Ergebnis der politischen Selbstzerstörung ist der «Failed State», der kaputte, der bankrotte, der fehlgeschlagene Staat. Der englische Ausdruck hat den Aspekt eines fehlgeschlagenen Experiments. Deshalb ist vielleicht die adäquateste Widergabe der «misslungene Staat».
Bis vor wenigen Jahren kannte die arabische Welt nur einen misslungenen Staat, und dieser gehörte nur am Rande zu ihr, Somalia. Doch nun gibt es viele: Somalia, Syrien, Libyen, Jemen, der Irak, Palästina, der Sudan. Libanon steht am Rand zum Failed State. Ägypten auch schon bald?
Vom Legitimitätsverlust zum Zusammenbruch
Was sind misslungene Staaten? Man kann sie definieren als Staaten, denen es nicht mehr gelingt, ihr ganzes Territorium zu regieren. In schweren Fällen ist die Regierung nur noch pro Forma da. In noch nicht gänzlich misslungenen Staaten gibt es sie noch, und sie regiert vielleicht einen Teil ihres Territoriums. Doch ihr Halt ist soweit gefährdet, dass sie befürchten muss, weitere Gebiete könnten ihr verloren gehen.
Wie kommt es zu misslungenen Staaten? Der Zusammenbruch erfolgt meistens in zwei Stufen. Eine erste ist durch den Verlust der Legitimität der regierenden Macht oder der Mächte gegeben. Das heisst Verlust der Zustimmung der Regierten zu den Regierenden. Diese erste Stufe, der Legitimitätsverlust, führt noch nicht unmittelbar zum Zusammenbruch. Der illegitimen oder ungenügend legitimierten Herrschaft bleibt die Möglichkeit, sich durch Gewalt an der Macht zu halten. Sie setzt ihre Geheimpolizei zu diesem Zweck ein. Hinter den Polizeikräften steht normalerweise die Armee, die ihnen den Rücken stärkt.
Illegitime Machthaber, die sich durch Gewalt und Ausbreitung von Furcht an der Macht halten, nennt man Tyrannen, im moderneren Sprachgebrauch auch Diktatoren. Unter Umständen halten sie sich an der Macht, bis sie sterben, ohne dass ihr Staat in die Brüche geht.
Der Zusammenbruch kommt erst in der zweiten Stufe, wenn der Gewaltherrscher zu Fall gebracht wird und nach ihm keine Ordnung zustande kommt, die den bisherigen Staat zu regieren vermag.
Dazu kommt es aller Erfahrung nach am ehesten, wenn der Tyrann oder Diktator der ersten Stufe sehr lange an der Macht geblieben ist. Je länger er herrscht, desto dichter wird – mindestens im arabischen Raum – die Nebelsphäre der Korruption, die er um sich verbreitet. Er muss ja seine Anhänger dafür belohnen, dass sie ihn stützen. Und je länger er sich an der Macht hält, desto abhängiger wird er von seinen Polizeidiensten. Je unbeliebter der Machthaber wird, umso brutaler müssen sie eingreifen. Und der Diktator wird umso mehr gehasst, je mehr Untaten seine Polizei begeht, um die Furcht vor der Staatsmacht aufrecht zu erhalten.
Beispiel Somalia
Das Beispiel Somalia zeigt, wie es typischerweise abläuft: Ex-General Ziad Barre kam 1969, neun Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes, durch einen Staatstreich an die Macht und beherrschte Somalia 21 Jahre lang bis 1992. Er führte einen Krieg gegen Äthiopien um Ogaden und verlor ihn 1978 aufgrund einer Intervention kubanischer Truppen.
Ziad Barre betrieb mit den somalischen Stämmen eine Politik des Divide et impera. Er stützte sein Regime auf einige von ihnen und entfernte die Angehörigen anderer aus allen Staatsdiensten. Was solange dauerte, bis die Leute der diskriminierten Stämme, die Hawiya, Isaaq, Majerteen, sich gegen ihn erhoben und ihn zu Fall brachten (Somalische Revolution von 1986 bis 1992). Danach lag die Macht bei den Stämmen. Sie waren jedoch nicht in der Lage, gemeinsam zu regieren, sondern bekämpften einander.
Neben den Stämmen kamen sich als «islamisch» bezeichnende Gruppen an die Macht über bestimmte Gebiete, darunter 2006 auch die Hauptstadt Mogadiscio. Zuerst war dies eine relativ gemässigte Kraft, die «Bewegung für islamische Gerichte». Ihr Vorteil gegenüber den Stämmen lag darin, dass sie auf stammesübergreifende Solidaritätsbande zurückgreifen konnte. Grosse Teile der Bevölkerung, und zwar über die Stammesunterschiede hinweg, erhofften sich von der islamischen Gerichtbarkeit, die diese Bewegung versprach, Frieden sowie eine gerechtere Ordnung und Obrigkeit.
Radikalisierende Eingriffe von aussen
Doch die Nachbarstaaten liessen sich von der amerikanischen Diplomatie dazu anregen, gegen diese Bewegung Krieg zu führen. Äthiopische Truppen marschierten ein, mithin die Nationalfeinde der Somalier, mit denen ein alter Zwist über die Ogaden Wüste besteht. Diesen landesfremden Truppen und ihren somalischen Verbündeten gelang es im Dezember 2008, die Bewegung der Islamischen Gerichte aus Mogadiscio zu vertreiben.
Das Ergebnis war, dass radikalere Konkurrenten der Islamischen Gerichte, die Schabab (Jugend), deren Führung ausstachen und den «islamisch» gefärbten Widerstand übernahmen. Diese Schabab haben sich im Verlauf der Kämpfe weiter radikalisiert, und sie gehören heute zu den gewalttätigen Islamisten, die den Vorbildern von al-Kaida – und heute zunehmend IS – nacheifern. Sie haben bereits die Köpfungen übernommen, die ihnen das Vorbild von IS nahelegte.
Terror als Ersatz für Guerillakrieg
Wenn die Versuche, einen Guerillakrieg zu führen, fehlschlagen, werden Bomben- und Selbstmordbombenanschläge eingesetzt, um die «Bewegung» weiter aufrecht zu erhalten. In den letzen Monaten sind die Schabab in Kenia aktiv geworden. Sie wollen durch ihre dortigen Anschläge dafür Rache üben, dass gegenwärtig Truppen aus Kenia sie aus den südlichen Teilen Somalias vertrieben haben und diese besetzt halten. Besonders empfindlich für sie war der Verlust des südlichen Hafens von Kisimayo.
Die Schebab sind auch Ziele der amerikanischen Drohnen. Diese haben zweimal bewirkt, dass sie ihre obersten Kriegschefs verloren. Doch die Schabab beherrschen noch immer weite Teile des ländlichen Somalia.
Im Norden und im Zentrum des bisherigen Staates, gibt es zwei Gebiete, die sich abspalteten und heute versuchen, ihr eigenes Staatswesen aufrecht zu erhalten, obwohl sie nicht international anerkannt sind: Puntland und Somaliland.
Machttechniken der Diktaturen
Im Fall der 2011 in den «arabischen Frühling» eingetretenen arabischen Staaten gab es überall den Starken Mann, der über Jahrzehnte regiert hat und die Legitimität seiner Herrschaft über die Jahre hinweg schrittweise zerstörte. Kriege, die er führte und verlor oder jedenfalls nicht gewann, trugen im Fall von Libyen, des Jemen und des Irak dazu bei, sein Prestige zu untergraben. Im Falle Syriens und Ägyptens waren dies Kriege, die nicht geführt werden konnten, weil der Starke Mann zu schwach war, um weitere Waffengänge mit Israel zu wagen. Nur Ben Ali in Tunesien führte keine Kriege; seine Armee wurde klein gehalten. Stattdessen war die Polizei das hauptsächliche Repressionsinstrument.
In allen Fällen war der Gewaltherrscher zunehmend darauf angewiesen, sich auf die Geheimdienste und Polizeischergen zu stützen, weil er Angst an Stelle der abbröckelnden Legitimität einsetzen musste. In allen Fällen bildete sich um ihn herum eine Schicht von Begünstigten, die er dadurch loyal hielt, dass er sie stark und augenfällig privilegierte. Die Sichtbarkeit der Privilegien diente dazu, die Begünstigten dem Machthaber gegenüber loyal zu halten. Sie mussten wissen und wussten es auch, das sie – falls er fiele – mit ihm zu Fall kommen würden.
Blockierte Veränderungen
Gedankenpolizei sorgte dafür, dass die beherrschte Gesellschaft unveränderlich blieb. Ideen und Entwicklungen, die zu Veränderungen geführt hätten, mussten eingeschränkt werden, weil Veränderungen die Machtpyramide, auf deren Gipfel der Machthaber sass, destabilisiert hätten. Doch die Masse der Bevölkerung konnte nicht unverändert bleiben. Die beherrschten Bevölkerungen wuchsen sehr stark, und der Staat konnte nicht mithalten bei dem dadurch entstehenden Wachstum der Bedürfnisse. Die Stagnation der Gesellschaft führte über die Jahrzehnte hin zur Jugendarbeitslosigkeit, die sich besonders auf die Gruppen von höher gebildeten Jugendlichen mit höheren aber unbefriedigten Lebensansprüchen auswirkte.
In Syrien war dem ersten Gewaltherrscher, Hafez al-Asad, sein Sohn nachgefolgt. In Ägypten, Jemen, dem Irak unter Saddam Hussein und in Libyen versuchten die Machthaber jeweils einen Sohn für die Nachfolge vorzubereiten. Dies war ein delikates Manöver, weil die privilegierten Prätorianer rund um den Machthaber ihm persönlich Gefolgschaft leisteten. Ihre Loyalität musste auf den Nachfolger übertragen werden. In Ägypten war dies besonders riskant, weil der Sohn ein Geschäftsmann war, und nicht, wie alle Machthaber seit Nasser, ein Mann der Armee.
Beherrschte entdecken ihre Macht
Die Hoffnung dass man durch Massendemonstrationen den Gewaltherrscher loswerden könnte, übertrug sich wie eine Ansteckung von einem arabischen Land zum nächsten. Es funktionierte in Tunesien, dann in Ägypten, wurde in Bahrein versucht, im Jemen, in Libyen, in Syrien – und mit Verspätung und nur von Seiten der sunnitisch-arabischen Bevölkerung – auch im Irak.
Wesentlich kleinere Protestwellen erhoben sich in den Königreichen Marokko, Jordanien und Saudi-Arabien. Dort konnten sie elastisch aufgefangen werden. In Algerien und im Sudan desgleichen. In diesen Staaten gab es keinen Starken Mann als Einzelfigur, sondern entweder Könige oder militärische Machthaber, die aus dem Hintergrund regierten. Die Legitimität der Könige wurde dadurch geschont, dass sie Ministerpräsidenten als Regierende vorschoben. Das gleiche taten die Armeeoffiziere in Algerien und im Sudan, und ähnlich verhielten sich die Familienregime der Erdölkleinstaaten am Golf. Saudi-Arabien und die Erdölstaaten waren natürlich auch in der Lage, Oppositionelle und potentiel Unzufriedene durch grosse Summen zusätzlichen Geldes zu beruhigen.
Unklare Ideen und Sonderinteressen
Die Protestierenden waren sich einig darüber, was sie nicht wollten. Sie hatten auch eine Vorstellung davon, was sie anstrebten: eine vage Idee von Demokratie als einem Regime der Freiheit. Darüber, wie es einzurichten wäre, gab es nur formale Vorbilder, die man nachzuahmen gedachte. Wahlen – oder genauer: echte Wahlen – würden die Demokratie bringen, so nahmen die Demonstranten an. Es erwies sich jedoch überall, dass die Grundlagen fehlten, auf denen demokratische Wahlen aufbauen müssen: der Wille, gemeinsam ein Gemeinwesen zu schaffen und vorwärts zu bringen, dem grosse Mehrheiten genügend weitgehend zustimmen können, um sich miteinander im Lande einzurichten.
Stattdessen gab es Sonderinteressen. Die wichtigsten und mächtigsten von ihnen waren wohl stets die der Armeen. Nur in Tunesien war die Armee unbedeutend genug, um kein Sonderinteresse von überragendem Gewicht zu bilden. In Ägypten und in Syrien sowie auch in Libyen bildete sie die Hauptmacht, die sich den unartikulierten Demokratiehoffnungen entgegenstellte. Allerdings in sehr unterschiedlicher Art, je nach Landesgegebenheiten.
Unterschiedliche Rollen der Armeen
In Ägyten spielte die Armee eine Rolle in der Politik, die sich allmählich, nach zwei Jahren der Traktationen, als die führende Rolle erweisen sollte.
In Syrien bildete sie einfach das Zentrum des Widerstandes gegen die Ansinnen der Protestierenden. Sie stützte sich dabei auf die Geheimdienste, und diese stützen sie. Die Geheimdienste waren in der Praxis ein Arm der Armee. Armeeoffiziere leiteten sie. Der Zusammenhalt der Armee in Syrien war gegeben durch die Kontrolle, die eine der syrischen Religionsgemeinschaften über die Soldaten und Sicherheitsleute ausübte, die Alawitische. Ihr gehört auch die Asad Familie an, und die Methode , die nationale Armee alawitischer Kontrolle zu unterstellen, hatte Vater Asad erwickelt. Sie hatte ihm dazu gedient, die Armeeputsche zu beenden, denen Syrien zwischen 1949 und 1970 beständig ausgesetzt war. Die alawitischen Offiziere, die die Armee und die Geheimdienste kontrollierten, wussten, wenn das Regime zu Fall käme, wäre dies auch das Ende ihrer Macht, vielleicht ihres Lebens. Dies bestimmte die Rolle der Armee als Machtfestung des Regimes.
In Libyen hatte Ghaddafi die Armee aufgespalten. Auf der einen Seite gab es die bevorzugten Elite-Einheiten, in denen Leute aus Stämmen dienten, die Ghaddafi zugetan waren. Enge Vertraute, oftmals Söhne des Gewaltherrschers, kommandierten sie. Diese Armee-Einheiten, die bestausgerüsteten, waren in Tripolis konzentriert. Die Ghaddafi-Familie wohnte auf dem gleichen Gelände, auf dem sich die Kasernen der Elitetruppen befanden.
Auf der anderen Seite gab es auch Truppen, die weniger privilegiert waren. Ihre Soldaten und Offiziere kamen aus Stämmen, die als weniger loyal zu Ghaddafi eingestuft wurden, und sie waren fern von der Hauptstadt, besonders in der Cyrenaika, stationiert. Es waren denn auch Truppen in Bengasi, die anfänglich mit den Demonstranten der östlichen Hauptstadt gemeinsame Sache machten und dadurch die Erhebung gegen Ghaddafi ins Rollen brachten.
Allen Einschätzungen nach wären die Elitetruppen aus Tripolitanien den sich erhebenden Einheiten der Cyrenaika soweit überlegen gewesen, dass sie diese leicht liquidiert hätten. Die westliche Intervention zugunsten von Bengasi kam wegen dieser Gefahr zustande. Der Feldzug am Boden von Soldaten und bewaffneten Freiwilligen aus den «befreiten» Gebieten gegen die Elite-Einheiten des Regimes wurde von aussen mit Luftschlägen unterstützt.
Der irakische Weg zum Failed State
Im Irak war die Entwicklung dadurch gegeben, dass nicht die eigene Bevölkerung, sondern die Amerikaner die Armee Saddam Husseins zerschlugen und auflösten. Eine neue Armee sollte gegen Ende der Besetzungszeit (2003 bis 2010) mit amerikanischer Hilfe aufgestellt werden. Sie wurde als eine Armee der Schiiten aufgebaut. Dies war bedingt durch den unterirdischen Krieg, der schon zur Zeit der Amerikaner (2006 und 2007) zwischen Sunniten und Schiiten ausgebrochen war.
Der am Ende der amerikanischen Besetzungszeit eingesetzte Ministerpräsident, Nuri al-Maliki, gehörte ursprünglich zu einer schiitischen Untergrundpartei, die gegen Saddam gekämpft hatte. Er sah die Schiiten als seine Machtbasis an und handelte dementsprechend, indem er eine ausgesprochen schiitische Armee aufbaute. Ihre Offiziere wurden nach politischen Loyalitätskriterien ausgesucht. Sie erwiesen sich als ebenso unfähig wie korrupt.
In den sunnitischen Landesteilen verhielt sich diese Armee wie eine Besetzungsarmee. Sie bewirkte dadurch, dass die arabischen Sunniten des Nordwestens Iraks zuerst ein Jahr lang protestierten. Später gingen sie, provoziert durch die Haltung der Regierung und ihrer Armee, zum bewaffneten Widerstand über, und sie fanden entscheidende Unterstützung bei den sunnitischen Fundamentalisten des Widerstands im Untergrund. Diese übernahmen im Juni 2014 die meisten sunnitisch-arabischen Landesteile einschliesslich der Stadt Mosul beinahe kampflos von der fliehenden irakischen Armee.
Gebändigte Armee in Jemen
Was die jemenitische Armee angeht, so spaltete sie sich im März 2011 nach einem Gemetzel, das die Sicherheitstruppen des Präsidenten unter den protestierenden Demonstranten anrichteten. Die Spaltung war vertikal. General Mohsin al-Ahmar ergiff mit seinen Truppen Partei für die Protestbewegung. Der Sohn und der Neffe des langjährigen Präsidenten, welche die Präsidialgarde und die Sicherheitskräfte kommandierten, hielten zu ihm.
Doch die an entgegengesetzten Fronten stehenden Armeeeinheiten lieferten einander keine wirklichen Schlachten. Sie liessen es nur zu gelegentlichen Zusammenstössen kommen. Ein Grund dieses Verhaltens war gewiss, dass das jemenitische Verteidigungsministerium allen Teilen der gespaltenen Armee weiterhin ihre Gelder auszahlte.
Breite Fronten der Islamisten
Das zweite überall auftretende Sonderinteresse war jenes der Islamisten. Dies waren jene Muslime, die einen muslimischen Staat unter der Scharia einrichten wollten. Wie in Somalia waren auch in der arabischen Welt diese im Namen des Islams auftretenden Politiker und Aktivisten in der Lage, weit über das ganze Land verstreute Sonderinteressen anzusprechen.
Alle anderen Gruppen taten sich aufgrund lokaler Gegebenheiten oder bestimmter Klientelgruppierungen zusammen. Zu dieser Art Solidaritätsgruppen beschränkter Reichweite gehören auch die Stämme und Clans in ihrer Vielzahl und mit ihren Rivalitäten. Die sich selbst als islamisch bezeichnenden Solidaritätsgruppen besassen ein viel weiter gespanntes, die ganze Nation umfassendes Publikum.
Solche Netzwerke hatten schon unter den Gewaltherrschern bestanden, manchmal verfolgt, wie in Tunesien, Libyen und in Syrien; manchmal aus taktischen Gründen teilweise geduldet wie in Ägypten und sogar als Juniorpartner an der Macht mitbeteiligt im Jemen. Im Irak hatten sie erstmals einen Untergrundkampf geführt, der sich gegen die amerikanischen Besetzer richtete. Später bildeten sie das Gegengewicht gegen die als schiitisch empfundene Staats- und Armeemacht al-Malikis.
Die Islamisten hatten den bitteren Streit zwischen Sunniten und Schiiten im Irak hervorgerufen, zweifelos aus taktischen Gründen. Er diente islamistischen Radikalen wie Zarqawi dazu, das Land für die Amerikaner so unregierbar wie möglich zu machen. Zarqawi war Vorläufer des gegenwärtigen «Kalifen», Abu Bakr al-Bagdadi, als Kommandant der Gruppe, die sich zum IS entwickeln sollte.
Fehlende politische Parteien
Länderüberspannende politische Parteien gab es nirgends, wenn man von den Staatsparteien der Gewaltherrscher absieht. Sebstständige politische Parteien zu dulden, war für die Machthaber zu gefährlich. Auch dort, wo die islamistischen Gruppen verfolgt worden waren, konnten sie sich nach dem Sturz des Machthabers relativ rasch und leicht wieder sammeln. Ihre Kader kehrten aus den Gefängissen und aus dem Exil zurück. Sie fanden Gehör und Solidarität in allen Teilen der arabischen Gesellschaften, in denen der Begriff Islam natürlich hohe Wertschätzung besitzt. In Tunesien und in Ägypten, wo gewählt wurde, konnten so islamistische Formationen die ersten Wahlen gewinnen.
In Syrien, wo bittere Kämpfe zwischen dem Regime mit seiner Armee und den Protestbewegungen ausbrachen, kam es nicht zu echten Neuwahlen. Die Islamisten zeigten sich unter den Bedingungen des ausbrechenden Bürgerkrieges als die wirksamsten unter der riesigen Zahl verstreuter Kampfgruppen, weil sie über weit gespannte, oftmals fanatisch verteidigte Solidaritäten verfügten. Diese waren sogar grenzüberschreitend, besonders deutlich im Falle Syriens und des Iraks. Dort halfen zuerst zur Zeit des Widerstandes gegen die Amerikaner syrische Islamisten dem irakischen Untergrund. Später, als die Kämpfe in Syrien ausbrachen, waren es irakische Kräfte, die den syrischen Islamisten zu Hilfe eilten.
Auf diesem Wege entstand die Nusra Front, ursprünglich der syrische Zweig des irakischen sunnitischen Untergrund-Widerstandes. Diese Front erwies sich anfänglich, 2011 und 2012, als dermassen erfolgreich, dass der irakische Untergrund unter Abu Bakr al-Bagdadi sich veranlasst sah, seinerseits eine Kampfgruppe nach Syrien zu entsenden, um zu vermeiden, dass alle Hilfe des Auslands an Geld und Kämpfern alleine der Nusra Front zufliesse und dass alles Prestige ihr zufalle. Die beiden islamistischen Milizen gerieten in Streit, weil die ursprüngliche irakische Organisation unter al-Bagdadi von der Nusra Front forderte, sie habe sich ihr unterzustellen, was Nusra verweigerte.
Brutalität als Erfolgsrezept
Mit der Zeit wurde deutlich: Je brutaler die islamistischen Gruppen ihren Kampf führten, desto erfolgreicher waren sie. Die Kämpfer unter al-Bagdadi (zuerst ISIS, dann IS, dann Kalifat genannt) taten sich durch zielbewusste Grausamkeit hervor. Man kann annehmen dass dieser strategische Einsatz von Brutalität zum Zweck der Verbreitung von Furcht unter der Anleitung und Führung der ehemaligen baathistischen Offiziere vor sich ging, die von den Amerikanern entlassen worden waren und dann im Widerstand gegen sie mit den Islamisten gemeinsame Sache machten.
Die Kampfgruppe der Nakshabandi Armee unter der Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Saddam Husseins, Abdul Aziz ad-Duri, war typisch für diese Verbindung von baathistischem Kern im islamistischen Gewande. Die weitaus meisten der uns namentlich bekannten politischen und militärischen Chefs und Berater al-Bagdadis sind ehemalige Baath-Offiziere. Sie waren unter Saddam Jahrzehnte lang in der Machttechnik geschult worden, die darauf ausgeht, durch Verbreitung von Furcht Macht zu bewahren.
Die Brutalitäten erwiesen sich nach aussen und nach innen hin als wirksam. Sie bildeten sensationelles Propagandamaterial im Internet, dazu geeignet, verbitterte Jugendliche aus den islamischen Ländern und aus der islamischen Diaspora in der Emigration zu mobilisieren – genau das Publikum, das IS als Kanonenfutter benötigte. In den von IS beherrschten Räumen, in denen zur Zeit etwa fünf Millionen Menschen leben, verbreiten die öffentlich ausgeübten und allen sichtbaren Brutalitäten Furcht und fördern dadurch den Gehorsam.
Andere islamistische Kampfgruppen erkannten bald den Wert des brutalen Auftretens und begannen IS zu imitieren. Man kann dies messen an der schrittweisen Ausbreitung der Enthauptungen über den Bereich von IS hinaus. Die Nusra Front übernahm die «Technik»; sie ist auch bereits in Libyen und im tunesisch-algerischen Grenzraum zu verzeichnen.
Zentrale Rolle der Selbstmordbomber
Zu den besonders brutalen Methoden gehört auch der Einsatz von Selbstmordbombern zur Eröffnung von Kämpfen. Grossexplosionen durch einen oder mehrere mit Explosivstoffen angefüllte Selbstmordlastwagen, oftmals gleichzeitig oder kurz hintereinander, werden verwendet, um unter Verteidigern einer Stellung Desorientierung hervorzurufen. Daraufhin erfolgt der eigentliche Angriff.
Diese Kampftechnik setzt natürlich voraus, dass grosse Zahlen von Selbstmordkandidaten zur Verfügung stehen. Sie müssen in einer «Sonderausbildung» psychisch konditioniert werden. Es handelt sich bei ihnen um eine Art von «Kanonenfutter», für welches sich kämpferisch unausgebildete und psychisch verletzte oder angeschlagene Freiwillige aus dem Innenbereich und aus der Aussenwelt eignen.
Ähnliche Ziele verfolgen Selbstmordbomber gegen Zivile im Innenbereich des Gegners. Bagdad ist permanent Bombenanschlägen ausgesetzt. Auch dies hat einen doppelten Zweck: Unruhe und Unsicherheit im Hinterland des Gegners zu schaffen und durch den Einsatz in schiitischen Wohngebieten und Moscheen den Hass zwischen Schiiten und Sunniten immer neu anzufachen. Weil diese Methoden sich als besonders wirksam erweisen, muss man ihre schrittweise Ausdehnung auf die ganze Sphäre des gewaltsamen Islamismus bis über die Sahara hinüber nach Mali und nach Nigeria erwarten.
Die islamischen Gottesgelehrten sind immer bemüht gewesen, die Reichweite eines erlaubten und gottgefälligen Heiligen Krieges (Jihad) einzudämmen, in Bezug auf die erlaubten Gegner und in Bezug auf die zulässigen Kampfmethoden. Doch die islamistische Ideologie tut das Gegenteil. Sie dehnt diese Sphäre aus ins räumlich und moralisch Unbegrenzte, indem sie den Begriff des «takfir» verwendet. Sie erlaubt sich, jeden Gegner, ob Muslim oder nicht, zum «Ungläubigen» zu erklären (das technische Wort ist «takfir», «zum Ungläubigen erklären») und verkündet dann, im Kampf gegen Ungläubige sei alles und jedes erlaubt, ja geboten.
Einmischung von aussen
Zum allgemeinen Szenario des Zusammenbruches eines missratenen Staats gehört auch die Einmischung von äusseren Mächten. Dies geschieht oft durch mehrere Aussenmächte, die untereinander rivalisieren. Es kann sich um Nachbarmächte handeln oder um Supermächte, die einen Kalten Krieg gegeneinander führen. Diese Einmischungen sind sehr oft real. Sie beginnen mit Geld- und Waffenlieferungen, und sie können zum Eingreifen fremder Geheimdienste und fremder Truppen führen.
Einmischungen können auch imaginärer Natur sein. In solchen Fällen dienen sie der Propaganda der jeweiligen Machthaber. In Ägypten ist zurzeit ein propagandistischer Einsatz von angeblichen Fremdeinmischungen zu beobachten. Er dient der ägyptischen Armee dazu, ihre Machtpositionen auszubauen, indem sie behauptet, sie müsse das Land gegen fremde Eingriffe verteidigen.
Doch die Einmischungen sind oft nur allzu real. In Libyen nahmen sie kriegerische Formen an und waren entscheidend für die Vernichtung der Macht Ghaddafis. In Syrien gab es und gibt es weiter schwere Eingriffe von aussen durch unterschiedliche, rivalisierende Mächte. Sie sind ein grundlegendes Hindernis zur Bewältigung der syrischen Bürgerkrieges. Die gegeneinander gerichteten Stellungnahmen im Sicherheitsrat führten dazu, dass dieser blockiert war und bleibt, so dass Massnahmen des Sicherheitsrats in Syrien zur Bewältigung der syrischen Krise und später des syrischen Bürgerkrieges blockiert wurden und blieben.
Syrisches Chaos
Gleichzeitig kam es zur Bewaffnung und Finanzierung beider Seiten im Bürgerkrieg: für die Asad-Regierung durch die Russen und die Iraner, für ihre Gegner durch die Golfstaaten, die Amerikaner und europäische Staaten. Wobei die Aktionen zugunsten der Asad-Regierung zielbewusst und geordnet vorangetrieben wurden, jene zugunsten der protestierenden und dann Asad bekämpfenden Kräfte in chaotischer und gelegentlich selbstzerstörerischer Art und Weise.
Dieses Chaos war durch unterschiedliche Zielsetzungen der am Kampf gegen Asad beteiligten Aussenmächte bedingt, die sich mit ebenfalls unterschiedlichen Kriegszielen der viel zu zahlreichen Gruppen rebellischer Kräfte überlagerten. Die Golfstaaten gingen auf den Sturz des Asad-Regimes aus. Sie sahen den Bürgerkrieg als eine der Kampfesfronten in ihrer Konfrontation mit Iran. Ihr Kriegsziel war, das Alawiten-Regime in Bagdad zu beenden, weil sie dieses als Träger iranischen Einflusses in Syrien selbst und im Libanon sahen.
Doch inbezug auf die Unterstützung der unterschiedlichen Kampfgruppen führten die Golfstaaten einen Kalten Krieg gegeneinander. Qatar wollte mit seinem vielen Geld jene Kräfte in Syrien und jene Exilkräfte fördern, die den Muslimbrüdern nahe standen. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hassen die Muslimbrüder, weil sie in ihnen eine Gefahr für das eigene Regime wittern. Sie unterstützen daher die Gegenspieler der Muslimbrüder in Syrien und in der Emigration. Was sie offenbar dazu verleitete, anfänglich Geld und Waffen den islamistischen Kreisen zuzuspielen, die als Gegner der Brüder auftraten: Nusra Front und ISIS. Die Türkei gehörte ebenfalls zu den Kräften, die auf den Sturz Asads abzielten und deshalb geneigt waren, die Gefahren zu übersehen, die von den radikalen Islamisten ausgingen.
Ziellos agierende Westmächte
Die Vereinigten Staaten und in ihrem Schlepptau die Europäer hatten sich das schwer erreichbare Einmischungsziel vorgenommen, Asad zu schwächen, aber nur soweit, dass sein Staat weiter bestehen bleibe und dann durch «freie Wahlen» «demokratisiert» werden könne. Eine solche Zielsetzung war utopisch. Sie beruhte auf einer Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, fremde Staatswesen durch «social engeneering» in Demokratien umzubauen.
Die Idee von Einmischungen oder Eingriffen von aussen spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Rebellion gegen Asad. Berechtigte Hoffnung auf Einmischung zu ihren Gunsten hatten die Rebellen angesichts der Eingriffe in Libyen. Auch bei ihnen gab es eine Bevölkerung, die vor den Verbrechen und Brutalitäten ihres Regimes gerettet werden wollte und musste. Die Rebellen glaubten wahrscheinlich zu überwiegenden Teilen, damit rechnen zu können. Die grosse Enttäuschung kam dann im August 2013 mit dem Giftgas-Grossangriff auf Zivile am Rande von Damaskus. Die USA und Grossbritannien entschieden sich gegen eine Invasion Syriens und folgten stattdessen dem russischen Vorschlag einer Beseitigung der syrischen Giftgaswaffe.
Verlängerung und Verschärfung der Kriege
Eingriffe durch die Nachbarn sind oftmals dadurch bedingt, dass diese fürchten, ihr zusammenbrechender Nachbarstaat könne sein Chaos über die Grenzen hinaus in ihr eigenes Land tragen. Um dies zu vermeiden, greifen die Nachbarn zur Offensive und suchen ihrerseits auf das Nachbarland einzuwirken, entweder in Hoffnung das dortige Chaos zu überwinden und dabei möglicherweise den eigenen Einfluss auszudehnen, oder bloss in der Absicht, im Nachbarland defensive Zonen zu schaffen, die das eigene Land abschirmen sollen.
Dies ist gegenwärtig im Irak zu beobachten, wo sowohl Iran wie auch Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten «präventiv» Einfluss suchen, desgleich in Jemen und nun auch schon – ein zweites Mal – in Libyen. Dort unterstützen zurzeit Ägypten und die VAE die Regierung von Tobruk mit Kampfflugzeugen gegen das Regime von Tripolis. Tripolis, so heisst es, soll seinerseits Unterstützung an Geld und Waffen von Qatar und aus der Türkei erhalten.
Die Einmischungen von aussen erscheinen vielen der Bürger der betroffenen Staaten als die eigentliche Ursache ihrer Zusammenbrüche und Bürgerkriege. Sie sind in der Tat oft ein Grund für die Verlängerung und Verschärfung der inneren Kämpfe. Doch in der Regel gilt: Die Ursachen liegen in der inneren Lage der eigenen Gesellschaft. Die fremden Eingriffe kommen hinzu im Bemühen, den eigenen Einfluss auf Kosten des zusammenbrechenden Staates zu stärken und im Versuch, dort Ordnung zu schaffen. Dies in vielen Fällen, weil die Unordnung über die Grenzen des Ursprungslandes hinaus auf seinen Nachbarn überzugreifen droht.
Abbau der nationalen Grenzen
Dies ist natürlich besonders der Fall, wenn islamistische Kampfgruppen die lokalen Truppen ausstechen und zu den wichtigsten Kampfgruppen aufsteigen. Die Islamisten anerkennen die bisherigen internationalen Grenzen nicht. Ihr Fernziel wäre ein grenzüberschreitendes islamisches Grossreich. IS unterstreicht gerne, dass seine Kämpfer die «kolonialen Grenzen» zwischen dem Irak in Syrien ausgewischt haben. Saudi-Arabien ist im Begriff, eine Grenzbefestigung der ganzen irakisch-saudischen Grenze entlang zu bauen, weil es Übergriffe von IS auf sein Territorium fürchtet.
Auch die Bedrohung der westlichen Machtzentren in Amerika und Europa durch islamistische Anschläge entspricht der internationalistischen Doktrin der jüngsten Generation radikaler islamistischer Kampfgruppen. In der Vergangenheit hielten sie sich eher an die bestehenden Grenzen und versuchten in erster Linie in spezifischen Einzelstaaten die Macht zu erringen. Ihr Angriffsziel war damals die eigene – als heidnsich eingestufte – Regierung.
Das Ziel, die kolonialen Grenzen zu überwinden, verfolgte schon die pan-arabische Baath-Partei in der Zeit Abdel Nassers. Damals sollte dies im Namen des arabischen Nationalismus geschehen, der keine Grenzen zwischen arabischen Staaten anerkennen wollte. Nun verfolgen die überlebenden Bathisten im Gewande von Islamisten und im Bündnis mit ihnen vergleichbare Ziele, wobei jedoch die angestrebte Grossgemeinschaft nicht mehr die pan-arabische sein soll sondern ein islamistisches Weltreich.
Provokation der Westmächte
Dies weckt natürlich auch Widerstand, der sich in der Form von kriegerischen Eingriffen gegen IS manifestiert. Amerika und seine politischen Verbündeten sehen sich veranlasst, erneut «präventiv» einzugreifen und die IS-Aktivsten zu bekämpfen, vorläufig nur aus der Luft und mittels der von ihnen unterstürzten irakischen und kurdischen Truppen.
Die Provokation der westlichen Mächte gehört zu den Zielen von IS. Sie soll gemäss ihren Absichten dazu dienen, die Feindschaft zwischen «den Muslimen» und den «Kreuzritterkräften» des Westens zu vertiefen. Sie erhoffen sich dadurch eine wachsende Mobilisierung «aller Muslime» auf ihrer Seite. Wie weit ihnen dieses gelingen könnte, hängt von ihrem eigenen Verhalten gegenüber ihren muslimischen Untertanen und erhofften Kampfgenossen ab, aber auch vom Takt der amerikanischen und westlichen Mächte, die es vermeiden sollten, «alle» oder «viele» Muslime zu provozieren, sogar dann, wenn sie sich gezwungen sehen, gegen aggressive islamistische Gruppen kriegerisch einzuschreiten.
Sind missratene Staaten reparierbar?
Wie der Abstieg von Staaten zu missratenen Staaten aufgehalten werden kann, oder wie missratene Staaten wieder zu funktionierenden Staaten aufgebaut werden könnten, ist ein komplexes Thema. Es ist weitgehend spekulativer Natur, weil wir über wenig Erfahrung darüber verfügen, wie eine solche Umkehr erreicht werden kann. Bisher kennen wir nur Beispiele des Abstiegs, kaum solche des erfolgreichen Wiederaufbaus von Failed States. Aus diesem Grunde soll die Frage, ob und wie missratene Staaten im Nahen Osten wieder zu funktionierenden Gebilden werden können, Gegenstand einer gesonderten Betrachtung werden.