Die regierungskritische israelische Zeitung «Haaretz» hat in dieser Woche die Frage aufgeworfen, weshalb innerhalb weniger Tage gleich zwei grosse Gedenkveranstaltungen zum 75-jährigen Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz stattfinden: Am Donnerstag haben sich in der Holocaust-Gedenkstätte Vad Yashem von Jerusalem um die 50 Staats- und Regierungschefs und andere prominente Würdenträger versammelt, um an die Auschwitz-Befreiung durch die Rote Armee zu erinnern. Am kommenden Montag, dem 27. Januar, dem eigentlichen Tag der Befreiung, wird auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Polen eine weitere Erinnerungszeremonie mit teilweise den gleichen hohen Repräsentanten wie in Jerusalem organisiert.
Das Gespann Netanyahu-Putin
Verschiedene Veranstaltungen zu historischen Gedenktagen seien zwar nichts Aussergewöhnliches, meint der Kommentator von «Haaretz». Aber in diesem Fall müsse man doch festhalten, dass hinter der Absicht, an die Opfer von Auschwitz und die Zerschlagung dieser Vernichtungsmaschinerie zu erinnern, auch andere, weniger hochherzige Interessen und Rivalitäten zu finden seien. Solche eher vordergründigen und kontroversen Motive lassen sich nach Meinung von «Haaretz» und anderer kritischer Beobachter insbesondere beim israelischen Regierungschef Netanyahu, seinem auffallend häufigen Gast und Gastgeber Putin, sowie dem in Jerusalem abwesenden polnischen Präsidenten Andrezj Duda erkennen. Aber auch unter international tätigen jüdischen Funktionären sind die Meinungen über den Stellenwert der beiden Gedenkveranstaltungen offenbar nicht kongruent.
Im Mittelpunkt der verschiedenen Disharmonien steht die Tatsache, dass der polnische Präsident Duda bei der grossen Zeremonie in Jerusalem durch Abwesenheit glänzte und der russische Präsident Putin bei der Gedenkfeier im polnischen Auschwitz nicht dabei sein wird. Duda war zwar nach Yad Vashem eingeladen worden, doch er lehnte eine Teilnahme ab, nachdem er erfuhr, dass er im Gegensatz zu andern staatlichen Repräsentanten dort nicht als Redner vorgesehen war.
Hinter diesem Affront vermutet nicht nur der «Haaretz»-Kommentator kaum zweifelhaft das Einverständnis des israelischen Regierungschefs. Netanyahu zelebriert seit langem ein enges persönliches Verhältnis nicht nur zu Donald Trump, sondern auch zum russischen Machthaber Putin. Im neu angelaufenen israelischen Wahlkampf muss ihm besonders daran gelegen sein, diese Beziehung auf der nationalen Bühne zur Schau zu stellen.
Moskaus Geschichtsoffensive
Diese Netanyahu-Putin-Kameraderie wäre durch die Anwesenheit Dudas nur gestört oder zumindest etwas überschattet worden. Denn der russische Präsident schürt neuerdings so etwas wie eine rhetorische Geschichtsoffensive gegen Polen, indem er selber und seine Propaganda-Agenten die Behauptung verbreiten, dieses Land sei mindestens mitschuldig am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gewesen.
Der berüchtigte Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 sei nichts anderes als eine «Notmassnahme» des Sowjetregimes gewesen, um Zeit für die Verteidigung gegen den zwei Jahre später erfolgten Überfall Deutschlands zu gewinnen. Dass bei dieser Kreml-Version das geheime Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen «Teufelspaktes», in dem die schon im September begonnene Aufteilung Polens vereinbart wurde, weitgehend unter den Tisch fällt, ist kaum noch verwunderlich.
Gut möglich, dass der polnische Präsident, wäre ihm in Yad Vashem das Wort erteilt worden, eine etwas andere Sicht der Zusammenhänge über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der damit ausgelösten Holocaust-Katastrophe artikuliert hätte. Vielleicht hätte Duda in seiner Rede auch erwähnt, dass die Rote Armee zwar Auschschwitz und Polen dankenswerterweise von den Nazi-Besetzern befreite – daran anschliessend aber eine neue, jahrzehntelange Fremdherrschaft durch das Sowjetimperium begann.
Innerjüdische Rivalitäten
Die Kommentare in der israelischen Oppositionszeitung «Haaretz» weisen auch darauf hin, dass die eigentliche Organisation und Finanzierung der Auschwitz-Gedenkveranstaltung in Jerusalem vom vergangenen Donnerstag primär in den Händen des russischen Oligarchen und Milliardärs Moshe Kantor lag, dem zugleich sehr enge Beziehungen zu Putin nachgesagt werden. Die Brüskierung des polnischen Präsidenten könnte deshalb, so wird vermutet, auch von diesem umtriebigen Aktivisten mit orchestriert worden sein, der mit dieser Entscheidung seinem Mentor Putin einen Gefallen leisten wollte.
Kantor ist überdies Präsident des European Jewish Congress. Zwischen diesem umtriebigen jüdischen Financier und Strippenzieher einerseits und dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, dem Amerikaner Ronald Lauder, andererseits, scheint – wiederum laut Haaretz – ein ziemlich gespanntes Verhältnis zu bestehen. Das gilt inzwischen auch für die einst engen Beziehungen Netanyahus mit Lauder. Offenbar sind solche Rivalitäten auch der Grund dafür, weshalb Lauder bei der Auschwitz-Gedenkfeier in Jerusalem nicht dabei war. Er wird, ebenso wie der polnische Präsident Duda, stattdessen an der Zeremonie am Montag in Ausschwitz teilnehmen.
Polnische Defizite
Allerdings muss bei solchen eher kleinkariert anmutenden nationalen und persönlichen Unverträglichkeiten hinter den Fassaden der Auschwitz-Erinnerung auch erwähnt werden, dass auch die konservative polnische Regierung im Zusammenhang mit dem Holocaust eine eigene Geschichtspolitik mit stark nationalistisch gefärbter Schlagseite betreibt. Wer auf Fälle polnischer Kollaboration mit den Nazi-Schergen und Beispiele polnischer Gewaltausschreitungen gegen jüdische Mitbürger während der Kriegsjahre verweist, wird öffentlich schnell als Geschischtsfälscher angeprangert oder gar juristisch verfolgt.
Dass Putin darauf verzichtet, an der diesjährigen Gedenkfeier in Ausschwitz zur Befreiung des Vernichtungslagers teilzunehmn, hat deshalb wohl nicht allein mit der von ihm ihm angetriebenen Kampagne zum historischen Revisionismus gegenüber Polen zu tun. Diese Kampagne dürfte zumindest teilweise auch durch die prononciert chauvinistischen Haltung der Warschauer Regierung angestachelt sein. Durch eine souveränere und ehrlichere Haltung der Entscheidungsträger auf beiden Seiten zum schwierigen Kapitel der polnisch-russischen Vergangenheit hätte sich wahrscheinlich das diplomatische Schattenboxen um die Auschwitz-Befreiung vermeiden lassen.
Auch Putin hatte, wie der russische Historiker Alexei Miller in einem Interview mit der «Nowaja Gaseta» hervorhebt, vor zehn Jahren bei der Gedenkveranstaltung zum Beginn des Zweiten Weltkrieges ganz andere Töne gegenüber Polen angeschlagen. Gemeinsam mit dem damaligen polnischen Regierungschef Tusk hatte er an die Öffentlichkeit appelliert, das schwere Erbe der Vergangenheit zu überwinden und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Von solchen Bemühungen ist heute leider auf beiden Seiten wenig zu sehen.
Steinmeiers schnörkelloses Bekenntnis
Um der Wahrheit willen darf aber nicht unterschlagen werden, dass an der Gedenkfeier in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durchaus substanzielle und bewegende Reden zu hören waren. Zu erwähnen ist hier der Auftritt des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Ohne jegliche Umschweife und in schnörkelloser Klarheit bekannte er sich zur Bürde seines Landes «mit grosser historischer Schuld». Er wünschte, «sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt». «Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.»
Die Ehrlichkeit und Direktheit solcher selbstkritischen Sätze berechtigen zur Hoffnung, dass zumindest gewichtige Teile jenes Landes, das für die Katastrophen-Metapher Auschwitz die Verantwortung trägt, eben doch einiges aus der Geschichte gelernt haben. Offenbar war auch der grosse – inzwischen verstorbene – israelische Schriftsteller Amos Oz dieser Ansicht, als er vor drei Jahren in einem Interview erklärte, für ihn sei nicht Donald Trump, sondern die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die geistige Führerin der freien Welt.