Als am 22. November letzten Jahres Frankreichs Verkehrsminister Frédéric Cuvillier in Toulouse über den TGV-Zeitplan orientierte, hatten sich auch in der Metropole des europäischen Flugzeugbaus die namhaftesten Persönlichkeiten versammelt. Zwar soll die ersehnte Hochgeschwindigkeitslinie die viertgrösste Stadt des Landes erst im Jahr 2024 erreichen, doch ergibt sich aus den rund 550 km Distanz ab Tours via Bordeaux ein beachtliches Realisierungstempo.
An ein Hochgeschwindigkeitsnetz hat in Frankreich ursprünglich niemand gedacht. Durch die langwierige Behebung der massiven Kriegsschäden bei rasch wachsender Strassenkonkurrenz in eine existenzielle Krise gedrängt, befasste sich die Staatsbahn mehr mit Streckenstilllegungen als mit Innovationen. Ab 1967 indessen plante sie zur Entlastung ihrer ligne impériale via Dijon eine direkte, 87 km kürzere Linie von Paris nach Lyon über die Höhen des Morvan statt Flüssen entlang. Mit Steigungen von 35 statt 8 Promille, die Tunnel erübrigten und die Zahl der Brücken und Viadukte tief hielten, sollte diese ausschliesslich dem schnellen Reiseverkehr dienen.
300 km/h, drei Stunden
1972 absolvierte ein bereits TGV-ähnlicher Triebzug südlich von Bordeaux Probefahrten mit 300 km/h. Helikopterturbinen sollten die Elektrifizierung der neuen Strecke ersparen. Nach der Ölkrise von 1973 in diesem Punkt korrigiert, erlebte die ligne à grande vitesse im Herbst 1981 ihre vielbeachtete Premiere. Die Nachfrage übertraf die Erwartungen. Auf einen Schlag war die Bahn in den Kreis der zukunftsfähigen Verkehrsmittel zurückgekehrt. Bis heute erfreut sich der TGV in allen Bevölkerungskreisen Frankreichs grössten Ansehens. Jede Region verlangt ihre Linie, obwohl sich inzwischen selbst Kleinstädte an den Baukosten beteiligen müssen.
Bald rollten TGV über Lyon hinaus bis Grenoble, Marseille und Montpellier. Die zweite neue Strecke entstand 1989/90. Sie dient den wirtschaftlich eher zurückgebliebenen und weit von der Hauptstadt entfernten Gegenden Bretagne, Atlantikküste und Pyrenäen. 1993 folgte der TGV Nord nach London, Brüssel, Amsterdam, Köln, Dortmund und französischen Destinationen, 2007 der TGV Est mit Ziel Strassburg, 2011 der TGV Rhin–Rhône von Dijon nach Belfort. Seit 1994 sind die TGV-Linien durch eine Umfahrungsstrecke für 270 km/h östlich von Paris verbunden. Dank dem TGV Méditerranée werden die 750 km von Paris nach Marseille seit 2001 aufenthaltslos in drei Stunden zurückgelegt.
Der Verzicht auf unkonventionelle Systeme ermöglicht es, fast das ganze Land von Hochgeschwindigkeitszügen profitieren zu lassen. Von den Neubaustrecken schwärmen die TGV in Verästelungen aus, wenn die Linien elektrifiziert sind. Ausserdem werden Städte in Spanien, Deutschland, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Schweiz bedient. Der Rollmaterialbestand von nicht einmal 500 je 200 m (TGV Atlantique 240 m) langen Triebzügen bei Angeboten von einmal täglich bis zum Halbstundentakt illustriert das Rationalisierungspotenzial der grande vitesse.
Drei Jahrzehnte nach der Halbierung der Fahrzeit zwischen Paris und Lyon sind weite Teile Frankreichs weniger als drei Stunden von der Hauptstadt entfernt. Inlandflüge lohnen sich kaum noch. Jede TGV-Strecke wurde in rund fünf Jahren gebaut. Die obligatorische Platzreservierung bringt mittlere Auslastungen von fast 80 (SBB 30) Prozent. Die nachfrageabhängige Tarifierung erlaubt, zeitliche Flexibilität vorausgesetzt, allen Bevölkerungsschichten gelegentlich längere Reisen. Als Motor der Entwicklung zieht der TGV den Regionalverkehr nach sich, der, modernisiert, seit einigen Jahren ausser in entvölkerten Gebieten hohe Zuwachsraten verzeichnet.
"Direttissima", alta velocità
In Italien begannen 1970 die Bauarbeiten für eine neue Linie von Rom nach Florenz, die, erschwert durch lange Tunnel und gewaltige Viadukte, bis 1991 dauerten. Dem Vierspurausbau der kurvenreichen alten Strecke wurde eine "Direttissima" vorgezogen. Die noch auf 250 km/h limitierte Höchstgeschwindigkeit dieser Linie soll nach dem Umbau des Stromsystems auf mindestens 300 km/h steigen.
Obwohl zwischen Florenz und Bologna erst 1934 die 18,5 km lange Grande Galleria dell'Appennino (mit zwei Überholungsgleisen in der Mitte, die im Gotthardbasistunnel fehlen) eingeweiht worden ist, hat Italien von 1996 bis 2009 zwischen diesen beiden Städten zusätzlich eine Hochgeschwindigkeitsstrecke gebaut. Weitere solche Linien für 360 km/h entstanden in ausserordentlich kurzer Zeit von Bologna nach Mailand und von Rom über Neapel bis Salerno. Vollendet ist zudem die Schnellverbindung Turin–Mailand und im Bau die neue Strecke Venedig–Mailand sowie eine Linie ab Genua. Der Erfolg der alta velocità verbessert, als Vorbild, erkennbar den Regionalverkehr.
Spanische Grandezza
Spanien ersetzt in bemerkenswert kurzer Zeit weitsichtig einen erheblichen Teil seines Breitspurbahnnetzes durch die europäische Normalspur für Geschwindigkeiten bis 350 km/h. Darin hat sich das Land auch durch die harte Wirtschaftskrise und den folgenschweren Bedienungsfehler eines Lokomotivführers mit vielen Unfallopfern nicht beirren lassen. Ein- und zweistöckige TGV-Einheiten beider Bahnen verkehren zwischen Madrid und Marseille sowie Barcelona und Paris, Lyon und Toulouse.
Umstritten war die Reihenfolge der ersten Realisierungen. Priorisiert wurde die Strecke Madrid–Sevilla für die Weltausstellung 1992 und zur Förderung Andalusiens vor der Verbindung Madrid–Barcelona mit ihrem grösseren Potenzial. In alle Himmelsrichtungen Spaniens vorstossend werden teure Übergangslösungen in Kauf genommen. Bahnhöfe mit anfänglich sehr wenig Zügen frappieren durch ihre elegante Grosszügigkeit.
Neubaustrecken auf der Insel
Im Vereinigten Königreich hat der rigide Sparkurs der konservativen Regierungen Margaret Thatchers und John Majors in den achtziger und neunziger Jahren die Modernisierung von British Rail verzögert. Die missglückte Privatisierung der Infrastruktur brachte weiteren Zeitverlust. Ihre beschränkten Mittel optimal einsetzend beschaffte die Bahn ab den siebziger Jahren 95 zehnteilige Dieselkompositionen IC 125 mit Triebköpfen an beiden Enden für 200 km/h.
Der Ablösung dieser heute noch komfortablen, aber bald 40-jährigen Züge gehen Elektrifizierungen der Great Western Main Line von London nach Bristol und Süd-Wales und bei Manchester voraus. Gemäss dem Vorbild der Pariser RER-Linie A entsteht unter London mit Kosten von 22 Mrd. Fr. für den S-Bahn-Verkehr die West–Ost-Linie Crossrail. Zudem hat der beträchtliche Nachfragezuwachs (stärker als bei allen anderen europäischen Bahnen) seit der Privatisierung des Bahnbetriebs die liberal-konservative Regierung zur Planung einer zweiten Hochgeschwindigkeitslinie veranlasst, die London mit den Midlands und Schottland verbinden soll.
Und die "beste Bahn Europas"?
Die Schweiz bohrt, ohne echte Koordination mit Italien, drei enorm teure Basistunnel für den Nord–Süd-Verkehr, von denen zwei die südlichen Nachbarn nicht wirklich interessieren. Gegen Westen funktionieren drei Hochgeschwindigkeitsanschlüsse, im Falle Genfs allerdings mit sehr wenig Kapazität. Ostwärts sucht man für den ausgebauten Anschluss Hochgeschwindigkeitslinien vergeblich.
Den neuen Doppelstockzügen im Inland liege – über schnellere Kurvenfahrten hinaus – nicht eine konzeptionelle Idee zugrunde, schrieb Redaktor Paul Schneeberger in der NZZ. Strukturelle Veränderungen auf dem SBB-Netz basierten nicht auf nationalen Grundkonzeptionen, wie dies bei der Einführung des Taktfahrplans 1982 der Fall war oder auch noch bei der Umsetzung der ersten Etappe von Bahn 2000 vor neun Jahren.
Die Ausbau- und Finanzierungsvorlage Fabi des Bundes braucht von den Stimmberechtigten am 9. Februar gleichwohl nicht unbedingt verworfen zu werden. Es genügt, Fabi (ganz) anders zu realisieren als dem Volk versprochen – wie schon die Bahn 2000.