Damit meinte er Brasilien, Russland, Indien und China – alle Vier grosse Volkswirtschaften, keine klassischen Entwicklungsländer mehr und noch keine typischen Industriestaaten. Das Akronym begann einen Siegeszug über die ganze Welt. BRICs wurde auch einer der seltenen Fälle, in dem eine Abkürzung eine Institution schuf, statt dem üblichen Gegenteil. Ein weiterer Zufall wollte es, dass aus dem kleinen Plural-‚s‘ von O’Neills BRICs ein grosses ‚S‘ wurde, als 2010 Südafrika zu den vier stiess.
Statt vier disparaten Staaten unter einem Sammelbegriff stand plötzlich ein internationales Gebilde da, bereit, die traditionellen Wirtschaftsmächte das Fürchten zu lehren und die politische Dominanz von USA und EU aufzubrechen. Diese Woche führten die fünf BRICS in Delhi bereits ihr viertes Gipfeltreffen durch. Wie es sich für einen dieser vielen Global-Vereine – G-8, G-12, G-20 – gehört, plusterten auch die Fünf ihr Abschluss-Communiqué zur ‚Delhi Declaration‘ auf. Und auch sie beschworen mit UN-artigen Worthülsen die Krisenherde der Welt – Verschuldung, Protektionismus, Agrarhandel, Syrien, Iran, Israel.
Gemeinsame Entwicklungsbank
Doch wer glaubt, dass die Fünf die Wortschöpfung von Goldman Sachs nur als ‚Branding Exercise‘ nutzen, unterschätzt die Dynamik solcher Prozesse. Die Präsidenten Hu, Roussef, Zuma, Medwedew und Gastgeber Manmohan Singh beschlossen auch die Schaffung einer gemeinsamen Entwicklungsbank. Sie soll eigene Gross-Projekte finanzieren, aber auch als hilfsbereiter Kreditschalter für bedürftige Entwicklungsländer bereitstehen und, warum nicht, verschuldeten Industriestaaten unter die Arme greifen. Der BRICS-interne Handelsverkehr soll sich in den nächsten drei Jahren auf 500 Mia $ verdoppeln. Und damit dieses ungeliebte Dollarzeichen endlich verschwindet, kann der Zahlungsverkehr künftig in einer der fünf Währungen abgewickelt werden. Ein gemeinsamer Devisenmarkt soll die Voraussetzungen dafür schaffen.
Weltbank-Präsident Robert Zoellick, auf Abschiedsbesuch in Indien, liess sich mit dem abschätzigen Kommentar vernehmen, es sei nicht leicht, eine Entwicklungsbank aufzubauen, und ohnehin gäbe es deren schon (zu) viele. War da eine gewisse Nervosität herauszuspüren? Sie wäre berechtigt. Denn in Wahrheit geht es den BRICS-Staaten um tiefgreifende Änderungen bei Weltbank und IWF. Das disproportionale Stimmgewicht von USA und EU stösst ihnen schon lange auf. Und sie hadern mit dem Schicksal, dass ihre Abhängigkeit von Dollar und Euro sie quasi in Sippenhaft nimmt, weil sie die Geldpolitik dieser Wirtschaftsräume nicht mitbestimmen können. Der Aufbau eines eigenen Geldmarkts mit Lokalwährungen ist ein erster Schritt, sich aus dieser Schlinge zu ziehen.
Geht dem Westen machtpolitisch der Schnauf aus?
Die BRICS-Führer können ihre grossen Worte auch mit blanker Wirtschaftsmacht untermauern. Sie vertreten 42 Prozent der Weltbevölkerung; über zwanzig Prozent des Welthandels wird über die Fünf abgewickelt. Und was in ihren Augen besonders zählt: Sie zeichnen verantwortlich für nahezu zwei Drittel des globalen Wachstums der letzten fünf Jahre. Es ist für sie ein Beweis, dass sie die globale Finanzkrise besser gemeistert haben als die Industriestaaten. Kann man ihnen verdenken, dass sie mehr multilaterale Führungsverantwortung übernehmen wollen? Und zeigen die ungelösten globalen Baustellen nicht deutlich genug, dass dem Westen auch machtpolitisch der Schnauf ausgeht?
Die BRICS-Wortschöpfung erinnert Englisch-Kundige an ‚Bricks‘, und die indischen Journalisten genossen es in den vergangenen Tagen, daraus lustige Wortspiele zu drehen. Das naheliegende war natürlich, die Fünfer-Koalition als ‚Baustein‘ für eine neue Weltordnung zu verklären. Doch kaum jemand gab der Metapher diesen Dreh. ‚No mortar to hold BRICS together‘ titelte dagegen die ‚Times of India‘: Es gibt zwar die Ziegel, doch wo ist der Mörtel, um daraus ein solides Gebäude zu errichten? Und wo ist das gemeinsame Fundament? Die fünf Staaten sind mit China, Indien und Russland asienlastig, Brasilien und Südafrika sind weit weg vom Schuss. Und wenn schon die ‚Haus‘-Metapher bemüht wird: Ist BRICS nicht ein chinesisches Herrenhaus, mit mehreren kleinen Dienstgebäuden daneben? Das kleinste von ihnen, Südafrika, erbringt eine fünfzehnmal kleinere Wirtschaftsleistung als der Grosse Bruder.
Nur Brasilien und Indien sind echte BRICS-Demokratien
Auch bei der vielgerühmten Dynamik der BRICS-Staaten sollte man differenzieren. Sie gilt zweifellos für China, Indien, Brasilien. Aber besitzt etwa Russland die Institutionen, die Bevölkerungsgrösse, die Altersverteilung, um als junger Tiger daherzukommen? Oder sind es einfach die mineralischen Ressourcen, die – wie bei Südafrika – den Wachstumsschub produzieren und am Leben erhalten? Die politischen Synergien sind zudem schwach. Nur Brasilien und Indien können als richtige Demokratien bezeichnet werden; die beiden weitaus grössten Mitglieder werden despotisch beherrscht. Man musste während des Delhi-Gipfels nur nach Majnu Ka Tila schauen, um drastisch daran erinnert zu werden. Das Tibeter-Quartier in Nord-Delhi wurde praktisch verriegelt, um zu verhindern, dass Demonstranten dem chinesischen Präsidenten unter die Augen kommen und ihm die gute Laune verderben. Im Jantar Mantar-Park, Delhis Hyde Park Corner, liess ein 27-jähriger tibetischer Küchengehilfe seinen Protest in Flammen aufgehen; er starb kurz darauf an den Folgen.
Das Grundsatzpapier Beijings trug den Titel ‚Powering the World‘, eine verräterische Wortschöpfung. Indien hätte stattdessen wohl ‚Empowering‘ gewählt – auch dies grossspurig, aber ohne die fatale Assoziation zu ‚Overpowering‘, die bei der chinesischen Wortwahl mitschwingt. China war offenbar nicht bereit, sich für den bevorstehenden Umweltgipfel ‚Rio +20‘ auf eine gemeinsame BRICS-Sprachregelung festzulegen. Es blieb schliesslich dem indisch-brasilianischen Gipfel vorbehalten, bilateral eine gemeinsame Position festzulegen. Nur bei Iran gab es Minimalkonsens, neben dem automatischen zu Israel: Alle Fünf lehnen die von den USA und der EU angestrengten Sanktionen ab und ziehen sich auf jene der UNO zurück.
Schachzug Chinas
Wie weit die Positionen auseinandergehen, zeigt sich besonders deutlich bei den strategischen Gegnern China und Indien. Die Inder argwöhnen, dass BRICS für den nördlichen Nachbarn nur eine Leitersprosse beim Aufstieg zur Weltmacht darstellt; Bejing wird sie fallen lassen, sobald es oben angelangt ist. Als Gastgeber konnte Delhi natürlich nicht in diesem Wespennest stochern, und die ‚Delhi Declaration‘ liest sich wie ein einschläferndes Mantra. Doch die indischen Diplomaten sind Meister im vielsagenden Nichtssagen. Den Klartext zu den Worthülsen lieferten dann die lokalen Medien nach: Dass etwa die Gründung einer Entwicklungsbank eine Schachzug Chinas sei, um dem Yuan zum Durchbruch als Weltwährung zu verhelfen. Nur China verfüge über die Finanzkraft, eine internationale Entwicklungsbank mit den nötigen Reserven zu unterfüttern. Die Aufforderung an die Finanzminister, die Gründung voranzutreiben, sei nichts als ein Rückwärts-Pass auf die Komitee-Stufe.
Doch China denkt langfristig, und es ist geduldig. Wie sagte doch Mao seinem Gesprächspartner Henry Kissinger, als dieser den Grossen Steuermann zu den welthistorischen Folgen der Französischen Revolution befragte? „Es ist zu früh, um darüber zu befinden“.