Eigentlich hatten sich Ägypter nach der Verabschiedung der neuen, islamistisch geprägten Verfassung eine Periode der Ruhe und, vor allem, der wirtschaftlichen Konsolidierung erhofft. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Erneut wird das Land von einer Welle der Gewalt erfasst. Am zweiten Jahrestag der Revolution, am 25.Januar, protestierten Zehntausende gegen den - immerhin demokratisch gewählten Präsidenten. Und einen Tag darauf wurden 21 Menschen in der Suezkanalstadt Port Said zum Tode verurteilt, weil sie ein Jahr zuvor für jene Tragödie verantwortlich gemacht wurden, bei der 74 Fußballfans starben.
Möglicherweise vom alten Regime bezahlte Hooligans hatten beim Spiel von Port Said gegen das Team von Al- Ahli Kairo das Feld gestürmt und auf Al- Ahli- Spieler und Fans eingeschlagen. Die Fluchtwege waren mutwillig, wie viele schon damals behauptete, geschlossen. Auswege aus der Orgie der Gewalt gab es kaum. Die Hintermänner bleiben vorerst im Dunkeln. Al- Ahli Fans jubelten über die ihrer Meinung nach gerechten Todesstrafen. Angehörige der Verurteilten indessen versuchten, das Gefängnis, in welchem die Abgeurteilten einsitzen zu stürmen.
Perspektivenlosigkeit
Hintergrund ist auch, dass sich die Einwohner Port Saids seit langem von Kairo vernachlässigt fühlen. In den diversen Kriegen mit Israel habe die Stadt besonders gelitten, sagen viele, ohne dass wesentliche Aufbauhilfe von der Regierung in Kairo gekommen sei. Zudem habe Mubarak es den Bewohnern der Stadt verübelt, dass auf ihn in Port Said ein Attentat verübt worden sei.
Das Aufbrechen solch alter Ressentiments - berechtigt oder nicht - beweist wieder einmal, wie schwer die diktatorische Hand des Mubarak-Regimes drei Jahrzehnte auf dem Land gelastet hat. Dass nun zwei Jahre nach dem Sturz Mubaraks und seiner Clique immer noch keine Ruhe in Sicht ist, liegt vor allem an der allumfassenden Perspektivlosigkeit, vor der sich die Ägypter sehen. Statt in der Rede, in welcher Mursi vor ein paar Tagen für drei am Suezkanal gelegenen Städte ein nächtliches Ausgangsverbot verkündete, auch auf die Nöte seiner Landsleute einzugehen, sprach Mursi nur von Sicherheitsfragen.
Hohes Ansehen der Armee
Kein Wort darüber, wie er die Wirtschaft reformieren will, kein Wort über langfristige Pläne, die er und seine von der Muslimbruderschaft dominierte Partei für Ägypten haben. Diese Partei trägt den Namen „Freiheit und Gerechtigkeit“. Die Verwirklichung dieser Ziele ist für die meisten Ägypter in weite Ferne gerückt. Vielmehr erleben sie derzeit, wie die in Medien meist zu Unrecht so genannten „Sicherheitskräfte“ ebenso auf die Demonstranten einschlagen, so wie unter dem untergehenden Mubarak-Regime. Diese „Sicherheitskräfte“ sind genau jene, welche vor zwei Jahren ebenfalls auf Demonstranten geschossen haben.
Geändert hat sich also nichts im Lande. Und wie damals steht die Armee Gewehr bei Fuss, ohne auf ihre Landsleute zu schießen. Mursi hat zwar die Armee angewiesen, für die Sicherheit im Lande zu sorgen. Aber die Armee ist sich ihres Ansehens im Volk bewusst. Eine Armee der Muslimbrüder ist sie nicht. „Unsere Armee“ - das ist der Ausdruck, der am meisten von Ägyptern zu hören ist. Fast jede Familie im Land hat ein Mitglied, das einmal in der Armee dienen musste. Die Armee geniesst hohes Ansehen im Land - dieses Ansehen wird sie kaum verspielen wollen, indem sie auf Ägypter schiesst.
Von Demokratie ist wenig zu sehen
Die Frage liegt also auf der Hand, wie sich die Armee in dieser Situation verhalten wird. Schon werden in der Bevölkerung Stimmen laut, die von der Armee verlangen, dem Spuk mit den Muslimbrüdern ein Ende zu machen. Übersehen wird dabei freilich - auch von den Bewunderern der Streitkräfte - , dass unter der Herrschaft der Armee unmittelbar nach dem Fall Mubaraks nicht gerade Verhältnisse herrschten, welche die Wahrung der Menschenrechte näher brachten. Die „Sicherheitskräfte“ schossen weiter, in den Gefängnissen wurde weiter gefoltert.
Ob es realistisch ist, unter den herrschenden Umständen in zwei Monaten Parlamentswahlen zu organisieren, ist derzeit mehr als fraglich. Von Demokratie ist auch nach der Wahl Mursis nicht viel zu sehen. Mursis Anhänger haben im letzten Herbst politische Gegner über Nacht festgehalten und gefoltert. Der Präsident hat die Täter, die aus seinen eigenen Reihen kamen, nicht zur Rechenschaft gezogen. Und: Unbotmäßige Journalisten werden weiterhin verfolgt - intensiver als unter dem Regime Mubaraks, wie viele sagen.
“Schwarzer Block“
Von Revolutionen - das zeigt die Geschichte - ist selten die schnelle Verwirklichung der ihr zu Grunde liegenden Ziele zu erwarten. Diese Erfahrung müssen nun auch die Ägypter machen. Bis jetzt - so argumentieren viele - habe die Revolution nur eines bewirkt: die Auswechselung eines autoritären Regimes durch ein anderes. Schlimmer noch: in der letzten Woche erschien zum ersten Mal ein sich so nennender „Black Bloc“ auf den Straßen - eine Gruppe von schwarz gekleideten Hooligans , welche die Städte unsicher machten. Die Kairoer Presse ist bis jetzt ratlos darüber, wer diese Menschen sind und welche, wenn überhaupt, Ziele sie verfolgen. Die Muslimbrüder beschuldigen den „Black Bloc“ , den Präsidentenpalast in Kairo angegriffen, Niederlassungen der Brüder belagert, Regierungseinrichtungen geplündert, Eisenbahnschienen blockiert und Sicherheitskräfte angegriffen zu haben.
“Gott befiehlt uns, diese Leute zu töten“
Islamistische Parteien wie jene des „Jihad Islami“ (Islamischer Heiliger Krieg) und die „Jamaa al-Islamiya“ (Islamische Gruppe) - beide nach dem Sturz Mubaraks plötzlich aus der politischen Versenkung aufgetaucht - forderten umgehend, diese Leute müssten nach den Vorschriften des Korans behandelt, also getötet werden. „Gott befielt uns“, sagte ein Mufti von Jamaa al-Islamiya, „jene zu töten, zu kreuzigen, oder ihnen Hände und Füsse abzuhacken, die Übles auf der Welt verüben. Der Präsident muss diesen Befehl geben.“
Und der Jihad Islami ließ wissen, der Black Bloc werde vom Ausland finanziert; und passenderweise brachte er sofort die Opposition der „Nationalen Rettungsfront“ (geführt von Persönlichkeiten wie Mohammed el Baradei und Amr Mussa) mit den Hooligans in Verbindung. Die Opposition der Rettungsfront müsse wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt werden, hiess es.
Beide Aufrufe sind leicht als der Beginn einer Anarchie zu werten. Diese tritt etwa ein, wenn einzelne Gruppen die Jurisdiktion in eigene Hände nehmen wollen. Immerhin: auch im Ägypten der Muslimbrüder kann kein Präsident von oben die aussergerichtliche Hinrichtung von Landsleuten befehlen. Ob er das sich möglicherweise anbahnende Chaos zu verhindern in der Lage ist, werden die nächsten Wochen entscheiden.
Mursi hat nur noch wenig Zeit
Wie verzweifelt sich manche Ägypter inzwischen fühlen, zeigt ein offener Brief, den der im Deutschland lebende ägyptische Schriftsteller Hamad Abdel Samad anlässlich des Besuches von Präsident Mursi in Berlin auf Spiegel-Online veröffentlicht hat. Dort heißt es:
„Zwar sind Sie demokratisch gewählt worden, Herr Mursi, aber ein Demokrat sind Sie noch lange nicht. Sie sind legal an die Macht gekommen, aber legitim ist Ihre Macht noch nicht. Denn rund 52 Prozent der ägyptischen Wähler haben für Sie gestimmt, weil Sie versprachen, ein Präsident aller Ägypter zu werden und eine Verfassung zu verabschieden, durch die alle Menschen im Lande sich repräsentiert fühlen. Sie versprachen ebenfalls, die Ziele der Revolution- Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde - zum Leitfaden Ihrer Politik zu machen. Doch schon kurz nach Ihrer Wahl wurde vielen klar, daß Sie nur ein schlechtes Plagiat von Mubarak sind.“
Das sind harte, aber für viele Ägypter keineswegs unrealistische Worte. Sie zu widerlegen, bleibt Mohammed Mursi und den hinter ihm stehenden Muslimbrüdern nur noch wenig Zeit.