Die grosse Errungenschaft Demokratie ist in Gefahr. Wo Politik zum reinen Machtkampf degeneriert und sowohl Populisten, Nationalisten wie Autokraten ihren Machthunger immer unverschämter und erfolgreicher verkünden, droht Überfremdung der anderen Art. Die Feinde des Rechtsstaates operieren aus der Deckung heraus. Populisten rekrutieren ihr Fussvolk erfolgreich via Medien, oft mit den eigenen und mit grossem finanziellem Aufwand. Nationalisten verbreiten ihre zersetzende Mischung aus Ignoranz und Selbstüberschätzung als rettende Antwort aller einheimischen Probleme mittels Propaganda und staatlicher Lenkung der Medien. Autokraten schliesslich kümmern sich nicht mehr um solche Kleinigkeiten, regieren mal autoritärer, mal totalitärer – es sind Diktatoren, wie man früher sagte.
Die Rolle des Volkes
Wo Autokraten herrschen, spaltet sich das Volk in zwei Gruppen: die sichtbare und geschützte, obrigkeitsgenehme applaudiert; die andere, im Untergrund, hütet sich im eigenen Interesse, um nicht als „Staatsfeinde“ diskreditiert, verhaftet oder verurteilt zu werden. Wenn Nationalisten – offiziell legitimiert, weil gewählt – ihre hemdsärmlige, rückwärtsgewandte Doktrin verbreiten, darf zwar im Volk offiziell noch eine abweichende Meinung vertreten werden, doch gerät sie im organisierten Volksaufmarsch in die Defensive. Bleiben die Populisten, umtriebige, erfolgreiche Demagogen, die das Volk ködern, indem sie einfache Lösungen propagieren, die zu erarbeiten die herrschende Klasse der Politik und Wissenschaft nicht in der Lage wäre. Dieser Teil der Bevölkerung, der diesen Botschaften Glauben schenkt, ist differenzierter anzuschauen.
Allen drei Machttypen ist gemeinsam, dass sie die Demokratie diskreditieren und schwächen – als „Zar“ oder „Sultan“ der Autokrat; als Ideologen, die ihr Land Richtung autoritärem Staat dirigieren, die Nationalisten. Schliesslich die Populisten, indem sie unentwegt den Graben zwischen Volk und Elite vertiefen, mit grosser rhetorischer Begabung die Polarisierung ihres Landes vorantreiben, um selbst die stärkste politische Macht zu werden.
Das Volk in Zeiten der Globalisierung
Lassen wir bei der Beurteilung der Gegenwart die Autokraten aussen vor, sie können die westlichen Demokratien zum Glück nicht umgestalten. Warum sind aber weite Teile der Bevölkerung je länger je offensichtlicher angetan von den Botschaften der Nationalisten und Populisten, warum glauben sie diesen?
Offensichtlich steigt die Frustration zuerst einmal dort, wo Lohndruck oder gar Arbeitslosigkeit als Folge der wirtschaftlichen Öffnung die Menschen verzweifeln lässt. Man sagt ihnen, daran wären die Globalisierung und der Freihandel schuld (ohne die immensen Vorteile dieser Entwicklung in die Waagschale zu werfen). Daraus entwickelt sich über kurz oder lang der Wutbürger.
Schon etwas komplizierter ist die Lage in jenen Ländern, wo die eigenen Regierungen für Stagnation oder gar gesellschaftlichem Rückschritt verantwortlich gemacht werden. Tatsächlich kennen wir mehrere europäische Länder, in denen diese Schuldzuweisung nicht ganz falsch ist. Doch dann stellt sich sogleich die nächste Frage: Warum gelingt es dem Volk über Jahrzehnte nicht, diesen Missstand via Urne zu ändern? Will das Volk letztlich gar nicht? In diese Kategorie gehören Frankreich, Italien und Spanien; hier wird heute – auch als Folge uneingelöster Regierungsversprechungen – jeder gutgemeinte, längst überfällige Reformansatz mithilfe der Gewerkschaften und landesweiten Streiks im Keime erstickt. Womit wir wieder beim Volk wären.
Bleiben für diese Betrachtung jene Länder, deren Demokratien im Grunde genommen zufriedenstellend funktionieren und die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten einen grossen Wohlstandszuwachs verzeichnen konnten. Trotzdem erleben hier Verheissungen der besonderen Art eine Hochkonjunktur: „Unsere Nation ist die beste, unsere Selbstbestimmung geht allen internationalen Abmachungen vor, wir brauchen die EU nicht, sie schadet uns nur.“ Dieser Nährboden für Protektionismus, Überheblichkeit und Abschottung wird eifrig gedüngt durch die rechtspopulistischen Parteien. Finden diese zum Teil recht abenteuerlichen Botschaften Gehör, weil unsere austarierten politischen Systeme nicht mehr alle Verheissungen erfüllen können?
Wurzeln der Verunsicherung und der Empörung
Der historische Rückblick in Europa ist eher beunruhigend. Im letzten Jahrhundert hatten sich die politischen Eliten durch den Ersten Weltkrieg und die Wirtschaftskrise diskreditiert. Danach hatten sich Faschisten und Nazis etabliert.
Die Verunsicherung der Massen führt auch in den USA zu einem modernen Drama: Leute wie Donald Trump profitieren davon. Seine auf Ressentiments und Lügen beruhenden Ideen sind der amerikanischen Wertegemeinschaft zutiefst unwürdig. Da wir es gewohnt sind, die USA als Musterbeispiel zu verstehen, steht hier das Modell der Demokratie zur Disposition. Da zudem das grosse Geld Hauptbeeinflusser dieser Wahlen ist – 700 Millionen Dollar haben die beiden Präsidentschaftskandidaten 2016 bisher „gesammelt“ – sind diese Auswüchse an sich schon erbärmlich, eine echte Bedrohung der Demokratie.
Die eingebildete Angst
Nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Wachstums, des „automatischen“ Besitzwachstums und der relativen Sicherheit und Sorglosigkeit haben immer mehr Leute den Eindruck, die Welt werde immer gefährlicher. Wüssten sie mehr darüber, wie allgegenwärtig Unsicherheit und Gefahren in früheren Jahrhunderten dominierten, wären sie wohl etwas gelassener.
Angst zu verbreiten ist das erklärte Ziel der Terroristen. Wer die Reaktionen von Landesregierungen nach Anschlägen beobachtet, muss eingestehen, dass die Urheber dieser Gräueltaten eines ihrer Ziele erreicht haben. Vergessen geht dabei, dass Tausende zusätzlicher Ordnungskräfte, neue dringende Sicherheitsdekrete oder gar Ausnahmezustände keine Hindernisse sind, um todesbereite Selbstmörder von ihren Aktionen im Auftrag ihrer Glaubensführer abzuhalten. All diese obrigkeitlichen Reaktionen erreichen jedoch das Ziel nicht, die eigene Bevölkerung zu beruhigen.
Autoritätsverlust in Demokratien
Eine weitere Zeiterscheinung ist der „Ansehensverlust einstmals klassischer Autoritäten: etablierter Politiker, akademischer Experten“ (ZEIT). Viele Bürger empfinden gegenüber dieser „Elitokratie“ Unbehagen, um nicht zu sagen Abneigung. Im Internetzeitalter, da jedermann „Wissen“ aus dem Internet abruft und somit selbst zum vermeintlichen Experten mutiert, eine nachvollziehbare, aber unbrauchbare Logik.
Trotzdem gibt es fundierte Kritik, die nicht übersehen werden sollte. Ist es nicht so, dass diese Eliten uns zu lange vorgegaukelt haben, die Segnungen der Globalisierung kämen allen zugute? Oder dass die häppchenweise Abgabe von Zuständigkeiten an supranationale Instanzen das mulmige Gefühl von Demokratiedefizit, ja Zerfall eigener nationaler Zuständigkeit genährt hat? Nicht wenige empfinden diese Entwicklung gar als Kontrollverlust über ihr eigenes Schicksal.
„Autoritäten“ neoliberaler Prägung in Politik und Wirtschaft haben zudem zu Übertreibungen geführt und grosse Teile der Bevölkerung enttäuscht. Niall Ferguson, der berühmte Historiker, definierte im Sommer 2016 fünf Gründe, die folgerichtig „als Rezept für Populismus“ (ZEIT) geortet werden können: Zu hohe Einwanderung, steigende Ungleichheit, Vertrauensverlust gegenüber „denen da oben“, wirtschaftliche Schocks und fünftens: ein Demagoge muss kommen und die Unzufriedenheit der Massen ausnützen.
Bedrängte Demokratien
Es ist ein Paradox, dass ausgerechnet unsere westlichen Demokratien dank ihrer hoch entwickelten Rechtsstaatlichkeit Mühe bei der Bekämpfung ihrer Feinde bekunden. Hat es damit zu tun, dass die Idee des alle Bürger einenden gemeinsamen Staatswesens zusehends verblasst? Dass der individuelle Egoismus höher gewichtet wird als demokratische Ideale? Dass sich die Bildungsungleichheit (Bsp. Brexit) sehr direkt in demokratischen Volksabstimmungen auswirkt?
Selbstkritisch scheint zudem die Überlegung nicht fehl am Platz, dass in den letzten Jahren der individuellen Freiheit ein Interpretationsspielraum zugewiesen wird, der völlig zu ignorieren scheint, was ursprünglich der Kern der persönlichen Freiheit bedeutete: Diese endet dort, wo der Mitmensch in seiner Freiheit beeinträchtigt wird. Im Strassenverkehr sind es die immer rüderen Verhaltensweisen, gesellschaftlich scheint eine zunehmende Missachtung elementarster Regeln von Höflichkeit und Anstand die neue Mode auszuzeichnen.
Diese hier in aller Kürze aufgeworfenen Feststellungen und Fragen sind natürlich lückenhaft. Das Gleiche gilt für Überlegungen, wie es in den westlichen Demokratien weitergehen soll. Wenn wir schon feststellen, wie die unveräusserlichen Menschenrechte (Uno 1984) da und dort missachtet werden, gilt umso mehr, wofür wir uns aus eigenen Kräften einsetzen können: Wir müssen entschieden jenen national-populistischen Bewegungen die Stirn bieten, die mit ihren „Rezepten“ hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückfallen.
Vielleicht hilft es, den guten alten Karl Popper zur Rat zu ziehen? Schon vor 70 Jahren geschrieben, ist sein Klassiker „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ein kluger Ratgeber. Was Popper damals stipulierte, scheint auch heute bedenkenswert. Indem er das Paradoxon der Toleranz erläuterte, warnte er gleichzeitig, dass auch uneingeschränkte Toleranz zum Verschwinden eben dieser Toleranz führen müsse. Anders gesagt, wir brauchen uns nicht zu verstecken, wenn wir Toleranz nur unter der Voraussetzung beachten, dass bestimmte Formen der Intoleranz nicht toleriert werden.