Wird die Welt immer schlechter, träumt man gern von guten alten Zeiten. Oder von guten neuen. Utopien versprechen sie. Technologische Utopien im Besonderen. Und sie malen uns ein neues Schlaraffenland aus. Der Weg dazu: Radikale Selbsttransformation des Menschen.
Transhumanismus
Seit einiger Zeit macht sich eine umtriebige Truppe von Philosophen, Wissenschaftern und Ingenieuren daran, uns auf eine Zukunft einzustimmen, in der die meisten Probleme der Menschheit gelöst sein werden. Das Projekt des radikalen Transhumanismus, wie es genannt wird, entwirft aus den neuen technischen Möglichkeiten eine entsprechende neue Anthropologie, die Abschied vom Menschen nimmt, wie wir ihn kannten. Ihr Argument lautet etwas plakatiert: Die gegenwärtigen Probleme der Menschheit sind mit dem herkömmlichen Menschen nicht lösbar. Also muss man den herkömmlichen Menschen verbessern, will sagen: überwinden, um die Probleme zu lösen.
Ein transhumanistisches Märchen
Einer dieser Transhumanisten ist der Philosoph Nick Bostrom. Er erzählt uns das Märchen von Altern und Tod, dem tyrannischen Drachen: „Es war einmal ein grosser Drache, der die Welt tyrannisierte. Er war grösser als die grösste Kathedrale und bedeckt mit dicken schwarzen Schuppen. Seine roten Augen glühten vor Hass, und von seinem furchterregenden Kiefer floss ein unaufhörlicher Strom gelblichen Schleims. Um seinen riesigen Appetit zu befriedigen mussten jeden Tag bei Einbruch der Dunkelheit zehntausend Männer und Frauen am Fuss des Hügels abgeliefert werden, wo der Drache wohnte.“[1] Und so weiter. Am Ende wird der Drache besiegt, die Menschheit ist von der Tyrannei des Alterns und des Todes befreit.
Man mag über solche puerilen Fortschrittsträume lachen. Aber Bostrom ist nicht naiv. Er verfolgt mit dem literarischen Format des Märchens geschickt eine dreifache Absicht. Erstens macht er den wissenschaftlich-technologischen Kampf gegen Altern und Tod auf einem gemeinverständlichen „kindlichen“ Niveau plausibel; zweitens spricht er unsere tiefsten Instinkte an - wer fürchtet sich nicht vor dem Tod? – ; und drittens lädt er diesen Kampf moralisch auf. Die Auseinandersetzung mit Drachen steht seit je im Zeichen Gut-gegen-Böse. Bostrom sagt es ausdrücklich: „Wir haben zwingende moralische Gründe, die menschliche Seneszenz loszuwerden.“ Das Leben ist kurz, die Technik währt lang, sagte schon Hippokrates. Also protzt man das Leben technisch auf, damit es lange währt.
Du sollst dich verbessern!
Utopien haben immer den Charakter eines Versprechens, wenn nicht sogar eines Befehls. Die besseren Zustände, die in den utopischen Schilderungen vorkommen, sind Zustände, die sein sollen. Und um uns diese Wünschbarkeit nahezubringen, benutzt die Utopie mindestens drei Tricks.
Erstens erklärt man es zur Pflicht des rationalen Menschen, das Projekt zu unterstützen. Bostrom beschreibt zum Beispiel das transhumane Leben in seinem „Brief aus Utopia“.[2] Man werde dort spielend 170 Jahre alt, verfüge über kognitive Fähigkeiten unerhörten Ausmasses, streue Glück in Form von ein paar Körnchen in den Tee, höre Musik, die sich zu Mozart so verhält, wie Mozart zu schlechter Musak, und so weiter. Wie also kann ein vernünftiger Mensch die Wonnen solcher künftiger Existenz ausschlagen?
Schnell verfängt man sich hier allerdings im Fehlschluss vom Mittel auf den Zweck: Wir haben die Mittel zur radikalen Menschenverbesserung, ergo ist die radikale Menschenverbesserung auch der Zweck. Die Diskussion verlässt den Horizont des Wissenschaftlich-Technischen nicht mehr. Der Imperativ „Du musst dich verbessern!“, der sich im Übrigen sehr gut mit einer wirtschaftsliberalen Logik verträgt, stutzt dem Wünschen, sofern es nicht ein wissenschaftlich-technisches ist, die Flügel. Man hat sich zusätzliche Kameraaugen, bionische Glieder, elektronische Ohren, Magnetosensoren zu wünschen. Wer anderes wünscht, handelt unvernünftig, ja, unmoralisch.
Der Jammertal-Verstärker
Zweitens erhöht sich die Wünschbarkeit der Utopie dadurch, dass man den Ist-Zustand der Welt möglichst in Grautönen malt. Nennen wir dies den Jammertal-Verstärker. Er arbeitet, meist verdeckt, auf eine Umwertung der Werte hin. Erinnern wir uns des Märchens von Bostrom. Alter und Tod sind der Drache, den es zu besiegen gilt. Das hat durchaus eine gewisse Plausibilität. Zumindest: Wer hegt nicht den Wunsch nach einem genussvollen, beschwerdefreien Alter? Aber das ist nicht zwingend der Wunsch, ein ewiges Alter zu haben. Mit dieser überdrehten Logik operiert indes das radikale Enhancement. Und sie hat tatsächlich etwas von der Logik des Märchens. Der König ist krank. Also muss ein Heilwasser oder ein Zaubervogel her. Der Mensch altert und stirbt. Also muss eine entsprechende Heiltechnologie her. Versteckt unterstellt man, das Alter sei eine Krankheit, von der man zu „gesunden“ hat. Die Utopie dichtet uns ein Defizit an, erklärt das Normale um zum Pathologischen.
Unvermeidlichkeit der Transhumanität
Transhumanismus drückt drittens einen mehr oder weniger ausgeprägten Technik-Determinismus aus: Technik entwickelt eine Eigendynamik, man kann gegen sie (das heisst: gegen die grossen Technikunternehmen) so oder so nichts unternehmen. Dadurch umgibt sich die Utopie mit einer Aura des Unausweichlichen. „Wir müssen zur Transhumanität fortschreiten,“ predigt der Philosoph Max More.
There is no alternative. Das transhumanistische Zukunftsszenario eröffnet sich uns als „zwingender“ Ausgang aus der biologischen Evolution. Das Ziel verbindet sich insgeheim mit dem Anfang, indem suggeriert wird, radikale Selbsttransformation sei bereits ursprünglich „angelegt“. Man mobilisiert dadurch die teleologische Figur der „Bestimmung“, die auf Aristoteles zurückgeht. „Bestimmung“ des Menschen ist es, sich zu verbessern, sich verbessernd über sich hinauszuwachsen. Der kalte Optimismus der Menschenverbesserer entspringt nicht einer Hoffnung, sondern dem „Wissen“ um eine bessere Zukunft. Man verleiht damit dem ganzen Projekt auch gleich die kryptoreligiöse Weihe, die es für nicht wenige umso attraktiver macht.
Die Utopie ist machbar
Diese drei Momente – In-die-Pflicht-nehmen, Jammertal-Taktik und Sich-ergeben in die Teleologie der Welt – sind die zentralen Propagandainstrumente der Techno-Utopisten. Nun ist ja das Träumen von besseren Zeiten nicht per se verwerflich. Und dem technischen Fortschritt wohnt immer schon ein gewisses utopisches Moment inne. Was heute vielmehr ins Gewicht fällt, ist die Verfügbarkeit machtvoller Technologien, welche diese Träume zu realisieren versprechen. Die Realisierungsmöglichkeit markiert einen „disruptiven“ Unterschied zwischen alten und neuen Utopien. Platons Vision einer von Philosophen geführten Gesellschaft war harmlos, weil es sich tatsächlich um eine Vorstellung jenseits des Machbaren handelte. Heute führen nicht Philosophen-Könige das Zepter, sondern Digitalunternehmen-Könige mit ihren Software-Wächtern. Und sie haben die Macht, die Gesellschaft wirklich nach ihren Visionen zu verändern. Schon heute brüstet sich Google damit, dem Nutzer sagen zu können, was er will, bevor er weiss, was er will.
Things bite back
Transhumanismus verlangt eine radikale technische Veränderung der Conditio humana. Aber zur bekannten Ironie der Technik gehören die nichtindendierten Effekte von Innovationen. „Things bite back“, wie es im Englischen heisst. Wir kennen ja bereits Enhancements mit Botox, Steroiden, Viagra. Und wir kennen auch ihre Nebenwirkungen: Lähmungserscheinungen und Infektionen bei Botox; Herzprobleme bei Steroiden; niedriger Blutdruck und Priapismus bei Viagra.
Wir haben keine Ahnung, wie ein total transformierter menschlicher „Metakörper“ wirklich aussehen und leben würde. Technophantasien, die diese Unkenntnis nicht als Parameter berücksichtigen, unterscheiden sich kaum von altem magischen Denken: der Zaubertrank hat die gewünschte Wirkung, ohne Kollateraleffekte. Aber genau diese Wunschwirkung haben Technologien nicht. Und je „totaler“ sie werden, desto grösser das existenzielle Risiko, dass der Kollateralschaden zu einem Totalschaden auswächst. Man halte sich nur die eugenischen Enhancement-Visionen vor Augen, das Züchten des Menschenparks. So „liberal“ eine Eugenik auch sein mag, wie sie etwa der Philosoph Nicholas Agar 2003 in seinem Buch „Liberal Eugenics“ verteidigte, wir kennen aus heutiger Sicht die Vor- und Nachteile solcher biotechnischer Eingriffe bei kommenden Generationen schlicht und einfach nicht. Und ganz abgesehen davon würde es wahrscheinlich ohnehin bloss ein kleiner Teil der Menschheit sein, der von der Menschenverbesserung profitierte. Die Conditio transhumana steht nicht allen offen. Im Gegenteil: sie diskriminiert.
Technologie der Transzendenz
Der Transhumanismus bietet uns Technologien der Transzendenz an. Sie übernehmen das Geschäft der Theologen. Ray Kurzweil ist der Johannes der Täufer der neuen Religion: Die Singularität ist nahe herbeigekommen!
Dagegen forderte Theodor Adorno ein „Ausmalverbot“ von Utopien. Wir sollten uns keine positiven Bilder einer utopischen Zukunft machen, weil sie uns im Grunde immer nur enttäuschen würden. Das hat durchaus etwas für sich. Visionen einer guten alten oder einer guten neuen Zeit sind im Grunde Perpetua mobilia der Frustration: Ihre Versprechen erzeugen, wenn umgesetzt, in der Regel Enttäuschungen, und Enttäuschungen rufen nach neuen Versprechen. Ein unablässiger, beschleunigter Kreislauf.
Etwas fehlt
Nochmals: Die Visionen der Menschenverbesserer spiegeln durchaus plausible menschliche Wünsche. Der Krebskranke wünscht sich eine Therapie, die anschlägt; der Querschnittsgelähmte eine intelligente Prothese; der Blinde einen Chip im Seh-Areal des Hirns. Das sind prinzipiell begrüssenswerte Posten in der Agenda der Leidensverminderung und Mangelbehebung. Utopien gehen aus von der Grunderfahrung „Etwas fehlt“[3], um die schöne Kurzformel von Ernst Bloch zu zitieren. Der Transhumanismus verspielt genau da seine Plausibilität, wo er dieses „Etwas fehlt“ in ein „Alles fehlt“ verwandelt, die schlaraffische Omnikompetenz zum Massstab des Humanen und den Menschen, wie wir ihn kennen, zum defizienten Apparat im Gerätepark erklärt .
Und vergessen wir am Ende eines nicht: Transhumanismus bedeutet im Grunde nicht die Überwindung des Menschen, sondern eines Menschenbildes. Gut möglich, dass wir bald schon auch das transhumane Menschenbild überwunden haben werden. Immerhin stünde es uns gar nicht so schlecht an, vermehrt wieder das Humane im Transhumanen zu bedenken.
[1] Nick Bostrom: The Fable of the Dragon-Tyrant; Philosophy Now, Nr.89, 2012. https://philosophynow.org/issues/89/The_Fable_of_the_Dragon-Tyrant
[2] Nick Bostrom: Letter from Utopia; 2010. http://www.nickbostrom.com/utopia.pdf
[3] In: Gespräche mit Ernst Bloch. Hrsg. von Rainer Traub und Harald Wieser. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980, S. 61.