Wieder einmal lagen die Demoskopen mit ihren Wahlvorhersagen falsch. Beim Entscheid um die Zusammensetzung des nächsten Parlaments in Deutschlands grösstem Bundesland (Nordrhein-Westfalen) gab es keineswegs das prognostizierte Kopf-an-Kopf-Rennen von CDU und SPD, sondern erneut einen politischen Donnerschlag.
Die CDU mit ihrem Ministerpräsidenten Hendrik Wüst gewann haushoch, die Sozialdemokraten wurden mit dem schlechtesten (Landes-) Ergebnis in der NRW-Geschichte abgestraft. Die Liberalen schafften gerade mal soeben den Wiedereinzug in den Landtag, verloren jedoch ihren bisherigen Status als (Mit-)Regierungspartei. Der wirkliche Sieger, indes, waren die Grünen.
Was die nordrhein-westfälischen Wähler den bundesdeutschen Parteien am Sonntag bescherten, hat ein Beben ausgelöst, das bis in die politischen Zentralen in Berlin reichte und dort nun auch nachwirkt. Sicher, Landtags- und Kommunalwahlen sollten in erster Linie von Regionalfragen bestimmt sein. Dennoch: Es hat sich bereits seit langem eingespielt, den Urnengang der Menschen zwischen Rhein, Ruhr und Weser zu einer «kleinen Bundestagswahl» zu stilisieren. Wer dort die Geschicke der rund 18 Millionen Menschen lenkt, wer den schwierigen Strukturwandel von Kohle und Stahl im «Pott» hin zu modernen Zukunftsjobs genauso meistern muss wie die Agrarprobleme im Münster- und im Weserbergland – wer von den Bürgern mit solchem Gepäck beladen wird, der spricht auch als «Provinzler» ein gewichtiges Wort in der Bundespolitik mit.
Watschen für zwei Berlin-Koalitionäre
Insofern waren die Kommentarfragen nach Auswirkungen von «Düsseldorf» auf «Berlin» natürlich naheliegend. Zumal in NRW mit SPD und FDP zwei Parteien regelrecht abgewatscht wurden, die an der Spree zwei der drei Säulen der dortigen «Ampel»-Koalition bilden. Hinzu kommt, dass in der Schlussphase des Wahlkampfs Bundeskanzler Olaf Scholz dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Thomas Kutschaty kräftig zur Seite stand und überall grossflächig plakatiert wurde. Damit stellt sich, logisch, die Frage nach der Mitverantwortung der Bundespolitik und des Regierungschefs persönlich an dem SPD-Desaster.
Kaum etwas anderes zeigt der Blick auf die FDP. Deren Bundesvorsitzender, Finanzminister Christian Lindner, hatte in seinem Heimatland die Liberalen vor fünf Jahren über stolze 12 Prozent geführt. Jetzt konnten sie gerade noch die 5-Prozent-Hürde überwinden. War der Grund dafür allein die heftig kritisierte Bildungs- und Schulpolitik der zuständigen (liberalen) Ministerin Yvonne Gebauer vor allem während der Corona-Zeit? Oder hatten die Wähler damit ihre Sorgen darüber ausgedrückt, dass der als Schulden- und Ausgabenbremser angetretene Lindner zur Abfederung der Corona-Krise und Ukraine-Kriegsfolgen nun ein Milliardenpaket nach dem anderen locker machen muss? Und zwar ohne die Frage nach der Rückzahlung überzeugend zu beantworten. Auf jeden Fall sind die Freidemokraten in Düsseldorf mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ihre Regierungsämter los. Und ob bei den Berliner Ampel-Betreibern Ruhe bewahrt wird, dürfte sich schon in Kürze erweisen.
Wie «grün» wird die Republik?
Die eigentlich spannende Frage jedoch lautet: Wie «grün» wird die Republik? Ist der Erfolg der einstigen Sonnenblumen-Freunde in NRW (mit 18,1 Prozent immerhin praktisch eine Verdreifachung des vorherigen Ergebnisses) schon bemerkenswert genug, so muss ihr ebenfalls hervorragendes Abschneiden eine Woche zuvor in Schleswig-Holstein sowie eine nun wirklich seit geraumer Zeit anhaltende Aufwärtsbewegung nahezu überall im Lande mit eingerechnet werden. Fast hat es den Anschein, als könne die Partei tun was sie wolle – es wird auf jeden Fall ihrem Konto gutgeschrieben. Doch es wäre zu billig, den grünen Aufstieg nur mit dem «Zeitgeist» und «Denkmoden» der gutverdienenden jungen Mittelschicht erklären zu wollen. In Wirklichkeit wird die Partei dafür belohnt, dass sie die richtigen Themen der Zeit (Klima und Umwelt) besetzt hat und unbeirrt an deren Umsetzung festhielt. Aber auch das wäre in seiner Aussenwirkung allenfalls nur die Hälfte wert, stünden da nicht die richtigen Leute parat – Robert Habeck, Annalena Baerbock und nun (vielleicht) auch Mona Neubaur in Nordrhein-Westfalen.
Befindet sich, wie nicht wenige glauben, die Republik im Umbruch? Eine eindeutige Antwort darauf fällt schwer. Ganz sicher haben jene nicht recht, die (keineswegs erst jetzt) das Ende der Volksparteien in Deutschland beschwören. Hat nicht die CDU kürzlich in Schleswig-Holstein und gerade jetzt in NRW ein Wiedererstarken an den Tag gelegt? Vermutlich sind in der Tat die Zeiten vorbei, in denen Christ- und Sozialdemokraten in ihren Hochburgen mitunter sogar über 50-Prozent-Erfolge einfahren konnten. Aber hat nicht die SPD jüngst an der Saar die absolute Mehrheit erringen können? Und in Schleswig-Holstein hätte es ihr die CDU (es fehlte nur eine einzige Stimme) um ein Haar nachgemacht.
Ein neuer Politikstil
Es mag sein, dass in Deutschland auf der politischen Linken und Halblinken ein Wechsel stattfindet. Dass also in der Tat die sozialdemokratische Kraft und Bedeutung ab- und das Gewicht der Grünen zunimmt. Die SPD war die Partei der klassischen Malocher (wie sich die Kumpel und Stahlwerker in NRW nannten). Doch die alten Industrien verschwinden und müssen neuen, modernen Strukturen weichen. Und genau darein stossen die Grünen – vor allem seit sie zunehmend Abschied nehmen von ideologisch-utopischen Vorstellungen. Es ist kein Zufall, dass Habeck und Baerbock die bundesweiten Beliebtheitsskalen deutlich anführen. Sie verkörpern einen bis dahin kaum gekannten Politikstil – den des Erklärens. Das Bemühen, den Menschen politische Zusammenhänge und den Hintergrund schwieriger Entscheidungen zu verdeutlichen, ist vor allem beim grünen Bundeswirtschaftsminister zu verspüren. Er wirkt nicht nur glaubhaft, sondern die Menschen nehmen es ihm auch ab. Auch davon hat, ohne Frage, die Partei am Sonntag profitiert.
Und nun? Bringt der interessante Ausgang der Nordrhein-Westfalen-Wahl die Berliner «Ampel» aus Roten, Grünen und Gelben zum Wanken? Vielleicht zum Zittern, aber nicht zum Stürzen. Warum auch? Die Mehrheit im Bundestag ist komfortabel genug und würde auch den einen oder anderen Abweichler ertragen. Hinzu kommt, dass die krisenhaften Zeiten es eigentlich jeder verantwortlichen Kraft verbieten sollten, leichtfertige taktische Spielchen zu treiben. Selbstverständlich muss die FDP bemüht sein, ihre Notwendigkeit in der bunten Regierung unter Beweis zu stellen. Aber sie wird ihre Grenzen kennen. Dasselbe gilt natürlich auch für die Berliner Kanzlerpartei SPD, die erkennbar unter dem Problem ächzt, welchen Kriegskurs sie gegen Putin führen soll.
Frische Luft nach der Merkel-Ära?
Und dann auch noch die CDU. Immer wieder (nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Auftritte) zu einem auslaufenden Modell abgestempelt, hat sie sich wieder zurückgemeldet. Dabei trug, ganz sicher, auch das Abtreten der Überfigur Angela Merkels bei. Fast scheint es so, als verspüre die alte Dame CDU wieder frische Luft zum Atmen. Wie immer in solchen Fällen sind nach Schleswig-Holstein und Düsseldorf ganz flinke Federn schon wieder dabei, künftige Kanzler-Aspiranten auszumachen und auch auszurufen. Zweifellos kann die Partei darauf verweisen, mit den Wahlsiegern von Kiel (Daniel Günther) und Düsseldorf (Hendrik Wüst) junge und solide Politiker mit der Gabe zu besitzen, alte Denkmuster und Parteistrukturen zu überwinden. Mit ihnen werden mit Sicherheit die traditionellen Blöcke und das damit verbundene Blockdenken (rot/rot, rot/grün oder schwarz/gelb) in die politischen Museen verbannt.
«Gräben überwinden», hatte der Grüne Robert Habeck das nach der Wahl in seinem norddeutschen Heimatland genannt. Und manche Äusserung von Hendrik Wüst bereits am Wahlabend liess ahnen, dass er in Düsseldorf auf derselben Welle sendet. Womit sich eigentlich die letzte Frage von selbst beantwortet: Welche Farben wird die nächste Regierung dort in den künftigen fünf Jahren vor sich hertragen? Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit die der richtigen Wahlgewinner. Also schwarz und grün.