Weiter östlich jedoch, in Iran und in Pakistan, wird der politische Islam weiterhin grossgeschrieben. Gruppen, die ihn - wie in Iran - mit Gewalt an der Macht halten oder - wie in Pakistan - durch Terrormethoden zur Macht bringen wollen, bleiben aktiv und gefährlich. Sie verfolgen nicht die Agenda Bin Ladens, nämlich den "Sturz Amerikas", es geht ihnen um die Macht in ihren eigenen Ländern.
Machtstreben und Machterhaltung als Hauptziele
In Iran versuchen sie nach wie vor, den Grossteil der Bevölkerung, der von einem Islamischen Regime, so wie es dort besteht, nichts mehr wissen will, mit Gewalt niederzuhalten. Sie suchen auch, ihren Einfluss in der arabischen Welt auszudehnen, jedoch nicht mit grossem Erfolg, ausser möglicherweise im immer noch amerikanisch besetzten Irak.
In Pakistan wittern sie Möglichkeiten, die Macht sowohl im eigenen Land als auch in Afghanistan zu ergreifen, sobald die Amerikaner des dortigen Krieges müde werden und ihre Milliardenunterstützungen für die pakistanische Armee und die Regierung Karzai reduzieren. Die eigentlichen Ziele Bin Ladens und seiner Qa'eda, den Glaubenskrieg nach Amerika zu tragen, haben sie nicht mehr im Auge. Es geht ihnen vielmehr darum, ihre Macht in ihren Ländern auszubauen und dort womöglich die Regierungsmacht zu erlangen - oder im Falle Irans zu bewahren.
Neuorientierung in der arabischen Welt
Die arabische Revolution hat eine neue politische Ausrichtung gebracht. Sie sucht Mitspracherecht für die machtlosen Massen der arabischen Bevölkerung in Form von Demokratie. Ob diese dann mehr oder minder islamisch, konservativ oder sozialdemokratisch gefärbt sein werde, lassen sie offen. Künftige Wahlen sollen darüber entscheiden.
Die Behauptung der Islamisten, Islam und Demokratie, seien unvereinbar, gilt für die Beweger der arabischen Revolutionen nicht mehr. Die Muslimbrüder und andere Islamisten, die bei den Revolutionen mitgewirkt haben, jedoch eher als Mitfahrer denn als treibende Kräfte, sehen sich beinahe überall gespalten zwischen einer alten Generation, die an dem Ideal eines Schari'a-Staates festhalten will, wenngleich sie dessen Verwirklichung auf eine ferne Zukunft hinausschiebt, und einer jungen, die nicht mehr an den Schari'a-Staat glaubt, sondern an die Demokratie, welcher sie, wenn sie gewählt werden und solange sie an der Macht bleiben, eine islamische Färbung zu geben gedenken. Die islamische Orientierung habe in der Bekämpfung von Korruption, gesellschaftlichen Missständen und sozialen Ungerechtigkeiten ihren Ausdruck zu finden.
Pakistan unter dem Ansturm der Islamisten
Doch in Pakistan blüht der Islamismus. Die Bevölkerung scheint sich weitgehend in seinem Bann zu befinden, wie es besonders die weitreichende Befürwortung des Blasphemiegesetzes aufzeigt. Dieses höchst ungerechte und oft zur Verfolgung von anderen Religionsangehörigen missbrauchte Gesetz findet Billigung in weiten Teilen der Bevölkerung. Ein mutiger Parlamentarier und bekannter Politiker der Regierungspartei, Salman Taseer, wollte es abändern und wurde deswegen im Januar 2011 von seinem eigenen Leibwächter ermordet. Der im Zeichen einer vermeintlichen Verteidigung des Islams durchgeführte Mordanschlag fand fanatische Zustimmung bei grossen Massen von Pakistani. Die Kollegen aus der Regierungspartei wagten es nicht einmal, sich bei der Beerdigung des Opfers zu zeigen.
Predigt und Schrecken im Streben nach Macht
Die islamistischen Kampfgruppen schüchtern das Volk systematisch ein. Dazu verüben sie ständig Selbstmordanschläge. Ihr Hauptzweck ist, Angst und Unsicherheit unter der pakistanischen Bevölkerung zu verbreiten. Obwohl diese Untaten von den ihnen ausgesetzten Bevölkerungen gehasst werden, wagt es doch selten jemand, offen gegen ihre Urheber aufzutreten, weil dies als allzu gefährlich gilt. Doch zugleich wird der Armee vorgeworfen, dass sie die Bevölkerung nicht genügend schütze.
Den islamistischen Urhebern der Mordanschläge geht es primär darum, den pakistanischen Staat und seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Sie hoffen, wenn ihnen dies gelingt, selbst an die Macht zu gelangen. Der Staat zeigt sich so schwach, dass ihre Hoffnungen möglicherweise erfüllt werden könnten. Besonders weil die Armee sich immer wieder bereit gezeigt hat, mit den Islamisten oder mindestens mit einigen ihrer Gruppierungen zusammenzuarbeiten.
Zusammenspiel mit den Geheimdiensten
Der militärische Geheimdienst ISI tut dies seit Jahrzehnten, beginnend mit der Abspaltung Pakistans von Indien von 1946 und dem kurz darauf einsetzenden Ringen um Kaschmir, das heute noch andauert. Die Islamisten dienten den Militärstrategen immer dazu, als irreguläre Kämpfer und Terroristen in Kaschmir und in Afghanistan und gelegentlich in Indien selbst die pakistanischen Pläne zu fördern. ISI glaubte stets, sie beherrschen und ihren Einsatz leiten oder fernsteuern zu können.
Als die Amerikaner 2001 gegen die afghanischen Taleban eingriffen - auch sie waren ursprünglich islamistische Kreaturen von ISI - begann Pakistan eine Doppelpolitik zu betreiben: einerseits erklärte das Land, damals unter dem Militärdiktator Musharraf , sich bereit, im "Krieg gegen den Terrorismus" auf Seiten der Amerikaner zu treten. Dafür erhielt das Land vier Milliarden Dollar im Jahr, hauptsächlich für seine Armee. Andrerseits wollten die Militärstrategen an ihren althergebrachten Analysen und Feindbildern festhalten, nach denen Indien ihren Hauptfeind darstellt, dessen Einfluss in Afghanistan und dessen Herrschaft in Kaschmir unbedingt zu verhindern sei.
Das wichtigste Instrument gegen diesen grösssenmässig und militärisch überlegenen Feind waren die islamistischen Kämpfer. Dank ihnen war es der pakistanischen Armee über Jahrzehnte hinweg gelungen, bis zu 500 000 Mann der indischen Armee in Kaschmir zu binden.
In Afghanistan hatten sie von 1994 an die Taleban lanciert und sie beinahe im ganzen Land an die Macht gebracht, ebenfalls mit dem Hauptzweck, ihr Nachbarland von Indien fern zu halten und es auf die eigene Seite zu ziehen.
Ja und Nein gleichzeitig...
Die pakistanische Doppelpolitik begann damit, dass Pakistan schon unter Musharraf mit Bush einen Vertrag abschloss, in dem festgelegt wurde, die Amerikaner erhielten das Recht, in den pakistanischen Stammesgebieten an der afghanischen Grenze militärisch einzugreifen. Doch die pakistanische Regierung behielt sich ausdrücklich das Recht vor, in der Öffentlichkeit und später auch vor dem Parlament gegen solche "Übergriffe" der Amerikaner zu protestieren. So wurden stets die Amerikaner als Schuldige dargestellt, wenn unschuldige Zivilisten bei Raketenangriffen ums Leben kamen – dies, obwohl Pakistan dem amerikanischen Vorgehen zugestimmt hatte und auf einen Teil seiner Souveränität verzichtete. Der Geheimvertrag wurde unter Obama und der neuen parlamentarischen Regierung erneuert.
Täuschung auch gegenüber Amerika
Wenn man bewusst die eigene Bevölkerung täuschte, lag es auch nahe, auch gegenüber den neuen Verbündeten eine doppelbödige Politik zu betreiben. ISI behielt seine alten Verbindungen zu den Taleban - mit Einverständnis der zivilen Regierung, mit ihrer schweigenden Zustimmung oder halbheimlich. Oberhäupter der Taleban, darunter ihr oberster Chef, Mullah Omar, der sich Khalifa genannt hatte, wurden mit Hilfe von ISI in Quetta angesiedelt, der Hauptstadt des fernen Belutschistan. Andere fanden ihren Weg bis nach Karachi. Einige der wichtigeren Qa'eda-Führer und zahlreiche unschuldig der Zugehörigkeit zu Qa’eda Angeklagte, lieferten die pakistanischen Dienste den Amerikanern aus, um ihre Glaubwürdigkeit als Verbündete im Krieg gegen den Terrorismus zu wahren. Sie verschwanden auf lange Jahre in Guantanamo.
Bin Laden selbst fand, wie heute bekannt, Unterschlupf in der Garnisonsstadt Abottabad, unter den Augen der pakistanischen Geheimdienste, die bis heute offiziell behaupten, sie hätten ihn dort nicht gesehen. Die Taleban-Führer, im Gegensatz zu den Qa'eda-Chefs, wurden nur in Ausnahmefällen verhaftet und an die Amerikaner übergeben, etwa im Falle des Mullah Berader im Februar 2010. Dieser Taleban-Kommandant, der seit geraumer Zeit in Pakistan lebte, hatte begonnen, mit den Amerikanern Kontakte aufzunehmen, ohne die Pakistani einzuschalten.
Die eigenen Islamistengruppen, Leute wie Lashkar at-Tauba (Heer der Reue) und Sipah-e-Sahaba (Heer der Prophetengefährten) wurden von ISI weiter protegiert und verwendet, sogar dann, wenn offiziell ein Verbot gegen sie ausgesprochen wurde. Die erste Gruppe war offenbar für die Anschläge in Bombay von 2008 verantwortlich und wurde dabei sichtlich von ISI ferngesteuert.
Die Entstehung der pakistanischen Taleban
Doch in den Stammesgebieten bildeten sich neue Gruppierungen unter dem Einfluss und nach dem Vorbild der Taleban. Wobei die alten Verbindungen in Fällen wie jenem der Haqqani-Gruppe bekannt sind. Haqqani, ursprünglich ein bekannter paschtunischer Kämpfer im Heiligen Krieg gegen die Sowjetarmee, verblieb im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet und begann schon bald nach der amerikanischen Invasion in Afghanistan im Jahre 2001 gegen die Amerikaner zu kämpfen. Er tat dies mit Unterstützung von Pakistan und er tut es noch heute.
Zahlreiche andere nach Pakistan geflohene und dort untergekommene afghanische Taleban-Gruppen vermochten über die ersten Jahre der amerikanischen Präsenz hinweg sich zu organisieren und sich neu in Afghanistan zu organisieren. Zunächst wirkten sie in Gebieten, in denen die Amerikaner und Nato-Truppen nicht die volle Kontrolle ausübten, sondern diese den Lokalherrschern aus der Zeit des sowjetischen Krieges, den sogenannten "War Lords" überliessen. Diese standen unter bloss nomineller Kontrolle des afghanischen Präsidenten Karzai, der eigentlich nur in der Hauptstadt Kabul regiert. In den Provinzen richteten sich die Taleban mit ihren Milizen neu ein.
Paschtunen auf beiden Seiten der Grenze
Die Verbindungen zwischen der Hauptvolksgruppe der Paschtunen und den ebenfalls paschtunischen Taleban wurden wiederbelebt. Dies umso mehr, als die Amerikaner - und nach ihnen notgedrungen auch Karzai - sich auf die alten Feinde der Paschtunen, die tadschikischen Kämpfer der sogenannten Nordallianz, stützten. Diese hatten im nordöstlichen Winkel Afghanistans die Herrschaftsperiode der Taleban (1996-2002) überlebt und waren von den Amerikanern als entscheidend wichtige Hilfstruppen bei der Eroberung Afghanistans eingesetzt worden.
Diese tadschikischen Kämpfer jedoch sind bittere Feinde der Taleban und der Pakistani, weil die Taleban sie mit pakistanischer Hilfe 1996 blutig aus Kabul vertrieben hatten und weil Bin Laden, damals ein Schützling und Freund der Taleban, ihren Kriegshelden aus der sowjetischen Zeit und Hauptführer, Ahmed Shah Masud, 2001 durch zwei Selbstmordanschläger hatte ermorden lassen. Wahrscheinlich organisierte er diesen Anschlag, um den Taleban einen Gefallen zu tun.
Die Nördliche Allianz gelangte so als amerikanische Hilfstruppe zurück nach Kabul und dort mit Karzai in Machtpositionen. Obwohl Karzai selbst ein Paschtune ist, aber keiner aus einem der führenden Stämme, sahen ihn die Paschtunen nicht als einen der Ihrigen an, sondern eher als einen Verräter, der sich neben den Amerikanern und Nato-Truppen auf ihre Feinde, die Tadschiken der Nordallianz, stützte. Folglich ergriffen viele von ihnen Partei für die paschtunischen Taleban, die sich wieder neu formierten und heimlich von Pakistan unterstützt wurden.
Opium und Selbstmordanschläge als neue Waffen
Um ihre wiederbegonnen Kriegszüge in Afghanistan zu finanzieren, wurden die Taleban ihrem alten Grundsatz untreu, nach welchem Opium im Islam verboten sei. Sie organisierten die Opiumproduktion und den Opiumhandel in den unter ihrem Einfluss stehenden Gebieten des afghanischen Südens, etwa Helmand, die nicht weit vom pakistanischen Quetta liegen. Transitland in die Aussenwelt wurde Pakistan, gewiss mit Wissen des pakistanischen Geheimdienstes. Dieser hat möglicherweise mitverdient.
Die wieder auferstandenen Taleban griffen auch nach einer neuen Waffe.Diese war in den früheren Kriegen gegen die Sowjetarmee und dem darauf folgenden Bürgerkrieg nie eingesetzt worden: die Selbstmordbombe. Sie sollte zu ihrem Hauptkampfinstrument werden, weil sie leicht eingesetzt werden kann und verheerend auf die Zivilbevölkerungen wirkt.
Selbstmordbomben waren im arabischen Raum zuerst von schiitischen Kampfgruppen in Libanon unter iranischer Instruktion im Kampf gegen die Amerikaner, Franzosen und Israeli 1982 verwendet worden. Später wurden sie auch von einigen radikalen palästinensischen Gruppen gegen Israel eingesetzt, und Bin Laden übernahm sie noch später. Im Irak kamen sie massenweise zum Einsatz gegen die Amerikaner und in den innerirakischen Kämpfen. Die Taleban übernahmen für ihren zweiten Vorstoss nach Afghanistan diese Selbstmordkampfmethoden, welche den meisten ausgebildeten Islamgelehrten als unislamisch und im Islam verboten gelten.
Die militärischen Hauptsorgen der Amerikaner richteten sich in den Jahren 2003 bis 2009 auf den Irak und den dortigen unerwartet ungünstig verlaufenden Krieg. Dies half den Taleban, mit pakistanischer Duldung und Hilfe, wieder als Kriegspartei in Afghanistan aufzutreten.
Ein paschtunischer Stammesislam
Die Kampf- und Jihad-Mentalität der Taleban wirkte sich auf ihre Mit-Paschtunen in den Stammesgebieten aus. Die Islamvorstellungen der Paschtuschen auf beiden Seiten der durchlässigen und unkontrollierten Grenze sind sich ähnlich. Es handelt sich um einen mit Stammestraditionen durchsetzten und fern von allem städtischen Raffinement entstandenen und gelebten Volksislam. Es gelten Werte, die eher dem Stammeswesen als dem Islam entnommen werden: Familienehre, in den Frauen verkörpert, der Kampf der Männer um Macht und Ehre, der Waffenkult, die Traditionen der Stämme. Die Paschtunen leben nach ihrem eigenen ungeschriebenen Stammesgesetz, dem Paschtunwali, das sich stark von der islamischen Scharia unterscheidet. Doch sie sind überzeugt, dass sie als vorbildliche Muslime leben. Dies gilt auf beiden Seiten der Grenze.
Die pakistanischen Taleban gegen Pakistan
Unter diesen Bedingungen entstanden in den Grenzregionen die pakistanischen Taleban. Sie bildeten sich nicht unter der Kontrolle und mit Förderung der pakistanischen Geheimdienste wie ursprünglich - und mindestens teilweise weiterhin – die afghanischen Taleban. Die pakistanischen Taleban kämpften gegen den Staat Pakistan. Sie suchten Teile der Grenzbevölkerung mit den Methoden der afghanischen Taleban unter ihre Kontrolle zu bringen, hauptsächlich durch eine Kombination von Predigt und Einschüchterung, wobei die Einschüchterung bis zur Ermordung der Stammesoberhäupter und Dorfältesten gehen konnte, die sich nicht fügen wollten. Unbotmässige Gruppen wurden durch Selbstmordbombenanschläge terrorisiert.
Da die Präsenz des pakistanischen Staates in den Grenzgebieten eine sehr schwache, ja kaum vorhandene war, hatten die pakistanischen Taleban dort leichtes Spiel. Sie dominierten bald ganze Regionen und dicht besiedelte Bergtäler wie jenes von Swat, das die pakistanische Armee im Frühling 2009 mühsam zurückerobern musste, nachdem sie die gesamte Zivilbevölkerung vorübergehend aus dem Tal entfernt hatte und sie später wieder dorthin zurückkehren liess. Dem Swat-Krieg schlossen sich andere Befriedungsversuche durch die pakistanische Armee an. Doch die pakistanischen Taleban und ihre Freunde, die afghanischen Taleban, die bei ihnen Zuflucht fanden, wussten den Armeeexpeditionen in dem wilden, gebirgigen und unwegsamen Gelände stets auszuweichen.
Ein blutiges Drama in Islamabad
Ein Wendepunkt war eingetreten, als die pakistanischen Taleban sich in der Hauptstadt Islamabad in der sogenannten Roten Moschee einnisteten und von dort aus versuchten, ihre Form von Islam in den umliegenden Quartieren mit Gewalt auszubreiten. Die Armee entschloss sich im Juli 2007 nach Verhandlungen und langem Zuwarten zurückzuschlagen, drang in die Moschee ein und tötete die meisten der Widerstand leistenden Fanatiker. Die Taleban in den Grenzgebieten schworen Rache und kündeten an, sie würden ihre Racheaktionen auf ganz Pakistan ausdehnen.
Sie hielten Wort. Ihre Bombenanschläge in den pakistanischen Städten haben seither nicht aufgehört. Die Sicherheitskräfte suchen sie manchmal zu bekämpfen, doch verhandeln sie auch immer wieder mit ihren Chefs in den Grenzgebieten, vermutlich weil sie der Ansicht sind, mit rein militärischen Mitteln sei ihrer nicht Herr zu werden.
Die Propaganda der pakistanischen Taleban richtet sich weitgehend gegen die fremden Ungläubigen im Lande, die Amerikaner und ihre vermuteten und tatsächlichen Agenten. Der Regierung und der Armee werfen sie vor, mit diesen Fremden zusammenzuarbeiten, um des Geldes willen, das sie von ihnen erhalten und von dem die Bevölkerung wenig zu sehen bekommt aber viel hört. Ihre Mordanschläge machen sie zwar verhasst, aber auch gefürchtet.
Entfremdung zwischen Eliten und Volk Pakistans
Gefördert wird ihr Aufschwung durch die tiefe Spaltung, die sich in Pakistan zwischen den gebildeten und oft schwer reichen Eliten und den verzweifelt armen und vom Staat bitter vernachlässigten Volksmassen auftut. Die weitgehend anglophone Elite ist ihrerseits unterteilt in die Front der ebenfalls finanziell sehr gut ausgestatteten Armeeoffiziere und die Gruppen von zivilen Grossgrundbesitzern, Unternehmern, Financiers und Politikern, wobei die zutiefst politisch ausgerichteten Offiziere mehr Macht besitzen als die Politiker. Wenn die Zeiten allerdings schwierig sind, überlassen die Offiziere den Politikern die Bühne und ziehen aus dem Hintergrund die Fäden.
Zwei Wege der Ausbildung
Das Schulwesen in Pakistan bietet ein klares Bild dieser Trennung: die Eliten schicken ihre Kinder in meist englischsprachige Privatschulen, Colleges und von dort auf die Universitäten, wenn möglich ins Ausland. Staatliche Volksschulen gibt es kaum, auf dem Lande schon gar nicht. Wo sie existieren, sind sie oft so vernachlässigt und mit so schlecht entlohntem Lehrpersonal ausgestattet, dass viele der ärmeren Eltern keine andere Wahl haben, als ihre Kinder in die traditionellen islamischen Schulen, die Madâres (Sing. Madrasa) zu schicken.
Diese sind nicht immer aber in vielen Fällen dominiert von einem Lehrpersonal, das dem fundamentalistischen Islam und dem Heiligen Krieg zuneigt. Die Taleban und ihre Freunde suchen dort Einfluss und haben viele der Madâres in den Grenzgebieten und in anderen der aussenliegenden Provinzen sowie sogar einzelne in den Grossstädten selbst gegründet oder unter ihre Kontrolle gebracht. Gelder, die sie aus Saudi Arabien erhalten, wo ebenfalls ein fundamentalistisches Islamverständnis vorherrscht, helfen ihnen dabei.
Der Mittelstand in der Klemme
Zwischen den oben erwähnten Eliten und den bitter armen, riesigen Volksmassen gibt es einen fragilen Mittelstand, ebenfalls englisch erzogen und ausgebildet. Dieser Mittelstand gerät nun als erster ins Visier der Islamisten.Die Leute des Mittelstandes führen ihr Leben und üben ihre Berufe im täglichem Kontakt mit der Bevölkerung aus. Mit ihr gelangen sie unter den Druck der islamistischen Terroristen, sobald sie es wagen, gegen sie aufzutreten. Heute ist es so weit, dass nur noch wenige das Risiko eines öffentlichen Widerspruchs eingehen.
Im Islam selbst gibt es Tendenzen, die den Fundamentalisten und ihrem übermässig vereinfachten Islamverständnis entgegenstehen. In Pakistan sind die wichtigsten davon jene der Mystiker Orden, der Sufi. Gerade im Indischen und später im pakistanischen Islam waren die Sufi Orden ausserordentlich weit verbreitet und oft tonangebend. Doch sie sind heute zu Zielen der pakistanischen Taleban geworden. Bombenanschläge gegen ihre Schreine werden verübt und haben öfters zu grossen Blutopfern geführt, weil sich sehr viele Menschen an Festtagen dort versammeln.
Der Armee und den Sicherheitskräften würde die Aufgabe zu, diese Schreine zu beschützen. Gelingt den Taleban trotzdem ein Anschlag, fragt sich die Bevölkerung: „Warum kann unsere grosse und teure Armee uns nicht schützen? Wäre dies nicht ihre erste Aufgabe?"
Die Terroristen in Wartestellung
Die Terroristen gehen drauf aus, das Vertrauen der unteren Bevölkerungsschichten in die Armee und die Regierung zu erschüttern. Sie wissen, wenn die Bevölkerung erfährt, dass der heutige Staat sie nicht schützen kann, wird sie sich wohl oder übel, ob sie dies gerne tut oder nicht, ihnen und ihrer überlegenen Macht anschliessen, genauer gesagt unterwerfen; einfach um mit dem Leben davonzukommen und ein Minimum an Sicherheit zu geniesssen.
Heute ist es soweit, dass die pakistanischen Taleban glauben, ihren Sieg vor Augen zu haben. Über kurz oder lang werden die Amerikaner aus Afghanistan abziehen und der pakistanischen Armee die Gelder weitgehend wenn nicht völlig entziehen. Dann kommt ihre Stunde. Sie müssen bis dann nur durchhalten und gelegentlich Bomben hochgehen lassen.