Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat im September 2018 den Leitzins um 25 Punkte auf 1,75–2,0% gesenkt. Die Europäische Zentralbank (EZB) beliess ihren Leitzins auf dem Rekordtief von 0 Prozent, erhöhte dagegen die Strafzinsen für Banken von 0,4 auf 0,5 Prozent und flutet erneut die Märkte mit Milliarden von Euro zum Aufkauf von Vermögenswerten (QE2). Die Schweizerische Nationalbank (SNB) dagegen verhielt sich ruhig, sie beliess den Negativzinssatz auf Sichteinlagen bei 0,75 Prozent.
Grund zum Aufatmen
Mario Draghi, der Italiener an der Spitze der EZB hat es fertiggebracht, innert acht Jahren Europa eine Geldpolitik der Unverhältnismässigkeit, ja der Ungerechtigkeit aufzuzwingen. Die Verhältnismässigkeit seines Aktionismus wird schon seit langer Zeit von kompetenten Ökonomen scharf kritisiert. Unter dem Deckmantel, die Inflation im Euro-Raum anzukurbeln, senkte er die Leitzinsen und kaufte Anleihen für viele Milliarden von Euro.
Damit finanzierte er die Haushaltpolitik notorischer Schuldnerländer wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland („Macht ruhig weiter wie bisher, wir stopfen die Löcher!“). Die verheerenden Folgen im übrigen Euroraum und der Schweiz: Für Sparer gibt es keine Zinsen mehr, Schuldner bezahlen (fast) keine Zinsen mehr für das von den Banken geliehene Geld. Die SNB konnte sich diesem Trend nicht entziehen, da eine erneute Aufwertung des Schweizer Frankens unsere Exportindustrie im Nerv treffen könnte. Bereits gibt es Anzeichen dafür, dass Banken in der Schweiz ihren Hypothekarschuldnern einen Zins dafür bezahlen, wenn sie Neuhypotheken bei ihnen aufnehmen.
Das Fiasko ist total. Der Schuldner bekommt vom Geldgeber einen Belohnungszins. Dass unter diesen Umständen die Bautätigkeit explodiert (Renovationen und Neubauten) ist die logische Folge. Grosskonzerne renovieren „auf Teufel komm raus“ ihre Liegenschaften, auch jene, die noch während Jahrzehnten im bisherigen Zustand perfekt gedient hätten. Die Baulobby baut fröhlich weiter (vor allem Mehrfamilienhäuser) – die Leerstände steigen seit Jahren ununterbrochen, sie erreichten 2019 den neuen Rekord von 75’000. Das scheint niemand gross zu stören, denn lieber investieren, als Strafzins zu bezahlen. Ist doch logisch? Natürlich ist das Ganze ein Pulverfass. Der makabre Zustand mit einer Umkehrlogik des „normalen“ Geldverkehrs wird nicht überdauern. Die Quittung werden wir alle zu bezahlen haben.
Was treibt Draghi an?
Seit Jahren läuft die Wirtschaft im Euroraum gut, in den letzten drei Jahren ist sie markant gewachsen. Die EZB-Devise, die Wirtschaft ankurbeln zu wollen, um endlich eine Inflation zu generieren, hätte also korrigiert werden müssen. (Die Inflation trat nicht ein, es gibt dafür klare Gründe.) Stattdessen ignorierte Draghi dies, keine Normalisierung wurde eingeleitet (ganz im Gegensatz zum FED).
An dieser Stelle muss natürlich gesagt sein, dass es nicht Draghi im Alleingang war, schliesslich besteht die Leitung der EZB aus dem Gouverneursrat. In jüngster Zeit sickerte allerdings durch, dass dieser Gouverneursrat zuletzt zutiefst gespalten war und die September-Massnahmen nur äusserst knapp passierten. Es kam an der letzten Sitzung offensichtlich zu einer Revolte gegen Draghi: die Notenbankgouverneure Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Österreichs und Estlands waren nicht mehr bereit, das Spielchen weiterhin zu tolerieren.
Ehemalige Zentralbanker haben denn auch anfangs Oktober ein gemeinsames Memorandum verfasst. Darin werfen sie Draghi und dem EZB-Rat vor, die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung, die in den EU-Verträgen strikt verboten ist, überschritten zu haben.
Was mag Draghi angetrieben haben, mit der Brechstange ein soweit bewährtes Geldsystem aus den Angeln zu heben? Wer die Folgen analysiert, wird wohl jenen Recht geben, die seine Nähe zu Italien kritisch beurteilen. Die Folge dieses laxen Umgangs mit Schuldner-Regierungen sind in Italien auf Schritt und Tritt spürbar: die längst überfälligen Reformen landesweit, dieses Verharren in der Tradition („Es war doch immer so!“) kostet dem Land ein Vermögen, das gar nicht vorhanden ist. Es schützt staatliche Stellen, die anderswo seit über 50 Jahren gestrichen wurden. Es vergrössert den Abstand zu den wirtschaftlich florierenden Nationen (darunter die Schweiz). Ein repräsentatives Beispiel: noch immer gibt es auf den italienischen Seen (z. B. dem Lago Maggiore) den Schiffsanbinder, der geduldig an Land auf das nächste Schiff wartet um die im zugeworfenen Seile „anzubinden“…
Hoffen auf Morgendämmerung unter Lagarde
Nach acht Jahren konstanter Zielverfehlung der EZB kommt jetzt mit Christine Lagarde eine neue Chefin an Bord. Zuviel Machbarkeitsglaube ihres Vorgängers hat inzwischen zur offensichtlichen geldpolitischen Machtlosigkeit geführt. In der»ZEIT» meint der Chefökonom der Deutschen Bank zum Schluss: „So etwas hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben […], ausserdem hält die EZB Vermögenswerte von 2,9 Milliarden Euro auf ihren Büchern.“ Da überlege ich mir schon, wieviel diese für 2,9 Milliarden gekauften Papiere bei einer akuten Krise noch Wert sein werden …
Wäre es denkbar, dass in Zukunft eine neue EZB-Denkschule entstünde? Eine, die zur Kenntnis nimmt, dass alte Zusammenhänge nicht mehr funktionieren im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung? Dass globale Wertschöpfungsketten und durch Digitalisierung ermöglichte Effizienzsteigerungen jene Staaten umgekrempelt haben, die das auszunutzen wussten? „Whatever it takes“ ist eine ebenso falsche Devise wie „alternativlos“ – beide Statements aus alten Denkmustern signalisieren Überforderung.
Spätestens dann, wenn der Gegenwind zu stark, die Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen diktierter Massnahmen spürbar zu gross, resp. die Kursabweichung gefährlich wird, muss der geplante Kurs korrigiert, das Steuer herumgerissen werden. Auch bei (noch) unabhängigen Notenbanken.