Journal21: Martin Kreutzberg, Sie haben Ihre Jugendjahre in Chemnitz verbracht, in Leipzig Theaterwissenschaften studiert und mit einem Doktorat abgeschlossen. Sie waren an zahlreichen Bühnen, unter anderem dem Maxim-Gorki-Theater in Ostberlin, Dramaturg. Noch immer haben Sie enge Beziehungen zu Chemnitz, wo jetzt plötzlich Rufe wie „Heil Hitler“ ertönen. Stimmt es, dass in der DDR die Nazi-Vergangenheit weniger bewältigt wurde als im Westen?
Martin Kreutzberg: Das muss man differenziert sehen. Der Antifaschismus gehörte in der DDR zur Staatsideologie. Lehrer und Richter, die der NSDAP angehörten, wurden aus dem Schul- und Staatsdienst entfernt. Der Beamtenapparat wurde gesäubert. Natürlich gab es einige Ausnahmen, vor allem im Militär, wo man auf einige Offiziere und Generäle zurückgreifen musste.
Offiziell wurde der Faschismus als „Diktatur der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals“ definiert. Das Volk galt als die verführte Masse. All den Mitläufern, den kleinen Nazis, vor allem den jungen Leuten, die noch in der Hitlerjugend gewesen waren, wurde erklärt, der Faschismus sei entstanden, weil sich die Grossbourgeoisie mit den Nazis verbündet habe. Doch diese Herrschaft der Bourgeoisie sei nun durch den Sozialismus überwunden und abgeschafft worden. Weil jetzt eine neue Gesellschaftsordnung entstanden sei, habe der Nazismus mit der DDR gar nichts zu tun. So wurden automatisch alle ehemaligen kleinen Nazis entnazifiziert.
Eine originelle Vergangenheitsbewältigung?
Vielleicht, aber sie funktionierte, vor allem bei den Jungen. Doch wie es zum Nazismus gekommen war, wurde nie aufbereitet. Nie erwähnt wurde zum Beispiel, dass die NSDAP bei den sogenannt letzten freien Wahlen im Jahr 1933 deutschlandweit in Sachsen am meisten Stimmen erhalten hatte. Das wurde unter den Teppich gekehrt.
Offenbar sind die Ostdeutschen anfälliger für rechtspopulistische Parolen als die Westdeutschen. Wieso das?
Bis zum Bau der Mauer 1961 waren ja die Grenzen offen. Viele Menschen im Osten, vor allem aus den gebildeten Schichten, sahen sich ihrer sozialen Grundlage beraubt und zogen in den Westen. Es gab eine eigentliche Massenflucht. In der DDR blieben, neben den überzeugten Anhängern dieses Staates, die es natürlich und in nicht kleiner Zahl gab, vor allem jene, die besonders starke familiäre Bindungen in ihrer Heimat hatten oder die im Westen keine Chance sahen.
Es gab den zynischen Spruch: DDR = Der doofe Rest. Nach dem Mauerbau 1961 gab es dann keine Möglichkeit mehr wegzugehen. Die Menschen mussten sich arrangieren. Und 1989 folgte auf die Euphorie der Wende ganz schnell eine tiefe Verunsicherung. Und die Angst vor einem sozialen Abstieg ist bei einigen noch immer gross. Deshalb sucht man Schuldige, und das sind eben die Fremden.
Würden Sie sagen, im Osten Deutschlands ist man eher rassistisch als im Westen?
Mit dem Begriff „Rassismus“ muss man vorsichtig sein. Mein Vater stammt aus dem Rheinland, meine Mutter aus Schlesien. Unsere Familie spricht erkenntlich kein sächsisch. Wir sind zwar seit ewiger Zeit Deutsche, aber wir sind nicht blond und haben keine blauen Augen. Da erlebten wir in Sachsen schon früh eine Ausgrenzung. Die Kinder riefen mir und meinem Bruder hinterher: Schlitzauge, hau ab. Ich bin in meiner Jugend mehrfach in Chemnitz angepöbelt worden. Das gibt es heute noch. Doch ist das schon Rassismus?
Hat nicht gerade die DDR viele Angehörige von „Bruderstaaten“ aufgenommen?
Das „Hoch die internationale Solidarität“ wurde in der DDR grossgeschrieben. Man holte Arbeiter aus Vietnam, Mozambique und anderen sogenannt sozialistischen Staaten ins Land. Doch in der Praxis war wenig von Solidarität zu spüren. Die fremden Arbeiter wurden gnadenlos beschimpft. Man nannte sie offen „Kanaken“ oder „Fidschis“. Sie wurden in Wohnheimen kaserniert und sollten ganz bewusst keinen Kontakt mit der Bevölkerung haben. Ausländerfeindlichkeit gab es in der DDR also schon immer. Aber das wurde stets verschwiegen. Mit Folgen bis heute: Die DDR war eben kein Staat, in dem die Menschen Erfahrung mit Fremden sammeln konnten. Die DDR war ein Land, in dem viele hinaus, aber keiner hineinwollte.
Könnte die Abneigung gegen die Fremden auch Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes sein?
Ja. Dieser Komplex, den es schon immer gab, wurde nach der Wende verstärkt. Das ist verständlich, denn sehr viele Menschen mussten jetzt ganz unten durch. Die Industrie und das bisherige Gesellschaftsgefüge brachen zusammen.
Getragen von einem weitverbreiteten Gefühl der Minderwertigkeit geht man auf jene los, die noch weniger sind als man selbst. Wenn man es selbst nicht schafft, ist man aber immer noch besser als diese Asylanten aus Afghanistan oder Afrika, heisst es. Das ist auch heute noch teilweise so. So attackiert man Flüchtlinge, obwohl es im Osten Deutschlands gar nicht so viele gibt. In Rostock wurde schon 1993, also lange vor Merkels „Wir schaffen das“, ein Wohnheim von Vietnamesen angezündet, obschon damals in der ganzen Stadt nicht mehr als einige hundert Ausländer lebten. Die ersten ausländerfeindlichen Ausschreitungen gab es also im Osten, als es dort noch kaum Ausländer gab.
Natürlich wird dieser latente Hass auf die Flüchtlinge von gewissen Politikern bewirtschaftet und gefördert. Und als „Wasser auf die Mühlen“ lassen sich kriminelle Asylanten nutzen. Es ist ja klar, dass nicht alle Flüchtlinge zur edlen Elite gehören und dass auch Kriminelle darunter sind.
Sehen Sie weitere Gründe für die Ausschreitungen?
Ein wichtiger Punkt ist, dass in der DDR das sogenannte Bürgertum abgeschafft wurde. Freiberufliche Menschen, wie Ärzte oder Rechtsanwälten, verloren ihre Stellung. Kleine Unternehmen wurden enteignet. Alle wurden jetzt Angestellte des Staates. Eine ganze soziale Schicht, die funktionierte, wurde nach und nach eliminiert.
Im Westen gibt es ein bürgerliches Regulativ. Diese prägende bürgerliche Schicht mit ihrem tief verwurzelten Verhaltenskodex und ihren Tugenden hat die DDR nach und nach entfernt. Im Westen heisst es oft lapidar: „Das macht man nicht, das gehört sich nicht.“ Diese bürgerlichen Verhaltensregeln hat die DDR erfolgreich beseitigt. Das ist noch heute spürbar.
Nicht nur das Bürgertum, auch die Kirche wurde ja sozusagen abgeschafft.
Der Atheismus wurde zur Staatsdoktrin und verbreitete sich massiv. Kirchliche Rituale wurden ersetzt durch staatliche: Jugendweihe statt Konfirmation. 1949 gab es in Sachsen viereinhalb Millionen bekennende Christen. Vierzig Jahre später, als die DDR in den letzten Zügen lag, waren es noch 1,5 Millionen, also drei Mal weniger. Der positive Einfluss, den die Kirche mit ihren Geboten durchaus haben kann, fiel mehr und mehr weg.
Heute stellen viele Ostdeutsche das Christentum plötzlich wieder in den Vordergrund. Sie sagen die Christen würden vom Islam bedroht.
Mich ärgern rechtsnationale Parolen wie: „Wir müssen das Christentum gegen den Islam verteidigen.“ Allein in Sachsen nach der Wende hat sich die Zahl der Kirchenmitglieder fast halbiert. 700’000 sind nach der Wende ausgetreten. Nicht nur wegen der Kirchensteuer, sondern auch weil sich in der DDR der Atheismus festgesetzt hat. Und diese Leute, die nichts mehr mit dem Christentum am Hut haben, beschwören nun plötzlich die Gefahr, dass das Christentum bedroht sei.
Die rechtsnationalen Politiker und Demonstranten beklagen, dass sie von Politik, von Frau Merkel, vergessen und vernachlässigt würden.
Das ist eine Schutzbehauptung. In den 90er Jahren, nach der Auflösung der DDR, hätte ich das verstanden. Damals wurden ganze Lebenslinien gekappt, die soziale Unsicherheit war riesig. Auch hat die plötzliche Fremdbestimmung von aussen, von der Bundesrepublik, viele frustriert. Da wurden westdeutsche Beamte nach Ostdeutschland geschickt, die nicht immer die besten waren. Wer wollte schon in den Osten? Mit einer „Buschzulage“ zu ihrem Gehalt wurden sie geködert. Und viele dieser Beamten haben sich arrogant und anmassend aufgeführt.
Doch heute ist gerade in sächsischen Grossstädten der wirtschaftliche Aufschwung nicht zu übersehen. Gute Strassen wurden gebaut, es gibt, ausser in den Boomstädten Leipzig und Dresden, genügend Wohnungen. Natürlich gibt es immer und überall Menschen, denen es schlecht geht. Vergessen ist der Osten heute aber sicher nicht.
Sie haben enge Kontakte zu Ihrer Heimatstadt. Was sagen Ihre Angehörigen, ihre Freunde zur heutigen Situation?
Sie schämen sich. Aber sie leben gerne in Chemnitz, denn man kann dort gut leben. Ihnen gefällt die Stadt.
Allen scheint sie nicht zu gefallen, vor allem jenen nicht, die „Heil Hitler“ schreien.
Das ist eine primitive Form von Provokation. Das erregt Aufmerksamkeit. Doch der Schuss könnte auch nach hinten losgehen.
Wie das?
Das aggressive Auftreten der Rechtspopulisten und Ausländerhasser hat auch eine abstossende Wirkung und provoziert eine Abwehrreaktion. Viele sagen sich: Nein, so dann doch nicht. Das Geheul dieser dumpfen Typen könnte die besonnenen Menschen auf den Plan rufen.
Und jetzt, wie geht es weiter?
Ich glaube, das Asylantenproblem könnte demnächst abklingen. „Wir schaffen das“ – das ist vorbei. Es kommen jetzt schon – und sicher auch künftig – viel weniger Flüchtlinge. Das wird das Problem entschärfen. Aber natürlich wird es immer wieder Exzesse geben. Leider.
Gut möglich, dass die AfD nochmals Stimmen gewinnt. Aber längerfristig bin ich nicht so pessimistisch. Ich glaube nicht an einen neuen Nazismus, den viele heute an die Wand malen.
(Das Gespräch mit Martin Kreutzberg führte Heiner Hug)
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Zur Person: Martin Kreutzberg, Sohn eines Arztes, kam 1953 nach Chemnitz – in jenem Jahr, als die Stadt in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde. Er besuchte dort das Gymnasium und zog 1962 nach Leipzig und Berlin und dann in den Westen. Er hat noch immer enge Beziehungen zu seiner Stadt.
Kreutzberg studierte Theaterwissenschaften. Mit 23 Jahren wurde er Chefdramaturg an einem Kleintheater in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, dann Assistent an der Hochschule in Leipzig. Er machte anschliessend sein Doktorat, wurde Dramaturg am Maxim-Gorki-Theater in Ostberlin. 1978 verliess er die DDR. Im Westen wurde er unter anderem Dramaturg und Regisseur am Stadttheater Bern und Chefdramaturg an den Städtischen Bühnen Nürnberg. Von 1989 bis 1993 war er Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Danach Intendant des Theaters Hildesheim.