Anfang der Woche war es Konkurrent Bernie Sanders, der Joe Biden seiner Unterstützung versicherte. «Wir brauchen dich im Weissen Haus», teilte der Senator per Video aus dem dürftig ausgeleuchteten Keller seines Hauses in Burlington (Vermont) mit: «Ich werde alles tun, was ich kann, um das wahr werden zu lassen, Joe.»
Einen Tag später war Bidens einstiger Chef, Barack Obama, an der Reihe. Ebenfalls per Video, nur viel professioneller produziert als Sanders’ «Geiselvideo», liess der Ex-Präsident die Nation wissen, dass Joe Biden als demokratischer Präsidentschaftskandidat seine volle Unterstützung geniesse. «Joe als meinen Vizepräsidenten auszuwählen, war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe», sagte Obama: «Und ich glaube, Joe hat alle nötigen Qualitäten, die ein Präsident heute braucht.»
Es war ein subtiler Seitenhieb an die Adresse von Donald Trump, den er aber nicht beim Namen nannte, und sein souveräner Auftritt stand in starkem Kontrast zu den inzwischen täglichen, langatmigen Medienkonferenzen seines Nachfolgers im Weissen Haus. Hier Barack Obama, empathisch, präzis und überlegt, dort Donald Trump, ausschweifend, verwirrend und selbstverliebt.
Mitte Woche dann reihte sich noch Ex-Konkurrentin Elizabeth Warren kurz, aber prägnant in die Reihe der Unterstützer Joe Bidens ein. In einem zweieinhalbminütigen Video erwähnte die Senatorin aus Massachusetts die bescheidene Herkunft des früheren Vizepräsidenten und die persönlichen Tragödien, die er erlebt hatte: «Diese Erfahrungen nähren die Empathie, die er gegenüber Amerikanern jedweder Herkunft empfindet, die kämpfen müssen. Empathie ist wichtig.» In Zeiten der Krise, so Warren, sei es wichtig, dass der nächste Präsident das Vertrauen der Amerikaner in gutes und effizientes Regieren stärke: «Wir können es uns nicht leisten, Donald Trump die Leben und die Existenzen eines jeden Amerikaners noch länger gefährden zu lassen.»
Nach einem erbitterten Vorwahlkampf mit ursprünglich 28 Kandidaten lassen die drei prominenten Wahlempfehlungen im demokratischen Lager erneut Hoffnungen aufkeimen, der Urnengang vom 3. November 2020 sei allen düsteren Prognosen zum Trotz noch keine sichere Sache für die Republikaner. Prominente Demokraten, die sich 2016 frustriert von Hillary Clinton abgewandt haben, sprechen sich heute, wenn auch widerstrebend, für Joe Biden aus. «Demokraten betrachten die Präsidentenwahl mit einem neuen Gefühl: Optimismus», titelt die «Washington Post».
So weit, so gut, wäre da nicht der Vorwurf einer früheren Assistentin Joe Bidens, der Senator habe sie in den frühen 1990er Jahren sexuell belästigt. Der Nachrichtenagentur AP teilte Tara Reade mit, zur Belästigung sei es im Frühling 1993 im Keller eines Bürogebäudes auf dem Capitol Hill in Washington DC gekommen. Biden habe sie gegen eine Wand gedrückt, sie begrapscht und sei mit seinen Fingern in sie eingedrungen: «Er flüsterte mir ins Ohr und versuchte gleichzeitig mich zu küssen und sagte: ‘Willst du woanders hingehen’?»
Die heute 56-Jährige hatte Biden bereits im vergangenen Jahr vorgeworfen, sie unanständig berührt zu haben, aber noch nicht von sexueller Belästigung gesprochen. Die Kommunikationsbeauftragte des Kandidaten wies die Vorwürfe der früheren Mitarbeiterin diese Woche umgehend zurück: «Was klar auf diese Behauptung zutrifft: Sie ist unwahr. Das ist klar nie so passiert.»
Tara Reade dagegen argumentiert, sie habe mit vier Leuten über den Vorfall gesprochen, unter denen heute zwei bestätigen, damals mit ihr geredet zu haben (eine dritte Person weigerte sich, mit AP zu sprechen, eine vierte ist seither gestorben). Fünf damalige Mitarbeitende des Senators sagen heute, sie hätten nichts von einem derartigen Vorfall gehört oder erfahren. Solches Verhalten würde auch nicht zu Biden passen.
Noch ist offen, ob und wie sehr allenfalls Tara Reades Anschuldigungen Joe Biden im Wahlkampf, dem ersten Rennen in Zeiten von #MeToo, schaden werden. Auf jeden Fall sind Amerikanerinnen für die Demokraten ein wichtiges Wählersegment und Verluste hier könnten Joe Bidens Wahlchancen im Herbst empfindlich schmälern.
Gleichzeitig dürfte es Donald Trump, dem selbst wiederholt sexuelle Belästigung vorgeworfen worden ist, schwerfallen, sich im Vergleich zu «Sleepy Joe» als Tugendbold zu profilieren. Auch so aber dürfte es etlichen Wählerinnen schwerfallen, sich an der Urne für «das geringere von zwei Übeln», das heisst zwischen zwei älteren, weissen Männern entscheiden zu müssen, denen beiden sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird.
Derweil werfen Kritiker Joe Bidens den Medien vor, Tara Reades Vorwürfe zu lange unterdrückt oder verharmlost zu haben. So habe die «New York Times» 2018 im Fall von Richter Brett Kavanaugh, dem Kandidaten für Amerikas Obersten Gerichtshof, umgehend und aufgrund eines anonymen Briefes über Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung berichtet. Im Fall Tara Reades aber habe sich das Blatt trotz einer besseren Quellenlage ungebührlich viel Zeit gelassen. Dies sogar absichtlich, wie Anhänger von Bernie Sanders spekulieren, um Joe Biden nicht zu schaden.
Die «Times» hatte am vergangenen Wochenende eine Analyse des Vorfalls veröffentlicht, die zum Schluss kommt, sie habe «kein Muster sexuellen Fehlverhalten von Mr. Biden» feststellen können. Die Beachtung des Artikels dürfte sich angesichts der Flut von Beiträgen über die Corona-Pandemie in Grenzen gehalten haben.