Nie wird man es ganz begreifen und begründen können, warum unter den Hochbegabten einer Epoche die einen im Licht sind und im Zentrum der Aufmerksamkeit bleiben, die anderen zu Lebzeiten zwar auch glänzen und von sich reden machen, dann aber für Jahrhunderte in Dunkelheit und Vergessenheit absinken können.
Denn ein Hochbegabter war dieser Agostino Steffani in jedem Fall. Er erhielt in Italien – vor allem in Padua, Venedig und Rom – seine musikalische Ausbildung, lernte in Paris und Turin aber auch die Musik Frankreichs kennen. Danach verbrachte Steffani jedoch beinah den ganzen Rest seines Wirkens als Komponist und als Diplomat an deutschen Höfen, zuerst als Kammermusikdirektor in München, später wurde er Hofkapellmeister in Hannover und in Düsseldorf. In den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts war seine Produktivität und Originalität bemerkenswert als Komponist von Kantaten, Kammerduetten, kirchlichen Werken, aber auch einer stattlichen Anzahl – an die zwanzig – von Opern.
Seine dramatischen Werke wurden später – oft auch in deutschen Fassungen – nicht nur an den Höfen, sondern auch in Hamburg im Theater am Gänsemarkt aufgeführt. Um die Jahrhundertwende gehörte er – neben Figuren wie dem Sizilianer und später in Neapel wirkenden Alessandro Scarlatti – zu den «tonangebenden» Musikern seiner Zeit. Aber auch in den späten Jahren, als seine Tätigkeiten sich vor allem um Kirchenpolitik und Diplomatie drehten, blieb er kompositorisch tätig. Aus seinem Todesjahr stammt ein «Stabat mater», das man heute in einer hervorragenden Produktion von Diego Fasolis mit weltbesten Solisten und den Barocchisti von Lugano hören kann. Steffani widmete dieses Werk, das er für sein gelungenstes hielt, der Londoner Academy of Vocal Music. Er war ein Musiker von wahrhaft europäischem Format!
Ein katholischer Agent im protestantischen Norden?
Biographisch schweben um diesen Mann viele ungelöste Fragen. War er ein Kastrat? War er ein päpstlicher Spion in katholischer Mission im erzprotestantischen Norden? Der Mann hat im Lauf seiner Karriere als Musiker, Kleriker, Diplomat, Titularbischof, kurpfälzischer Regierungspräsident und zeitweiliger Rektor der Universität Heidelberg (dies in den Jahren 1703 und 1704) manche heikle Vermittlungsmission übernommen zwischen den fürstlichen und kurfürstlichen Höfen sowie zwischen den Interessen des Kaisers und des Papstes.
Selbst die Umstände seines Todes sind rätselhaft. Steffani soll in Frankfurt am Main an einem Schlaganfall gestorben sein, während er damit beschäftigt war, italienische Kunstwerke zu verkaufen, um seine schwindenden Geldvorräte aufzubessern. Hier harrt noch manches der genaueren historischen Aufbereitung und Forschung. Der Vatikan hat es auch im Fall von Steffani verstanden, die Geheimarchive so zu kontrollieren, dass über Jahrhunderte nur Gewolltes und Gewünschtes ans Licht der Welt kam.
Seit 2018 liegt immerhin die Habilitationsschrift des Salzburger Musikwissenschaftlers Gerhard Croll aus dem Jahr 1961 in Buchform vor, sodass am Leben und am Werk dieses Kirchenmannes Interessierte sich einigermassen kundig machen können. Doch wollen wir uns hier an den Künstler und Musiker Steffani halten. Als solcher ist er längst rehabilitiert und bildet eine interessante Brücke zwischen dem italienischen und dem französischen Frühbarock des 17. Jahrhunderts und dem raffinierten musikalischen Hochglanzbarock des 18. Jahrhunderts.
Steffanis Oper «Niobe»
Zu den grossartigen Werken Steffanis gehört mit Sicherheit seine Oper «Niobe, Regina di Tebe», uraufgeführt am 5. Januar 1688 im bis 1802 bestehenden Münchner Opernhaus am Salvatorplatz. Man kann die drei CDs heute in einer beispielhaften Aufnahme aus dem Jahr 2013 mit dem Ensemble «Boston Early Music Festival» hören, als Studioproduktion realisiert von Radio Bremen und Warner Classics.
«Niobe» ist die Figur aus der griechischen Mythologie, die sich als Mutter von sieben Töchtern und sieben Söhnen rühmt, eines göttlichen Standes mindestens so würdig zu sein wie die Titanin Leto, die Mutter von Apollon und Artemis, die nur zwei Kinder gebar. Diesen Hochmut nehmen Göttinnen von irdischen Wesen aber nicht hin. Apollon und Artemis töten alle «Niobiden», wie die Kinder der Niobe genannt werden. Aus Verzweiflung darüber nimmt Niobes Ehemann Amphion, der König von Theben, sich mit seinem Schwert das Leben. Niobe, die vergeblich ums Überleben ihrer jüngsten Tochter fleht, erstarrt vor Schmerz und wird zu einem Steinfelsen. Der Wind versetzt die versteinerte Gestalt der Niobe danach zum Berg Sipylos in Phrygien. Bis zum heutigen Tag fliessen aus und von diesem Stein die Tränen der unglücklichen Niobe.
Diese Geschichte vom Hochmut der Menschen und vom Glücksneid der Götter taucht in Fragmenten der griechischen Tragiker auf, so wie sie ebenso im 6. Buch der «Metamorphosen» von Ovid erscheint. Humanismus und Barockzeit haben das Motiv der Niobe für das Theater und für die Oper neu entdeckt. Zu den bedeutendsten Vertonungen dieses Mythos gehört jene von Agostino Steffani.
Regeln der Barockoper
In einer Oper an einem Hof von musikalischer Bedeutung erwartete man nicht nur die Begegnung mit namhaften Stars, auch das Orchester musste mit einer Instrumentenvielfalt zur Darstellung und Nachempfindung aller Gefühlslagen und Gemütsfarben ausgestattet sein. Dazu kamen am Schluss der jeweiligen Akte getanzte Szenen mit Musik nach der Weise, welche die neueste Mode verlangte. Häufig komponierte man nicht alles neu, sondern benützte beispielsweise erprobt gefällige Tänze, die der Dirigent oder Konzertmeister aus ganz anderen Werken «auf Lager» hatte.
So war es wohl auch bei diesem umfangreichen Werk von Steffani. Bei der Aufführung musste man je nach den von den Herrschaften gewünschten Zeitvorgaben kürzen, oder man griff auf sogenannte «Kofferarien» zurück, welche die Stars für garantierte Glanznummern mit sich führten, erfolgsverwöhnt einschleusten und zum Besten gaben. Liebeskummer und Todesängste, Neid und Hass kommen schliesslich beinah bei jedem Opernstoff vor! Da fiel es nicht so auf, wenn ein Rezitativ oder eine Arie anderswo «entlehnt» oder gar «gestohlen» war.
Die hier ausgewählte Arie des Königs Anfione (die italienische Schreibweise des Thebanerkönigs Amphion) ist in ihrer Machart so einzigartig, dass man diese kaum in einer Aufführung durch ein anderes Musikstück ersetzen konnte und wollte. Es ist die Arie «Sfere amiche» aus der 13. Szene des 1. Aktes. Damals wurde die Partie wohl von einem Kastraten gesungen, hier in unserer Auswahl in unvergleichlich perfekter Manier von einer der grössten Countertenor-Stimmen unserer Zeit: Philippe Jaroussky.
Anfione will die Ausübung seiner Herrschaft in jüngere Hände legen und sich nunmehr der philosophischen Meditation und der denkerischen Musse widmen. Vom Politikgeschäft rettet er sich in das, was das Libretto von Luigi Orlando die «Wohnung der Harmonie» nennt. Hier will der König ausruhen und seine «ermattete Seele» laben. Alle Sorgen sollen von ihm fernbleiben. Ein ruhiges Herz, von Gesang umgeben, so glaubt er jedenfalls, sollen ihm jene Lust und jenen Seelenfrieden verschaffen, die alle Einbildung von eigener Macht und Herrlichkeit nicht zu bieten vermögen.
Tranceartige Sphärenklänge
Anfione ruft die ihm freundlich gesinnten Himmelssphären auf, die durch ihre Drehungen im All seinem Dasein diese ersehnte innere Harmonie verleihen mögen. Während er sich hier von seiner Müdigkeit und Erschöpfung erhole, sollen diese wundersamen Rotationen der Himmelskörper seine Umgebung, sogar «Steine und Hölzer», vor allem aber sein friedliches Atmen in eine daseinsfreudige harmonische Bewegung versetzen. Es ist eine «psychedelische» Erfahrung am eigenen Leib, die Anfione hier herbeibeschwört, auf die er aus ist und die er auch erlebt.
Musikalisch ist diese Szene von ausgesuchtem Raffinement. Wir hören eine schleierhafte Musik, im Hintergrund sich drehend und kreisend. Diese Musik hat etwas von einer Droge, sie dreht und windet sich durch unterschiedliche Tonarten und Nebelsphären, als wolle der Komponist die Zuhörenden aus dem Theater hinaus ins Weltall hinein verlocken. Die entscheidenden Worte des singenden Königs lauten: «l’armonia de vostri giri». Es geht um eine hörbar gemachte ewig kreisende Bewegung, die jeder Mensch, der den Sinn des Lebens sucht, an der Bewegung der Gestirne als Wohltat und Wohlklang wahrnehmen kann – als eine echte Alternative zu allem Liebestoben und allem Machtgezeter der Welt.
Allein für diese Arie hätte es der undurchsichtige und mit allen diplomatischen Listen der Welt ausgestattete Botschafter des Schönen im Priesterkleid verdient, einen Sonnenplatz unter jenen Musikern zu erhalten, die mit Tönen die Menschen bewegen und ändern wollen.
https://www.youtube.com/watch?v=_pbb5S19V1g
Am 27. Juni lädt Journal21.ch ein zum Opernabend mit Iso Camartin: