Es ist Samstagabend Schweizer Zeit, kurz nach halb fünf. Mit riesigen Lettern verkünden CNN und die New York Times die erlösende Botschaft.
„Biden wins“, schreibt CNN. „Biden beats Trump“, meldet die NYTimes. Und die USA haben ihre erste Vizepräsidentin – und erst noch eine Schwarze.
In vielen Städten, so in New York, Washington, Bosten, Philadelphia und San Francisco, gehen Zehntausende auf die Strassen und jubeln.
Der Ankündigung ging einer der spannendsten Auszählungskrimis voraus. Den definitiven Ausschlag gab die Bekanngabe der neuesten Zahlen aus Pennsylvania. Der Staat stimmt mit 49,6 zu 49,1 Prozent für Biden. Dieser lag wie erwartet zunächst zurück, holte dann aber mit den Briefwahlstimmen rasant auf.
„You are fired“
Mit den 20 Elektorenstimmen von Pennsylvania kommt Biden jetzt auf 273 Stimmen. Nötig sind 270. Für Trump heisst es jetzt: „Game over. You are fired.“
Kurz darauf wurde bekannt, dass Biden auch Nevada gewann (6 Elektoren). Grosse Chancen zu gewinnen hat Biden auch in Arizona (11 Elektoren). Er führt auch überraschend in Georgia mit seinen 16 Elektoren, allerdings so knapp, dass eine Nachzählung der Stimmen angeordnet wurde.
Würde er alle diese Staaten erobern, käme er auf 306 Elektorenstimmen – genauso viele wie Trump vor vier Jahren gewann. Biden hat also weit komfortabler gewonnen, als es kurz nach der Wahl den Anschein machte.
Aus der Leitung gekippt
Trump wird bereits wie ein lügnerischer Schulbub behandelt. Man stelle sich vor: Der amerikanische Präsident tritt im Weissen Haus vor die Fernsehkameras. Das war am Freitag. Sein kurzes Statement ist „mit Lügen gefüllt“, schreibt die New York Times. Die grossen Fernsehanstalten, ABC, NBC und CBS haben genug von diesen Lügen. Sie schalten weg. Der Präsident fliegt aus der Leitung. Er ist ausser sich.
Doch Trump akzeptiert eine Niederlage nicht. Ein Mensch wie er verliert nicht. Aus dem Wahltag könnten Wahlwochen werden – oder gar ein Wahlmonat.
Wie ein Besessener
Trump verlangt Nachzählungen. Er beschuldigt mehrere Staaten, Stimmen gefälscht oder Wahlzettel vernichtet zu haben. Er spricht von einer Verschwörung gegen ihn. „Wenn man die legalen Stimmen zählt, gewinne ich ‚easily‘“, behauptet er am Freitag. Beweise liefert er keine.
Schon vor Bekanntgabe der Ergebnisse hat er ein Heer von Anwälten verpflichtet. Er wird wie ein Besessener die allerletzten Möglichkeiten ausschöpfen. Bis dann die Gerichte das letzte Wort gesprochen haben, kann es dauern.
Trump tut sich schwer
Doch die USA sind noch immer ein Rechtsstaat. Die einzelnen Bundesstaaten wissen, dass Trump ihre Ergebnisse anfechten wird. Sie haben vorgesorgt und alle erdenklichen Vorsichtsmassnahmen ergriffen. Deshalb dauerte auch die Bekanntgabe der Ergebnisse sehr lange. Die Wahlzettel werden mehrmals gezählt und in Computern gescannt. In den Auszählzentren patrouillieren Beobachter beider Parteien. Sie können die Stimmen einsehen. In Georgia hat ein Gericht eine Klage Trumps auf Wahlmanipulation schon abgelehnt. Der Verlierer wird es schwer haben, sich durchzusetzen.
Auch die Demokraten gehen vor Gericht. Sie bezichtigen den Postchef Louis DeJoy, die Weiterleitung von Wahlzetteln aus demokratisch wählenden Gegenden behindert zu haben, damit sie zu spät eintreffen und nicht mehr gezählt werden können. DeJoy war im Frühjahr von Trump eingesetzt worden. Er gilt als feuriger Republikaner und hat die Partei offenbar auch mit viel Geld unterstützt.
Der „halbe Präsident“?
Biden wird es nicht leicht haben. Die hasserfüllten Republikaner werden ihn vier Jahre lang bekämpfen. Zudem könnte er ein „halber Präsident“ werden. Noch steht das Endergebnis der Senatswahlen nicht fest. Doch die Republikaner hoffen, augrund der bisherigen Resultate die Mehrheit behalten zu können. Dann müsste Biden gegen den Senat regieren und könnte seine Reformagenda nicht durchbringen.
Doch auch die Demokraten hoffen. Im Moment steht es bei den Senatswahlen laut CNN 48:47 für die Demokraten. In Georgia muss der Sieger in einer Stichwahl im Januar erkoren werden. Gelänge es den Demokraten, beide Senatssitze in Georgia zu erobern, stünde es 50:50. Kamala Harris als Vizepräsidentin hätte dann den Stichentscheid. Biden wäre dann kein „halber Präsident“.
Für den Fall, dass die Demokraten im Senat in der Minderheit bleiben, hat Mitch McConnell, der republikanische Mehrheitsführer, bereits eine radikale Obstruktionspolitik angekündigt. So wie er sie gegen Obama geführt hatte. McConnell, ein früherer Demokrat, hat sich – aufgepeitscht von Trump – vom Paulus zum Saulus entwickelt. Er gehört zu den rabiatesten Bekämpfern demokratischer Politik.
Politik des Hasses
Biden hat ein weiteres Handicap. Den Schaden, den Trump in vier Jahren angerichtet hat, kann man nicht so schnell beheben. Die Corona-Zahlen werden nicht von heute auf morgen drastisch sinken. Die Wirtschaft wird nicht über Nacht wieder florieren. Und es dauert, bis das Vertrauen in die Regierung wieder hergestellt wird.
Trump, „der greatest Präsident in der amerikanischen Geschichte“, wie er sich nennt, hat in seinen vier Jahren die Hälfte des Landes gegen die andere Hälfte aufgewiegelt. Seine Politik war eine Politik des Hasses. Und dieser Hass ist nach seiner wahrscheinlichen Niederlage noch virulenter geworden.
Trump wird noch schamloser als bisher mit Lügen und Schmähungen seine Leute aufhetzen. Er wird sich nicht zurückziehen und sagen, so, das war’s jetzt. Nein, er ist ein Rächer, und er wird sich rächen. Wie kann man gegen eine hasserfüllte Hälfte eines Volkes regieren? Biden ist nicht zu beneiden.
Vierjähriger Cauchemar
Und trotzdem können wir aufatmen, dass dieser vierjährige Cauchemar fürs erste zu Ende ist. „Four more years“? No, thanks. Endlich kein hysterischer Präsident mehr, der stundenlang vor dem Fernseher sitzt und Leute mit menschenverachtenden Tweets verunglimpft, ein Präsident, der am Morgen dies sagt und am Nachmittag das Gegenteil.
Die internationalen Beziehungen werden mit Biden wieder in ruhigeren Gewässern stattfinden. Er will die Politik wieder auf den Weg der Vernunft zurückführen. Und endlich wieder etwas Anstand im Weissen Haus. Keine Hysterie, dafür Pragmatismus.
Eine starke Frau an seiner Seite
Eines allerdings wird ihm nicht so schnell gelingen. Er versprach, das Land wieder zu einigen. Angesichts des grassierenden Hasses im republikanischen Lager ist das wohl ein Traum.
Allerdings sind viele Amerikaner und Amerikanerinnen des Hasses, des Chaos und der ewigen Provokationen müde geworden. Wenn Biden eine ruhige, klare, ehrliche Politik verfolgt, könnte er weiter Zulauf haben. Man sollte ihn nicht unterschätzen. Er hat zudem eine starke, gescheite Frau an seiner Seite. Kamala Harris, die Vizepräsidentin, wird sicher mehr Einfluss haben als der unterwürfige und unscheinbare Mike Pence.
Ausschreitungen, Attentate?
Trump wird nicht nur juristisch kämpfen. Er könnte auch seine Anhänger zu Protesten anstacheln. Viele stehen schon bereit, nicht nur die rechtsextremen Proud Boys und die faschistischen QAnon-Verschwörer. Er hat seine Verehrer über Monate hinweg derart aufgeputscht, dass nur ein Funken nötig ist, um einen Flächenbrand auszulösen.
Kommt es zu Unruhen, zu Strassenschlachten, zu Attentaten? Weshalb wurden in den letzten Monaten Hunderttausende von Waffen verkauft? Viele befürchten gar bürgerkriegsähnliche Ausschreitungen. Andere sagen: alles nur Panikmache. Fest steht, dass sich die Polizei auf Amoktaten und Anschläge vorbereitet.
Wie kann es sein?
Auch nach diesen Wahlen muss man sich wieder die Frage stellen: Wie kann es sein, dass 48 Prozent eines Volkes einem notorischen Lügner und Scharlatan, einem Hochstapler, Rassisten, Angeber und Egozentriker auf den Leim kriechen? Wie kann es sein, dass Trump – nach all dem, was man jetzt über ihn weiss – fast wieder gewonnen hat?
Und: Wie kann es sein, dass 48 Prozent einem psychisch kranken Narzissten, der die demokratischen Institution verhöhnt, der die Gewaltentrennung aushebelt und die Justiz zu seinen Zwecken umbiegt, ihre Stimme geben? Das Land, das sich als Wiege der Demokratie brüstet und sich berufen fühlt, anderen Ländern Lektionen zu erteilen, wie Demokratie geht – in diesem Land jubelt die Hälfte der Bevölkerung einem Mann zu, der die Demokratie lächerlich macht und sich zum Sieger ausruft, bevor die Stimmen gezählt sind.
Was muss man von der demokratischen Gesinnung eines Menschen halten, der sagt: „Wenn ich nicht gewinne, sind die Wahlen gefälscht“? Ein Mann, der sich offen brüstet damit, dass er Frauen zwischen die Beine greifen kann. Er, der Erfinder der „alternativen Fakten“, dessen Ziel es ist, möglichst viel Chaos anzurichten, der jeden ins Fegfeuer schickt, der ihm nicht zu Füssen liegt. Der seine Kritiker als „Idioten“ bezeichnet und dessen Politik sich durch nachhaltige Prinzipienlosigkeit auszeichnet. Er, der Steuern hinterzieht und zum religiösen Schleimer wird, wenn es gilt, evangelikale Stimmen zu gewinnen. Er, der Diktatoren wie Putin bewundert und der krankhaft besessen ist, mit seinem populäreren Vorgänger abzurechnen.
Trump hat sieben Millionen Stimmen mehr erhalten als vor vier Jahren. Dies in einem Land, das wir einst bewunderten. Wie kann das sein?
Nichts ausser Geschrei
Weil er den vergessenen Amerikanern eine Stimme gegeben hat, wie es heisst? Er hat ihnen vor allem mit populistischem Getöse ihre Stimme bei den Wahlen genommen – und dann missbraucht. Gegeben hat er ihnen nicht viel ausser Geschrei gegen die Gegner.
Dass er vor vier Jahren gewann, kann man noch nachvollziehen. Doch jetzt, vier Jahre später, kennt man ihn: sein Chaos, seine Lügen, seine gescheiterte Corona-Politik, seine Selbstverliebtheit, seine Schamlosigkeit, seine Demütigungen, sein Nepotismus, seine Rüpelhaftigkeit.
Ein Funken Hoffnung
Trump hat sich längst von der Realität abgekoppelt. Er lebt in seiner Welt, in der Trump-Welt – einer Welt, in der nur einer glänzt, nämlich er. Doch der Unbesiegbare wurde jetzt besiegt. Und zwar deutlicher, als man zunächst vermutete. Der Mythos des ewigen Sonnenkönigs ist angekratzt.
Trump wird versuchen, in vier Jahren erneut zu kandidieren. Und die Aussichten auf einen erneuten Sieg sind gar nicht so schlecht. Natürlich wird man jetzt analysieren, dass Amerika gespalten bleibt, dass der Trumpismus nicht tot ist, dass der Kulturkampf weitergeht, dass das Land gelähmt ist. Die Gefahr, dass diese Analyse stimmt, ist gross. Doch vielleicht gibt es einen Funken Hoffnung.
Ein Satz zu viel
Nicht alle Republikaner waren begeistert von ihrem Präsidenten. Auch nicht alle konservativen Richter im Supreme Court sind Trump-Fans. Auf das höchste amerikanische Gericht zu hoffen, könnte für Trump fatal werden.
Am Mittwochmorgen (Schweizer Zeit) um 08.24 Uhr war der Noch-Präsident vor die Fernsehkameras getreten und hatte gesagt: „Wir haben Wisconsin, Michigan und Pennsylvania gewonnen.“ Dann erstarrte sein Gesicht zwei Sekunden lang. Vielleicht hat er gemerkt, dass dieser Satz ein Satz zu viel war. Er war eine Verhöhnung der Demokratie und eine Verspottung Hunderttausender Wähler, deren Stimmen noch gar nicht gezählt waren.
Selbst Fox News geht auf Distanz
Vielleicht hat Trump den Bogen überspannt. Überheblichen Leuten geschieht das. Dass er sich zum Sieger ausrief, bevor alle Stimmen gezählt waren, haben manche Parteigrössen nicht goutiert. Plötzlich hatten viele den Mut, offen Kritik am Präsidenten zu üben. Pat Toomey, der republikanische Senator von Pennsylvania, widerspricht Trump energisch. Es gebe keinen Grund zur Annahme, die Wahlen seien gefälscht.
Selbst seine frühere enge und getreue Beraterin Kellyanne Conway widersprach ihm, als er einen Auszählungsstopp forderte: „Weshalb sind wir so in Eile, diese Wahlen vorzeitig zu beenden?“, sagte sie. „Bleiben wir geduldig, atmen wir tief durch, lassen wir jede legale Stimme zählen. Ich glaube, es ist Zeit, nicht emotional zu reagieren.“ Selbst Fox News ist auf Distanz zu ihm gegangen.
Sieger haben Freunde, Verlierern laufen sie davon. Die Ratten verlassen das Schiff. Und jetzt bricht auch noch ein republikanischer Hauskrach aus. Trumps Söhne toben und rügen die eigene Parteileitung, weil sie zu wenig für ihren Vater getan hätte.
Doch allzu grosse Hoffnung, dass der Trump-Albtraum bald zu Ende geht, sollte man sich wohl nicht machen. Der geschasste Agitator wird weiter seine Getreuen aufhetzen. Es ist nicht anzunehmen, dass ihm seine Jünger in absehbarer Zeit davonlaufen. Die USA stehen vor schwierigen Zeiten.
Hinauseskortieren
Trump akzeptiert die Niederlage nicht. Er klagt vor Gericht. Doch bald könnten auch andere vor Gericht klagen – gegen Trump.
Der Verlierer hat jetzt seine Immunität verloren. Viele haben schon angekündigt, sie würden ihm den Prozess machen. Mögliche Anklagepunkte sind: Vermögensdelikte, falsche Aussage, Steuerhinterziehung, Behinderung der Justiz, Verstoss gegen die Gesetze der Wahlkampffinanzierung, illegale Vorteilsnahme im Amt, Vergewaltigung, Zahlung von Schweigegeldern an Frauen, Anstiftung zur Gewalt, Betrug, Nötigung, Erpressung.
Und was geschieht, wenn sich Trump weigert, das Weisse Haus zu verlassen? Wenn er sich gar im Westflügel verbarrikadiert? „Die amerikanische Regierung“, sagte ein Sprecher von Joe Biden, „ist perfekt fähig, Unbefugte aus dem Weissen Haus hinauszueskortieren.“
Siehe auch:
Ignaz Staub: Hat Amerika verwählt?
Heiner Hug: Das grosse Warten
Journal 21: Protokoll einer turbulenten Nacht
Heiner Hug: Halbe und ganze Präsidenten