Die Sumpfaraber am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris im Südirak bewohnen ein Feuchtgebiet, wo sich Bibelforschern zufolge einst der Garten Eden befand. Doch das Paradies, früher Lebensraum für Hunderttausende von Menschen, ist inzwischen fast zerstört.
Saddam Hussein hat die Sümpfe 1991 trockenlegen lassen und seither verschonen auch die Wasserpolitik der Türkei und Syriens sowie der Klimawandel das Sumpfgebiet nicht.
Zwischen 1951 und 1958 verbrachte der britische Entdecker Sir Wilfred Thesiger jedes Jahr mehrere Monate unter den Madan, wie die Sumpfaraber sich selbst nennen, und paddelte mit seinem Kanu von Dorf zu Dorf, um die Einheimischen medizinisch zu versorgen. Seine Medikamentenschachtel mit den Antibiotika war für ihn der Schlüssel, um das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen, die mit der Zeit zu Freunden wurden.
Saddam Husseins Verbrechen
Die Erinnerungen an seinen ersten Besuch der Madan, schrieb Thesiger in «The Marsh Arabs», seinem 1964 erschienenen Buch, «... haben mich nie verlassen: Feuerschein auf einem halb umgedrehten Gesicht, das Schreien von Gänsen …, Kanus, die in einer Prozession einen Wasserweg hinunterfahren, die untergehende Sonne, die purpurrot durch den Rauch brennender Schilfrohre zu sehen ist, schmale Wasserwege, die sich noch tiefer in die Sümpfe schlängeln …, Schilfhäuser, die auf dem Wasser gebaut sind, schwarze, tropfende Büffel …, Sterne, die sich im dunklen Wasser spiegeln, das Quaken von Fröschen …, die Stille einer Welt, die nie einen Motor kannte ...»
Als Sir Wilfred in den 1950er Jahren die Sümpfe im Südirak besuchte, lebten dort Schätzungen zufolge 400’000 bis 500’000 schiitische Araberinnen und Araber, unter ihnen Zehntausende allein vom Einsammeln des Schilfs, von der Fischerei und der Aufzucht von Wasserbüffeln. Weil Saddam Hussein nach dem Golfkrieg um Kuwait das Feuchtgebiet weitgehend trockengelegt hatte, um zahlreichen Dissidenten und Deserteuren ein Refugium zu entziehen, schrumpfte die Zahl der Madan vorübergehend auf gegen 20’000. Human Rights Watch nannte das Vorgehen des irakischen Diktators «ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit».
Saddam Hussein bestrafte die Sumpfaraber, weil sie ihn im Krieg gegen Kuweit seines Erachtens zu wenig, den irakischen Widerstand aber zu stark unterstützt hatten. Wie die Kurden im Norden waren die Schiiten im Süden des Landes 1991 einem Aufruf von George Bush Sr. gefolgt und hatten sich gegen den Diktator in Bagdad erhoben – ein Aufstand, den dieser in der Folge mit Artillerie und Kampfhelikoptern brutal niederschlagen liess. Mutmasslich Zehntausende starben. Gegen die aufständischen Kurden im Norden des Landes hatte das irakische Regime in der Stadt Halabja Giftgas eingesetzt. Der Grossteil des Feuchtgebiets war verschwunden.
Bemühungen zur Wiederbelebung
Von einst bis zu 20’000 Quadratkilometern Sumpfland blieben in der Folge laut einem Uno-Bericht noch 1’400 Quadratkilometer übrig. Auch Satellitenbilder der NASA von 1992 und 2000 zeigen, dass mehr als 90 Prozent des Feuchtgebiets verschwunden sind – der Uno zufolge «eine der grössten Umweltkatastrophen weltweit» und gemäss Ökologen mit der rücksichtslosen Abholzung des Regenurwaldes in Brasilien zu vergleichen. Das Wasserministerium in Bagdad möchte künftig mindestens 2’800 Quadratkilometer Sumpf erneut bewohnbar machen – ein Plan, dessen Umsetzung auch von der Willkür des Klimas abhängt in einer Gegend, in der es im Sommer bis zu 50 Grad heiss werden kann.
Zehntausende Madan flohen Anfang der 1990er Jahre in den Iran, wo sie in Lagern Unterkunft fanden; andere zogen in Dörfer und Städte am Rande des riesigen Feuchtgebiets. Neuerdings ist die Zahl der Madan wieder im Steigen begriffen, seit ein staatliches Bewässerungsprogramm sowie der Support von privaten Organisationen wie Amar (Assisting Marsh Arabs and Refugees) und von Exilirakern helfen, das Sumpfland wiederzubeleben. Dämme sind erneut geöffnet worden und einst von Saddam Hussein zur Trockenlegung der Sümpfe angelegte Kanäle füllen sich allmählich.
Es lässt sich nur mutmassen, wie viele Sumpfaraber in ihr angestammtes Siedlungsgebiet zurückkehren und dort ein Auskommen finden. Etliche leben derzeit am Rande der Sümpfe oder in nahegelegenen Dörfern und Städten. «Die Sümpfe sind Teil unseres Erbes und wir tun alles Menschenmögliche, um das Wasser zu finden, das sie überleben lässt», hat der für Wasser zuständige irakische Minister Hassan Janabi vor ein paar Jahren gesagt. Auf jeden Fall gehören die Sümpfe heute zum Unesco-Welterbe.
«Ausserhalb der Sümpfe sind wir verloren»
Noch vor 30 Jahren hatten die südirakischen Sümpfe vor Vegetation gestrotzt. «Das Schilfrohr stand hoch und wuchs rasch nach», zitiert ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP den Einheimischen Dschasim Kerim: «Ich hatte ein Boot und habe mit einem Fangnetz oder einer Lanze gefischt. Wir haben Wasservögel gejagt und gut gelebt.» Wie andere zurückgekehrte Flüchtlinge hofft Kerim auf bessere Zeiten. «Ausserhalb der Sümpfe sind wir verloren», weiss er: «Wir können uns an keine andere Lebensweise gewöhnen.»
Leicht jedoch war der Alltag der Madan nie und er wird es, so möglich, auch künftig nicht sein. In den Dörfern gab es nur wenige Schulen, noch weniger Gesundheitseinrichtungen und gar keinen Strom. Ihre einzigartige Kultur, die Frauen einst als praktisch gleichberechtigt sah, ist inzwischen unter dem Einfluss der Religion sozial konservativeren Normen gewichen. Wurde etwa einst bei Hochzeiten gesungen und getanzt, wird heute einem irakischen Beamten zufolge «nur noch Essen serviert».
Die Lebensweise der Madan ist Jahrtausend Jahre alt. «Fünftausend Jahre Geschichte waren hier und ihr Muster ist nach wie vor dasselbe», schrieb Wilfred Thesiger 1964. Schon sumerische Tafeln zeigen die für die Sümpfe typischen Häuser aus Schilf mit ihren gewölbten Dächern. Schilf, dessen Halme guter Nährstoffversorgung wegen bis acht Meter hoch wurden, war der wichtigste Rohstoff, den die Sümpfe lieferten. Die Einheimischen flochten daraus Matten, die sie in den umliegenden Städten verkauften. Teils bauten sie Getreide und Reis an und im Süden fingen sie Garnelen, nach denen in Kuwait eine grosse Nachfrage besteht. Im Südosten der Sümpfe finden sich Erdölvorkommen.
Die Türkei baut 34 Staudämme
Der britische Offizier, Archäologe und Geheimagent T. E. Lawrence, als «Lawrence of Arabia» bekannt, hatte 1916 einen Blick auf den Alltag der Madan erhascht, als er auf dem Weg nach Basra den Südirak durchquerte. Er erinnerte sich später, die Sumpfaraber seien «wunderbar hartgesotten (…), aber fröhlich und sehr gesprächig. Sie leben die ganze Zeit im Wasser und scheinen das kaum zu bemerken». Auch die Zuger Orient-Reisende Helen Keiser war in den 1950er Jahren unter den Madan unterwegs und hat unter anderem in ihrem Buch «Salaam» in Wort und Bild über deren Alltag berichtet.
Heute gibt es nicht viel, was die irakische Regierung und die Madan tun können, um die Sümpfe längerfristig zu retten. Die Türkei hat am Oberlauf von Euphrat und Tigris und deren Zuflüssen mindestens 34 Staudämme gebaut, welche die Wassermenge reduzieren, die den Irak erreicht. Gleichzeitig haben die Regenfälle im Norden des Landes abgenommen. «Der unstillbare Durst der Region könnte bewirken, was Saddam nie gelungen ist: die Sümpfe für immer auszutrocknen», hat der Londoner «Guardian» Anfang 2017 in einer Reportage aus dem südirakischen Dorf Ishan al-Gubbha gewarnt.
Drei Jahrzehnte nach Wilfred Thesiger hat der Londoner Autor und Fotograf Michael Spencer 1981 die Sümpfe im Südirak besucht und sich wie sein Landsmann von der einzigartigen Architektur des Mudhif, des traditionellen Gästehauses und Versammlungsortes der Madan mit seinem über fünf Meter hohen Gewölbe, faszinieren lassen. Thesiger verglich die Schilfhäuser mit gotischen Kathedralen, «ein Eindruck, der durch das gerippte Dach und die Masswerkfenster an beiden Enden noch verstärkt wurde, durch die helle Lichtstrahlen in den düsteren Innenraum drangen».
Nach seinem Besuch fährt Michael Spencer unter einem bewölkten Himmel und bei stark aufkommendem Wind zurück in Richtung Basra. Es dräut der erste Sandsturm des Sommers, dem später noch mehrere Stürme, auch tödliche, folgen sollten: «Als wir dem Deich entlangfuhren, der als Strasse diente, sah ich ein kleines Madan-Dorf, das sich eng an den Wind kauerte und in das unheimliche Licht des Sturms getaucht war. Es war eine uralte Szene, furchteinflössend und beunruhigend: ein Mensch, der mit den unbarmherzigen Kräften der Natur kämpft, die ihm seinen Schutz – und vielleicht sein Leben – entreissen wollen. Und obwohl ich wusste, dass die Madan den Sturm überleben würden, wusste ich auch, dass das 20. Jahrhundert, wenn sich der Staub gelegt hatte, immer noch da sein würde, eine unerbittliche Bedrohung für die grossartige Einfachheit ihres ganz besonderen Lebens.»
Quellen: NZZ, The Guardian, The New York Times, SDA, Aramco Magazine, Wikipedia