Dies ist die Geschichte des Schiffshebewerks von Arzviller am Rhein-Marne-Kanal, einer fast vergessenen faszinierenden Ingenieurleistung
Kaum hatte ich in der ersten Klasse im ehemaligen Zürichstrasse-Schulhaus in Küsnacht bei Fräulein Frey – notabene zusammen mit weiteren 51 Buben und Mädchen, das waren noch Zeiten! – das Lesen einigermassen im Griff, entdeckte ich die Welt der Bücher. Ich kann es nachträglich kaum glauben, aber es müssen mehrere hundert Seiten gewesen sein, welche ich pro Woche in mich hineinsog wie ein Süchtiger, zuerst die üblichen Kinderbücher, Turnachkinder und Winnetou wahllos gemischt, ein paar Jahre später Bücher aus der Bibliothek meiner Eltern, welche ich im Verstohlenen von den Bücherregalen holte und in den meisten Fällen kaum richtig verstand. Wie geht beispielsweise ein Neunjähriger mit einem Buch über Meister Eckeharts Mystik um? Aber ich las es bis zur letzten Seite, daran erinnere ich mich durchaus.
Den Hunger nach Geschriebenem stillte ich mir hauptsächlich nachts mit Hilfe einer Taschenlampe unter der Bettdecke, denn meine Eltern waren – wie die meisten Eltern jener Generation – überzeugt, dass zu wenig Schlaf die Entwicklung des Kindes empfindlich stören würde. Überhaupt das Bett: Es war das ganz private Reich, der beste Ort zum Lesen, Spielen und Träumen. Weil ich aber zugleich neugierig nach der weiten Welt war, erträumte ich mir – wie wohl viele Kinder bis heute – ein Bett auf Rädern, ein Bettauto also, welches die Entdeckung der Welt mit der Geborgenheit im ganz privaten Lebensraum zu kombinieren erlaubte.
900 Tonnen Badewanne
Zum Träumen gab es nur noch einen besseren Ort, die Badewanne, zumindest so lange das Wasser noch warm war. Und so entwickelte sich folgerichtig das Bettauto weiter zur Badewanne auf Rädern. (Findige Psychologen werden hier wohl einen Zusammenhang mit meiner Faszination herstellen, im eigenen Schiff durch Europa zu fahren! Und tatsächlich: Auf der Solveig gibt es eine Badewanne, allerdings nur eine kleine Sitzwanne...)
Nun, ich habe sie gefunden, die Badewanne auf Rädern, auf der Fahrt von der lothringischen Hochebene ins Rheintal hinunter. Sie übertrifft punkto Grösse nicht nur unsere Sitzwanne auf der Solveig, sondern überhaupt jede Badewanne, welche ich mir in einem noch so luxuriösen Palast vorzustellen vermag. Die Badewanne, welche ich meine, ist rund 40 Meter lang, 5 Meter breit und 3 Meter tief und wiegt in gefülltem Zustand rund 900 Tonnen. Sie bewegt sich seitwärts auf einer schiefen Ebene mit einem Gefälle von 41% und überwindet dabei eine vertikale Distanz von knapp 45 Meter.
Schiffe imn Trog
Die Rede ist vom Schiffshebewerk von Arzviller, vom „plan incliné de Saint-Louis-Arzviller“, wie dessen offizieller Name lautet. Das Hebewerk ging 1969 in Betrieb und ersetzte damals 17 je 2,6 Meter hohe Schleusen des 1853 eröffneten Rhein-Marne Kanals, welcher Paris mit Strasbourg verbindet. Zwei Tunnels leiten den Kanal östlich von Sarrebourg durch die Vogesen zum engen Tal des Teigelbachs, welcher in Luetzelbourg in die Zorn (la Zorn) mündet. Bis nach Saverne (elsässisch Závere genannt) mussten die damaligen Kanalbauer eine Höhendifferenz von rund 80 Meter überwinden, eine nicht ganz einfache Sache im engen Tal. So begann der Abstieg über die erste Hälfte des Höhenunterschieds mit einem Kanalabschnitt entlang der linken Talflanke, auf dem sich eng hintereinander 17 Schleusen folgten. Zum Teil waren die Kanalstücke zwischen den Schleusen kaum länger als die Schleusen selber, was bei Kreuzungen mit entgegenkommenden Schiffen für die Steuerleute der 40 Meter langen Lastkähne der Freycinet Norm [1] enorm heikle und zeitraubende Manöver bedeutete und die Kapazität des Kanals einschränkte. Auch bei einem 14-Stundentag brauchten die Schiffe für dieses nur 4 Kilometer lange Stück einen vollen Tag.
In andern Fällen wurden im französischen Kanalnetz Kapazitätsengpässe durch Doppelschleusen, d.h. durch den Bau von parallel angeordneten zweiten Schleusen behoben, doch dazu gab es im engen Tal einfach keinen Platz. Und zudem hätte auch das Wasser dazu gefehlt. Im Jahre 1962 schrieb man zur Lösung des Problems einen Wettbewerb aus. Unter den vielen Ideen, welche eingereicht worden waren, wurde schliesslich die Idee der schiefen Ebene ausgewählt: Eine Badewanne auf Rädern, welche in etwa die Dimension der Freycinet-Normschleuse (40 mal 5 Meter) aufweist, kann über zwei wasserdichte Tore mit dem oberen bzw. unteren Kanalende verbunden werden. Nachdem die Schiffe vom Kanal in den Trog eingefahren sind, werden die beiden Tore geschlossen; das eine dient zur Abdichtung des Kanalstumpfs, das andere zur Abdichtung der Badewanne. Wenn die Badewanne, welche wie eine Seilbahn mit entsprechenden Gegengewichten verbunden ist, die Tal- bzw. Bergstation erreicht, öffnen sich am entgegengesetzten Ende der Badewanne wiederum zwei Tore zum entsprechend oberen bzw. unteren Kanalende, und die Schiffe können, in der gleichen Richtung, in der sie eingefahren sind, den Trog am andern Ende wieder verlassen.
Archimedisches Gesetz
Ein raffiniertes Detail: Indem beim Herunterfahren der Wasserspiegel in der Wanne etwas höher, beim Herauffahren etwas tiefer gewählt wird, ist die Wanne einmal etwas schwerer, im andern Fall etwas leichter als die Gegengewichte, so dass für den Antrieb der ganzen Anlage zwei Elektromotoren von je 120 PS genügen.
Kleiner Zwischenhalt: Sie werden sich vielleicht fragen, ob die Gegengewichte für die leere oder für die mit einem Schiff beladene Wanne berechnet worden sind und, wenn Zweiteres gilt, was über die Beladung des Frachtkahns angenommen worden sei? – Zum Glück gab es vor langer Zeit einen griechischen Gelehrten, welcher sich mit dem Auftrieb von Gegenständen in Flüssigkeiten beschäftigte. So sehr man sich vielleicht in der Schule über das archimedische Gesetz geärgert haben mag, hier gibt das Gesetz eine verblüffend einfache Antwort: Ob ohne oder mit Schiff, die Badewanne ist bei gleichem Wasserstand immer gleich schwer! Wer weiss noch wieso?
8'000 Tonnen Fracht pro Tag
Mit der Konstruktion der neuen Anlage wurde im Jahre 1964 begonnen. Es ging nicht nur um den Bau der schiefen Ebene. Parallel zur alten Schleusenstrasse, aber auf der andern Talseite, musste ein über 3 Kilometer langes (ebenes!) Kanaltrassee entlang der steilen Talflanke bis zur „Bergstation“ der schiefen Ebene gebaut werden. Das allein war schon eine bautechnische Leistung.
Die Arbeiten dauerten fast fünf Jahre. Im Januar 1969 wurde das Werk für den Schiffsverkehr freigegeben. Die Kapazität des Rhein-Marne Kanals konnte damit auf rund 40 Frachtschiffe pro Tag und Richtung erhöht werden. Beladen würden diese Schiffe insgesamt eine Fracht von 40 mal rund 200 Tonnen, d.h. von rund 8’000 Tonnen transportieren können.
Faszinierende Ingenieurleistung
Ist das aus heutiger Sicht wirklich viel? – Ein einziger moderner Schubverband, wie er heute auf dem Rhein und auf andern Flüssen zum Einsatz kommt, schafft bis 11'000 Tonnen. Tatsächlich kam die grossartige Leistung der damaligen Ingenieure zu spät, denn durch die enorme Leistungssteigerung im Warentransport auf dem Wasser, der Schiene und der Strasse entfaltete sich der Nutzen der neuen Anlage nur noch über sehr kurze Zeit. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts begann der Niedergang der französischen Kanalschifffahrt. Heute transportiert das Hebewerk praktisch nur noch Sportschiffe, aber die Faszination für die Ingenieurleistung für die Badewanne auf Rädern, bleibt ungebrochen, nicht nur bei den träumenden Kindern.
Die Geschichte bedarf noch eines kleinen Nachtrages: Am 3. Juli 2013, als das Ausflugsschiff ‚Paris’ an der oberen Station eben am Einfahren in die Wanne war, löste sich der Bremsmechanismus des Troges. Das Schiff wurde zwischen Kanalende und Wanne eingeklemmt. Glücklicherweise kamen dabei keine Menschen zu Schaden, aber durch die Verschiebung des Trogs bei geöffneten Toren führte dazu, dass der Kanal auszulaufen begann. Das Wasser floss über die schiefe Ebene in den Teigelbach und weiter in die Zorn. Man befürchtete in Luetzelbourg eine Flutwelle und begann das Dorf zu evakuieren.
Sic transit gloria mundi
Die grosse Überschwemmung blieb zwar aus, aber die Befürchtungen waren nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn das Hebewerk ist direkt mit jenem 33 Kilometer langen Kanalstück verbunden, welches die Wasserscheide zwischen dem Rhein und der Moselle bildet. Es enthält rund eine Million Kubikmeter Wasser, etwa so viel, wie im Rhein während 15 bis 20 Minuten durch Basel fliesst.
Das Hebewerk blieb bis zum April des folgenden Jahres ausser Betrieb. Peinlicherweise ereignete sich am 10. Juli 2014, nur gute zwei Monate nach der feierlichen Wiedereröffnung am 30. April 2014, eine neue Panne, in dem ein Teil des Antriebes kaputt ging. Seid August 2015 funktioniert die Anlage nun wieder.
Dass eine insgesamt zweijährige Stilllegung eines Werkes (und damit der durchgehenden Kanalverbindung zwischen Nancy und Strasbourg), welches vor 50 Jahren als unentbehrliche Pionierleistung gefeiert worden war, in der allgemeinen Öffentlichkeit kaum grosse Wellen warf (nur die lokalen Bootsvermieter hatten wirtschaftliche Einbussen zu beklagen) erinnert an den alten Spruch: Sic transit gloria mundi. – Immerhin, der Ruhm der Welt ist wiederauferstanden und unsere Solveig hat sich auf ihrem Weg von der Saône an die Donau darüber gefreut.
[1] Siehe auch: Hommage an Frankreichs Kanalbauer