Als altgedienter Rolling-Stones-Aficionado, der man ist, wartete man etwa drei Jahrzehnte auf ein wirklich kreatives Zeichen der glorreichen Vier. Also auf eine Studio-Produktion – die erste seit „A Bigger Bang“ (2005), immerhin etwas vom Einfallsreicheren. Natürlich stand schon lange die bange Frage im Raum: Können die Rollenden das noch, bleibt ihnen überhaupt Zeit dafür? Zwar sind die Herrschaften noch nicht steinalt. Aber eben doch 70 plus.
Die Studio-Platte ist da, wenngleich ohne eine einzige Eigenkomposition. Enttäuscht sein muss aber niemand. Denn spielt man „Blue & Lonesome“ an, springen einem die Rolling Stones ins Ohr. Schnörkellos, schnittig, frisch. Ganz anders als auf den etlichen sauber, aber etwas seelenlos produzierten Live-Mitschnitten der letzten Jahre von gigantischen Konzertevents.
Haie im Kaulquappenteich
Wobei das auf hohem Niveau gejammert ist: Im gnadenlos umkämpften Rock-Business sind die Stones dank ihrer artistischen Professionalität, dem technischen Perfektionismus, dem Gespür für Marketing und Business das Mass aller Dinge. In ihrer Liga gibt es keinen adäquaten Nachwuchs. Und so kreuzen die Ruhestands-Verweigerer in den Gewässern der Populärkultur so ungestört wie die Haie in einem Teich voller Kaulquappen.
Stones-Live-Gigs sind eine Mixtur aus Superhits und einer Handvoll seltener gespielter Stücke aus der kolossalen Backlist. Dazu kommen originäre Bühnenarchitekturen und multimediale Präsentationen auf höchstem Niveau. Live On Stage läuft ein perfektes Rollenspiel ab: Der unerschütterlich präzise Drummer Charlie Watts (75), der noch immer etwas verschupft herumstehend Gitarrist Ronnie Wood (69). Und das Duo infernale: Keith Richards (73) an der Leadgitarre und der irrwischende Vokalist Mick Jagger (73). Allesamt sind sie peter-pan-hafte Schlawiner, die den Planeten rocken und rollen, als gäbe es kein Morgen, keine Endlichkeit.
Beste Coverband ihrer selbst
Mittlerweile hüpft im Publikum die Enkelgeneration mit, weil die rastlosen Stones ein todsicheres Gespür dafür haben, was auch bei einer jungen Generation angesagt ist. Sie kennen sich eben aus: Urgrossvater Mick Jagger ist im Dezember 2016 noch einmal Papa geworden. Und Ronnie Wood im Mai 2016 Vater von Zwillingstöchtern.
Und es ist auch noch genug Pepp da, um an der Zeitgeschichte mitzuschreiben. Im März 2016 traten die Steine erstmals in Havanna auf Kuba auf. Eine Sensation, denn seit der Machtübernahme des unlängst dahingeschiedenen sozialistischen Revolutionärs Fidel Castro 1959 waren Massenveranstaltungen mit Stars aus dem kapitalistischen Westen tabu. Geschätzte 450‘000 verzückte Zuschauer strömten zum Free Concert. Ein Zückerchen für eine Combo, die da und dort hämisch nur noch als bestmögliche Coverband ihrer selbst betrachtet wird.
Ätsch, wir sind immer noch da, aber wo seid ihr?
Eine Formation mit dem Ehrentitel „The Greatest Rock Rock 'n' Roll Band in the World“ muss natürlich vorwärts schauen. Und das ikonische Logo der Band, die herausgestreckte Zunge – vom englischen Grafiker John Pasche 1970 kreiert und angeblich für läppische 50 Pfund an die Band verkauft – verpflichtet. Auch heute noch, wo es ausdrückt: „Ätsch, wir sind immer noch da, aber wo seid ihr?“ Und damit das so bleibt, muss immer wieder etwas Unerwartetes kommen.
Wie jetzt das Album „Blue & Lonesome“. Entstanden ist es aus einer Wohlfühl-Laune heraus im Dezember 2015. Nach Tour-Stress fanden die Stones wieder mal Zeit für eine Jamsession: In den British Grove Studios in London – sie gehören dem Berufskollegen Mark Knopfler (Dire Straits) – wollte man sich über neue Songideen austauschen.
Kreativer Schnellschuss
Wie üblich startete man mit einer Aufwärmrunde mit etwas Blues. Das liess sich so gut an, dass die Neben- zur Hauptsache wurde. Basisdemokratisch, ein Begriff der im Rolling-Stones-Konzern-Vokabular ansonsten nicht existiert – wählte man Songs und trennte dann die Spreu vom Weizen. Nach einem Tag waren fünf Tracks im Kasten, nach drei das Dutzend, das auf „Blue & Lonesome“ zu hören ist.
Schnellschüsse kennt man von forschen juvenilen Garagen-Bands, von den Rolling Stones eher nicht. Zumal Rudelführer Mick Jagger im Ruf steht, an fast allem herumzumäkeln. Was er dieses Mal offensichtlich nicht tat. Also wurde „Blue & Lonesome“ von den Glimmer Twins (seit den 1970er-Jahren eines der Pseudonyme für das Gespann Jagger/Richards) und Don Was (64) produziert. Der Amerikaner gehört seit 1994 zum engeren Mitarbeiterstab der Band, war an Studio- und Live-Alben ebenso beteiligt wie an der Restaurierung des Meisterwerks „Exile on Main Street“ von 1972.
Mit den Stones im Studio war auch der farbige Amerikaner Daryl Jones am Bass, der seit 1993 fast überall dabei ist. Dazu gesellten sich die Keyboarder Chuck Leavell und Matt Clifford. Und als Gäste der legendäre Perkussionist Jim Keltner und der „Gottvater“ des weissen Blues, Eric „Slowhand“ Clapton (71).
Fremdes Territorium
Eine Bluesband waren die Rolling Stones nie – sie sind im kantigeren Rhythm and Blues, im Rock und sogar Pop-Bereich daheim. So stellt sich die Frage: Warum jetzt astreiner US-Blues, warum Cover-Versionen? Aus kommerziellen Überlegungen sicher nicht. Denn dann hätte man eine Ohrwurm-Kollektion mit Genre-Standards eingespielt. Dem ist aber nicht so. Es handelt sich fast ausnahmslos um weniger populäres Material, allerdings von renommierten Komponisten.
Etwas Ähnliches hat auch der diesjährige Literatur-Nobelpreisträger Bob Dylan getan: 2015 bestückte er sein bezauberndes Album „Shadow in the Night“ mit Raritäten aus der Great-American-Songbook- und Crooner-Schatulle der 1940er- bis 1960er-Jahre. Alles Titel, die Frank Sinatra in seinem Repertoire hatte. Dylan erweist so der zeitlos anmutigen Song-Lyrik Reverenz. Und dem unerreichten Interpreten Sinatra, den er verehrt.
Blick zurück nach vorn
Auch die Rolling Stones blicken zurück – in die späten 1950er- und die 1960er-Jahre. Als Teenager und junge Männer faszinierte sie die schlichte, anarchische Erzähl-Magie der älteren, reiferen US-Blues-Pioniere. Etwa von Muddy Waters (1913-1983), dessen Song „Rollin’ Stone“ der Anstoss zum Bandnamen The Rolling Stones war.
Das musikalische Fundament des rotzfrechen, anarchischen, elektrisierenden Rolling-Stones-Stils wurzelt also auf dem Schaffen einer Generation von afroamerikanischen Blues-Virtuosen, die in ihrer Heimat aus rassistischen Gründen bis in die 1970er-Jahre hinein diskriminiert, ausgegrenzt und vom allmächtigen weissen Musik-Establishment oft ausgebeutet wurde.
Schon auf dem Debütalbum „The Rolling Stones“ (1964) finden sich Kompositionen von Chuck Berry, Rufus Thomas, Willie Dixon oder Jimmy Reed. Allerdings transponierten die vifen Zauberlehrlinge aus Britannien die oft schwerblütigen, akustisch gespielten Lieder in den elektrisierenden Sound, der sie berühmt gemacht hat. Und der sich vom hippen Londoner Kultur-Schmelztiegel aus flächenbrandartig ausbreitete und so die Populärmusik-Szene neu definierte.
Unstrittig, dass das zu einer interessanten Entwicklung führte: Die Rolling Stones und andere Rock- und Pop-Grössen machten den US-Blues in Europa bekannt, verschafften ihren Exponenten Auftrittsmöglichkeiten und damit die Anerkennung, die sie verdienten. Mag sein, dass dieser Aspekt mit ein Grund ist, warum sich die Stones auf „Blue & Lonesome“ auf das Feld des Hard-Core-Blues wagen.
Lebens- und Überlebens-Droge
Sie huldigen der „Droge Blues“ als Lebens- und Überlebenselixier, dem Werk von Komponisten wie Little Walter, Jimmie Reed, Willie Dixon, Eddie Taylor, Memphis Slim oder Howlin' Wolf (von denen keiner mehr am Leben ist). Doch dabei geht es nicht um Nostalgie. Eher um die distanzierte Rückbesinnung auf die eigene Aufbruchsstimmung fern vom Gigantismus des Starkults – ausgelöst von einer Volksmusik, deren zeitlos-sinnliche Ausstrahlung unbestritten ist. Wer sonst als die Stones wäre berufen, sich diesem Phänomen augenzwinkernd, mit selbstironischer, altspitzbübischer Verspieltheit zu widmen?
„Blue & Lonesome“ ist ein Album mit überwiegend kurzen Tracks, wie früher – aus Platzgründen – auf Single-Schallplatten. Da ist kein Raum für episches Gedudel, Firlefanz und Schubidu. Es geht subito voll zur Sache. Die Gitarrensoli von Ronnie Wood und Keith Richards sind kurz, messerscharf. Die Rhythmus-Sektion mit Darryl Jones am Bass und dem unverzichtbaren Drummer Charlie Watts sorgt für die Konturen. Und ein paar Keyboard-Vignetten setzen gediegene Klangtupfer.
Mick Jagger, ganz anders
Und was macht Mick Jagger, die Rampensau? Er nimmt sich Freiheiten, denn wer wollte sie ihm verbieten. Doch im akustisch spürbaren Studio-Klub-Ambiente ist Herumkaspern nicht angesagt. Dafür zeigt der Frontmann, was er alles kann. Bestens bei Stimme stürzt er sich lustvoll auf die Blues-Poesie. Und weil er nicht zum x-tausendsten Mal seinen Goldesel-Hits wie „(I Can't Get No) Satisfaction“ die letzten Tropfen Plausibilität entreissen muss, interpretiert er hier die Songs intuitiv spontan. Er gurrt, schnurrt, jauchzt, jault, gospelt, predigt, spricht schier in Zungen. So hat man ihn selten gehört – oder überhaupt noch nie.
Das ist randvoll mit herbem Charme, denn der lebensgestählte Jagger weiss, wovon er singt. Schliesslich geht es um Versagensängste, Liebestorturen, sexuelle Frustrationen. In knappen Versen verpackt, immer eindeutig zweideutig. Das ist des Pudels Kern des Blues: Es muss porentief menschelen, gerne unter der Gürtellinie.
Erstmals greift Jagger nicht zur Gitarre. Dafür spielt er mit fast überbordendem Enthusiasmus Mundharmonika; so entfesselt, wie er es im dramaturgischen Live-Ablaufkonzept nicht kann. Den Album-Schlusspunkt setzt übrigens die aphrodisierende Willie-Dixon-Komposition „I Can’t Quit You Baby“, die Led Zeppelin zu einem rockigen Millionenhit gecovert haben. Die Rolling Stones schalten ein paar Gänge zurück und orientieren sich – wie bei allen Nummern – an der Originalversion. Das hat mit Respekt zu tun, wie die Tatsache, dass der kongeniale Keith Richards den Lead-Gitarrenpart dem Kollegen Eric Clapton überlässt. Ehre wem Ehre gebührt.
Schwanengesang oder Aufbruch?
Wer befürchtet hatte, die Stones‘sche Hommage an den Blues sei der Schwanengesang einer verrunzelten Mammut-Band, erkennt: Das war‘s noch nicht. Zumal Jagger wie Richards bestätigen, dass die „Mission Studioalbum“ mit eigenen Titeln weitergeht. Und weil Klappern zum Show-Business gehört, darf man unterstellen, dass das Projekt schon weit gediehen ist.
Auch der Aktionismus der Gruppe in letzter Zeit beweist, dass das Feuer noch lodert. Also: Mindestens eine Welt-Tour muss doch noch drin liegen, denn das 55-Jahr-Bandjubiläum rückt näher; eine gute Gelegenheit, es nochmals allen zu zeigen. Mit ein paar neuen Stones-Hammersongs auf der Set-List.
Mit Gottes Segen, Sympathie für den Teufel, etwas Voodoo-Würze müsste das klappen. Bis dahin gilt weiterhin das Motto „It's Only Rock 'n‘ Roll (But I Like It)“. Besonders weil jetzt klar ist, dass die Stones auch wahren Blues können: „Blue & Lonesome“.