Vor Erscheinen des päpstlichen Schreibens zu Ehe und Familie war die Spannung gross und die Erwartung hoch gewesen. Würde dieser so aufgeschlossen und menschenfreundlich daher kommende Papst endlich die Schwulen anerkennen und wiederverheirateten Geschiedenen den Zugang zur Kommunion gestatten? So lauteten die Fragen, die die Gemüter bewegten. Genauer: die Gemüter von Medienleuten. Sie waren es, die auf der Suche nach griffigen Formulierungen den über zwei Jahre dauernden Prozess auf diese zwei Themen reduziert hatten und nun auch den mehr als 300 Seiten umfassenden Abschlussbericht ausschliesslich daraufhin untersuchten.
Entsprechend gross war dann in der Öffentlichkeit die Enttäuschung. Verständlich, klar, aber auch schade. Denn das Schreiben mit dem schönen Titel „Amoris laetitia“ hält durchaus Neues und Überraschendes bereit. So zum Beispiel die bei seinen Vorgängern undenkbare Aussage, dass „nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden“ müssten. Das lehren gute Moraltheologen zwar schon seit langem. Wenn aber ein Papst bereit ist, unter bestimmten Umständen die Seelsorge über das Lehramt zu stellen, kommt dies einer wenn auch unscheinbaren, so doch nicht unerheblichen Revolution gleich. Dass diesem Papst pastorale Gesten wichtiger sind als in Stein gemeisselte Dogmen, zeigt sich immer wieder: so zuletzt am vergangenen Samstag, als Franziskus die Insel Lesbos besuchte und mit drei muslimischen Flüchtlingsfamilien an Bord wieder abreiste.