoanalytische Schüler, einlässt.
Am 18. Mai 2009 stirbt Paul Parin in Zürich.
Nachlass von und Literatur über Paul Parin:
Der sehr umfangreiche Nachlass Paul Parins ist nach Wien gezogen. Dort, am Rande des Praters, befindet sich das Studio und Archiv Paul Parin & Goldy Parin-Matthèy. Vom 1.–4. September 2016 fand eine internationale Tagung über Paul Parins Wirken statt.
Der Giessener Psychosozial Verlag, dessen Inhaber Hans-Jürgen Wirth ein guter Freund Parins war, hat rechtzeitig zum runden Geburtstag einen mit 623 Seiten sehr umfangreichen Band zum Leben und ethnopsychoanalytischen Wirken Paul Parins vorgelegt – wie auch einen Fotoband:
Johannes Reichmayr (Hg.) (2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gegenübertragung in transkulturellen und postkolonialen Kontexten. Paul Parin zum 100. Geburtstag. Giessen (Psychosozial-Verlag), 624 S., 59.90 Euro.
Michael Reichmayr (Hg.) (2016): Augen Blicke West Afrika. Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy, Fritz und Ruth Morgenthaler auf ihren Reisen 1954–1971 / Katalog zur Ausstellung »Paul Parin als Fotograf«, Giessen (Psychosozial-Verlag), 110 S., geb. 34.90 Euro.