Was nun, SPD? Und was nun, Martin Schulz? Drei Landtagswahlen, nur kurz hintereinander, krachend verloren. Davon in zweien sogar die Führerschaft, wobei die Abwahl in Nordrhein-Westfalen nicht nur besonders schmerzt, sondern – vor allem – wahrscheinlich die dramatischsten Langzeitwirkungen haben wird. Das Gebilde an Rhein, Ruhr und Weser (nach dem Krieg 1946 auf britische Anordnung aus den bis dahin preussischen Provinzen Rheinland und Westfalen hervorgegangen und 1947 um das Fürstentum Lippe erweitert) ist mit 17,9 Millionen Einwohnern das bevölkerungsstärkste deutsche Bundesland. An der Fläche gemessen, rangiert es hinter Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg auf Nummer vier. 29 der 79 deutschen Grossstädte liegen hier. Zudem zählt die Metropolregion Rhein/Ruhr im Zentrum mit 10 Millionen Einwohnern zu den 30 grössten Ballungsräumen der Erde.
Jeder denkt sofort an „Ruhrpott“
Was diese Aufzählung soll? Ganz einfach, es geht darum, darzulegen, welche Bedeutung das zumeist auf die Buchstaben NRW eingekürzte Gebiet mit seiner Geschichte, Wirtschaft, seinen sozialen Problemen und höchst unterschiedlichen Mentalitäten für das politische Geschehen in der gesamten Bundesrepublik besass und noch immer besitzt. Wenn von Nordrhein-Westfalen die Rede ist, verbindet sich das in vielen Köpfen automatisch mit dem Begriff „Ruhrpott“. Also noch immer mit Kohle, Stahl, Russ und rauchenden Schloten. Und dies, obwohl sich gerade hier bereits seit Ausbruch der Krise in der Montanindustrie in den 60-er Jahren ein gewaltiger – auch mit dramatischen sozialen Verwerfungen verbundener – Strukturumbau vollzieht. Diese, bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende, Industriegeschichte ist es auch, weshalb die Traditionspartei SPD von Nordrhein-Westfalen als ihrer „Herzkammer“ spricht. Tatsächlich haben, von einer 5-jährigen Periode (Jürgen Rüttgers / CDU 2005–2010) abgesehen, seit einem halben Jahrhundert ausschliesslich sozialdemokratische Ministerpräsidenten in der Düsseldorfer Staatskanzlei regiert.
Dabei wird gern vergessen, dass dieses Kunstgebilde NRW aus der Nachkriegszeit keineswegs, sozusagen gottgegeben, SPD-Eigentum ist. 1946 mit Rudolf Amelunxen angefangen über Karl Arnold und Fritz Steinhoff bis Franz Meyers waren die ersten vier Ministerpräsidenten Christdemokraten. Allerdings sämtlich mit einem starken, aus der christlichen Soziallehre kommenden, sozialen Hintergrund. In der heutigen Politsprache würde man sie vermutlich dem „linken Parteiflügel“ der CDU zuordnen. Es ist daher auch kein Zufall, dass in ihrem ersten Parteiprogramm (dem „Ahlener Programm“ vom Februar 1949) die Christdemokraten noch die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien forderten.
Aufholjagd in kürzester Zeit
Das ist Vergangenheit, jetzt ist jetzt. Und das bedeutet: In der Herzkammer der Sozialdemokraten hat am 14. Mai ein gewaltiges Beben stattgefunden. Seit genau 18 Uhr am Sonntagabend überschlagen sich denn auch die Kommentatoren auf der Suche nach Begriffen zum Beschreiben des gerade Erlebten: Erdrutsch, Debakel, Katastrophe, Entzauberung, krachendes Ende des Schulz-Effekts. Und zur Gewinnerseite hin: Sieg der „grauen Maus“, Wiederauferstehung der Liberalen … Dabei ist der Ausgang dieser dritten (und letzten) Landtagswahl im laufenden Jahr für aufmerksame Beobachter so völlig überraschend gar nicht gekommen. Verblüffend, man kann auch sagen: sensationell, war indessen die rasante Aufholjagd des christdemokratischen Herausforderers Armin Laschet kurz vor dem Wahltermin. Noch vor etwa sechs Wochen lag der bisherige Oppositionsführer mit weitem Abstand hinter der populären (und persönlich auch sehr beliebten) Regierungschefin Hannelore Kraft. Und nicht nur das – erinnert sich noch jemand, dass am Jahresbeginn aus dem Europäischen Parlament ein gewisser Martin Schulz in Berlin aufgetaucht und (wie ein leibhaftiger Heilsbringer empfangen) mit 100 Prozent zum neuen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten gewählt worden war?
Tatsächlich hatte der einstige EU-Parlamentspräsident den nun schon über Jahre bei Regionalwahlen zumeist gebeutelten und mit ihren Leistungen in der Grossen Koalition fraglos unterbewerteten Genossen wieder Hoffnung und den Glauben an sich selbst und ihre Kraft wieder gegeben. Wie ein Sturm fegte allein schon der Name des Neuen durch das Land. Tausende neue Mitglieder traten in die SPD ein. Und, wiederum keine Frage, bei der im Zuge der Flüchtlingskrise ohnehin schon stark verunsicherten CDU machte sich (zumindest in Teilen) Zittern und Zagen breit. Immer lauter, und keineswegs nur hinter vorgehaltener Hand, wurde bereits die Frage erörtert, ob es denn überhaupt noch Sinn habe, mit Angela Merkel in die bevorstehenden Wahlkämpfe um drei Länder und anschliessend im Herbst auch noch um den Bund zu ziehen.
Und nun auf einmal ganz anders
Tatsächlich klang es in jenen Tagen in den Ohren der Parteistrategen des Berliner Konrad-Adenauer-Hauses keineswegs etwa anmassend, wenn Martin Schulz landauf, landab verkündete: „Ich werde zunächst die Landtagswahlen gewinnen und anschliessend Bundeskanzler“. Wohlgemerkt – die Betonung lag auf „ich“. Und nun? Um es in der Sprache des Fussballfans aus der Nähe von Aachen zu sagen: Nach der ersten Halbzeit steht es 0:3. Mit Annegret Kramp-Karrenbauer (Saarland), Daniel Günther (Schleswig-Holstein) und nun auch Armin Laschet in NRW haben drei Angreifer der gegnerischen Mannschaft innerhalb kürzester Zeit ins Schulz-Tor getroffen. Jetzt geht es natürlich um alles. Am 24. September steht die Wahl zum nächsten Bundestag an. Selbsverständlich haben die jüngsten Erfolge in den Ländern der Kanzlerin Merkel und der Union den Rücken gestärkt und neues Selbstbewusstsein geweckt. Umso mehr gilt es, die Aufmerksamkeit auf die SPD zu lenken.
Als Martin Schulz antrat, Merkel und der CDU/CSU das Fürchten zu lehren, kündeten die Gazetten und Sender vom „Schulz-Effekt“ und vom „Schulz-Zug“. Inzwischen scheint der „Effekt“ weitgehend verblasen und beim „Zug“ hat die Lok erkennbar an Kraft (durchaus im Sinne des Wortes) verloren. Jetzt kommt auch noch erschwerend hinzu, dass der Mann an der Spitze und sein „Team Attacke“ sich nicht einmal mehr nur um die inhaltliche und – vielleicht sogar auch personelle – Neuaufstellung für die kommenden vier Monate kümmern können. Schulz und die SPD insgesamt stehen im Moment vor einem veritablen Scherbenhaufen. In Nordrhein-Westfalen hat Hannelore Kraft sofort den Bettel hingeschmissen und ist als SPD-Landeschefin und stellvertretende Bundesvorsitzende zurückgetreten. Nun ist der NRW-Landesverband traditionell der wichtigste innerhalb der Sozialdemokratie. Aber wer folgt Kraft? Und wer ordnet das gegenwärtige Chaos wieder? Nicht minder spannend wird es sein, zu beobachten, welche Konsequenzen im Berliner Erich-Ollenhauer-Haus aus den Debakeln der vergangenen Wochen gezogen werden. Das grösste Manko der bisherigen Schulz‘schen Kampagne war ihre Inhaltlosigkeit. Die Forderung nach „mehr Gerechtigkeit“ mochte zwar sympathisch klingen. Doch die Bürger wollten (und wollen) hören, welche wirtschaftlichen, investitionspolitschen, steuerrechtlichen usw. Ideen zur finanziellen Unterfütterung sozialer Wohltaten vorhanden sind. Jetzt muss schnell geliefert werden.
Renaissance der Liberalen?
Aber da war doch noch etwas. Ja sicher doch, die schier wundersame Auferstehung der von nicht Wenigen schon längst totgesagten Freien Demokraten. Im Saarland noch unter die für einen Parlaments-Einzug notwendige 3-Prozent-Hürde gedrückt, feierte die FDP sowohl in Schleswig-Holstein vor rund einer Woche als auch jetzt in Nordrhein-Westfalen geradezu glanzvolle Renaissancen. Besonders in NRW zeigte sich dabei, wie nahe Freude und Leid mitunter zusammen liegen. Rutschte die SPD in ihrem Stammland auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis überhaupt, errangen umgekehrt die Liberalen ihren bislang grössten Erfolg. Das war, ohne Frage, das Werk vor allem von zwei Personen: Wolfgang Kubicki im Norden und Christian Lindner im Westen. Wobei vor allem der erst 39-jährige Lindner den mit Abstand grössten Anteil hat. Was er, nicht nur während der jetzigen Wahlkämpfe, abzog, war im Grunde eine Ein-Mann-Schau. Das faszinierte viele Wähler ganz offensichtlich. Selbst seine Ankündigung, vier Monate nach der Wiederwahl in den Düsseldorfer Landtag in den Bundestag wechseln zu wollen, wurde ihm nicht übel genommen.
Und so wie die Sterne stehen, dürfte – vier Jahre nach ihrem Ausscheiden – den Liberalen der Wiedereinzug ins nationale Parlament auch gelingen. Dank der charismatischen Figur des gebürtigen Wuppertalers. Und nicht nur das. In Kiel und Düsseldorf inzwischen sowieso und demnächst in Berlin möglicherweise auch – die FDP ist als Koalitionspartner für die CDU wieder einmal heiss umworben. In Nordrhein-Westfalen wird sie vermutlich, nach einigem Zieren, auch die Hand reichen für eine ganz knappe Regierungsmehrheit – nämlich eine Stimme. Die Partei seines persönlichen Freundes Lindner ist für Armin Laschet natürlich Partnerwunsch Nummer eins. Eine Grosse Koalition auch in Düsseldorf will weder er, noch wird es die Nachfolgerschaft von Hannelore Kraft anstreben. Ein (rechnerisch mögliches) Dreierbündnis mit CDU und Grünen wiederum hat Christian Lindner von vornherein kategorisch ausgeschlossen. Ein Grund: „Als wir vor vier Jahren aus dem Bundestag gewählt wurden, haben die Grünen frenetisch gejubelt. Diese Bilder habe ich nie vergessen …“. Da ist er ganz einfach nachtragend.