Von Fred Henneberger
Am 24. November 2013 stimmen Volk und Stände über die eidgenössische Initiative „1:12 – Für gerechte Löhne“ ab. Diese verlangt, dass in einem Unternehmen der höchste bezahlte Lohn das Zwölffache des tiefsten Lohns nicht übersteigen darf. Als Lohn gilt die Summe aller Zuwendungen (Geld und Wert der Sach- und Dienstleistungen), welche im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit entrichtet werden (Art. 110a (neu) Bundesverfassung).
Während der Bundesrat keine konkrete Aussage über die Auswirkungen der Initiative auf die Steuereinnahmen und die Beiträge zur AHV formulieren möchte, errechnet eine vom Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) bei der Universität St. Gallen und der Beratungsfirma swiss economics in Auftrag gegebene Studie im günstigsten (schlechtesten) Szenario jährliche Einnahmenverluste bei der direkten Bundessteuer von 150 Millionen (1,64 Milliarden) Franken, wobei die AHV-Beiträge konstant bleiben (um 2,55 Milliarden Franken pro Jahr sinken) würden. Hierbei wird eine Lohnobergrenze von 750.000- bzw. von 500.000.- Franken pro Jahr angenommen. Wird die eingesparte Lohnsumme nach unten umverteilt, taucht aufgrund der Progression noch immer ein Ausfall im Umfang von bis zu 520 bzw. 560 Millionen Franken bei der direkten Bundessteuer auf, wohingegen die AHV keine Beitragsverluste hinzunehmen hätte. Im „plausiblen“ Szenario, bei welchem fünf Prozent der Unternehmen und zehn Prozent der Arbeitsplätze ins Ausland abwandern würden, sei hingegen mit Ausfällen von bis zu vier Milliarden Franken (rund 1,5 Milliarden Franken bei der direkten Bundessteuer und bis zu rund 2,5 Milliarden Franken bei der AHV) zu rechnen. Unterstellt bei dieser Berechnung ist eine Lohnobergrenze von 500.000.- Franken pro Jahr sowie im Worst Case Szenario eine Stauchung der gesamten Lohnverteilung unterhalb der Lohnobergrenze und die unrealistische Annahme, dass die eingesparten Mittel verloren gehen würden bzw. unproduktiv im Unternehmen eingesetzt werden würden.
Unsicherheitsfaktoren
Der Verein „Denknetz“ wiederum beziffert den Gesamteffekt für die öffentlichen Haushalte (Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen) je nach Szenario auf zwischen minus 30 und plus 50 Millionen Franken. Hierbei wird von einem Maximallohn von 750.000.- bzw. von einer Million Franken pro Jahr ausgegangen. Eine unabhängige Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) schliesslich kommt zu Einbussen bei der 1. Säule in Höhe von 125 Millionen Franken, wenn die im obersten Bereich der Lohnpyramide freiwerdende Lohnsumme in keiner Form der AHV zu Gute kommen würde. Hierbei wird eine Lohnobergrenze von 664.000.- Franken pro Jahr angenommen.
Die Bandbreite der Auswirkungen bei verschiedenen Ansätzen, Hypothesen, verwendeten Datensätzen und Szenarien ist also gewaltig. Wegen zu vieler Unsicherheitsfaktoren auch im Hinblick auf die politische und rechtliche Umsetzung der Initiative und die Reaktionen der Unternehmen sind diese bei objektiver Betrachtung nicht hinreichend solide prognostizierbar, sondern bleiben im hoch spekulativen Bereich. Dennoch kann die Plausibilitätsfrage verschiedener hypothetischer Reaktionen gestellt werden:
Sollten Grosskonzerne tatsächlich zahlreich ihren Sitz oder Teile der Gesellschaft ins Ausland verlegen, sind verschiedene negative Szenarien der Studie der Universität St. Gallen und der Beratungsfirma swiss economics nicht unwahrscheinlich. Aber wie glaubwürdig ist die bei jeder die Kapitalseite betreffende Regulierung stereotyp zu vernehmende Drohung einer Verlagerung ins Ausland wirklich: Tiefe Steuern, eine hervorragende Infrastruktur, hohe Sicherheit und Stabilität, eine privilegierte Wohnqualität und attraktive Umgebung, eine ausgezeichnete Gesundheitsvorsorge sowie gut ausgebildete und leistungsbereite Arbeitskräfte etc. sind nicht an vielen Orten in der Welt vorzufinden. Das Gros der Konzerne ebenso wie ansiedlungsinteressierte Unternehmen werden diese Vorzüge auch in Zukunft zu schätzen wissen. Werden die Löhne einiger weniger von der Initiative betroffener Top-Verdiener gekürzt, erhöht dies zunächst einmal unmittelbar die Gewinne der Unternehmen. Damit steigen direkt die Gewinnsteuereinnahmen des Staates. Um dies zu verhindern, können zusätzliche Investitionen getätigt werden, die wiederum die Beschäftigung und das Wirtschaftswachstum anregen.
Mehreinnahmen dank 1 : 12
Werden die freiwerdenden Gelder in Form von zusätzlichen Dividenden ausgeschüttet, kommt dies einer weit grösseren Zahl von Aktionären und nicht nur ganz wenigen Top-Verdienern zu Gute. Ausländische Aktionäre zahlen darauf Verrechnungssteuern, inländische die Einkommenssteuer. Allerdings unterliegen die Dividenden nicht der Sozialversicherungspflicht.
Werden tatsächlich – was die Initiative bezweckt – die untersten Löhne angehoben, wird das zusätzlich verfügbare Einkommen dieser Personen (fast) vollumfänglich wieder dem Wirtschaftskreislauf zugeführt, denn die Konsumquote der unteren Lohngruppen liegt nahe beim Wert 1. Steigen die Konsumausgaben der privaten Haushalte, die den grössten Teil (57%) des Bruttoinlandproduktes ausmachen, generiert dies zusätzliche Einnahmen bei der Mehrwertsteuer. Ausserdem greifen die Beitragspflicht an alle Sozialversicherungszweige sowie die Progression bei der Einkommenssteuer ebenfalls bei den unteren Lohngruppen. Hinzu kommen aufgrund der gestiegenen Güternachfrage Multiplikatoreffekte beim Volkseinkommen (sog. Sekundäreffekte). Dieser Ansatz prägt die Analysen der Denknetzstudie. Bei einer weiterhin ultra-expansiven Geldmengenpolitik der wichtigen Zentralbanken weltweit (auch der Schweizerischen Nationalbank) wird dies keine (zusätzliche) Inflationsgefahr heraufbeschwören, sondern allenfalls verhindern, dass das „künstlich“ verbilligte (Geld-)Kapital noch mehr als bisher in spekulative Anlagen an den Finanzmärkten denn in produktive Sachanlagen investiert wird.
Während es sich bei der extrem expansiven Geldmengenpolitik um ein gigantisches und vermutlich irreversibles Experiment mit vollkommen offenem Ausgang handelt, liegt bei der eidgenössischen Volksinitiative „1:12 – Für gerechte Löhne“ ein Experiment vor, das – sollten die negativen Auswirkungen tatsächlich überwiegen – durch Abänderung oder Beseitigung des neu in die Bundesverfassung eingefügten Artikels auch wieder von Volk und Ständen rückgängig gemacht werden kann. Dies wird zwar nicht kostenlos sein, ist aber immer noch kostengünstiger als tatsächlich in Kauf zu nehmen, „dass die in den letzten Jahren beobachteten Exzesse zu sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen könnten“ (Botschaft des Bundesrats vom 18. Januar 2012). Mit dem Prinzip Hoffnung auf Seiten des Bundesrats allein, dem Appell an das zeitverstreichende Abwarten über die Wirksamkeit der „Abzocker-Initiative“ seitens verschiedener Journalisten, dem fast geschlossenen Schweigen der Topmanager, der dennoch indirekt kommunizierten wenngleich unglaubwürdigen Drohung diverser (Verbände-)Vertreter mit dem Untergang des Wirtschaftsstandorts Schweiz oder einem „Manifest für eine zukunftsfähige Schweiz“, welches durch seine Einbahnkommunikation die – zumindest dem demokratischen Grundverständnis entsprechende – notwendige Diskussion nicht ersetzen kann und – wie zu erwarten war – auch gar keine Lösung des von anderen erkannten Grundproblems aufzeigt, wird diese Gefahr jedenfalls nicht zu bannen sein.