“Der Weg zur Freiheit ist nicht bequem, und viele von uns müssen durch das Tal der Schatten gehen, bevor wir den Höhenzug unserer Hoffnungen erreichen“. Dieser biblisch tönende Satz war auf Aung San Suu Kyi gemünzt. Sie ist in den letzten Monaten aus dem Schattenreich der burmesischen Militärdiktatur getreten, sichtlich gealtert und gezeichnet von zweiundzwanzig Jahren Hausarrest, ihr Charisma jedoch weitgehend intakt.
Eine Geschichte von Opportunismus und Verrat
Ihre erste Auslandsvisite nach Thailand verlief überaus erfolgreich, und nun wird sie in der kommenden Woche nach Oslo aufbrechen, um den Friedensnobelpreis in Empfang zu nehmen, den sie 1991 erhalten hatte. Auf dem Weg dorthin wird sie in die Schweiz reisen, in Genf und Bern Station machen. Danach wird sie England besuchen, wo ihre beiden Söhne wohnen, die sie 1988 fuer einen kurzen Besuch Myanmars verlassen hatte, um dann für 22 Jahre im Räderwerk der Diktatur zu verschwinden.
Das Zitat vom ‚Tal der Schatten‘ ist der Begründungsurkunde für einen indischen Preis entnommen, der Suu Kyi ebenfalls in absentia verliehen worden war. Auch dieser wartet darauf, entgegengenommen zu werden, aber im Gegensatz zum Nobelpreis zeigt die Geehrte keine Eile, nach Delhi zu eilen. Denn hinter der bombastischen Metapher vom ‚Tal der Schatten‘ verbirgt sich eine Geschichte von Opportunismus und politischem Verrat.
Ein Jahr nach dem Friedensnobelpreis hatte die indische Regierung der burmesischen Gesinnungsgefangenen den Nehru-Preis verliehen. Als junges Mädchen hatte Suu Kyi ihr erstes politisches Exil in Indien erlebt, auch wenn es damals noch vergoldet gewesen war. Ihre Mutter amtete damals als Botschafterin Burmas in Delhi. Sie war auf den Diplomatenposten abgeschoben worden, nachdem sie das politische Erbe ihres Manns Aung San, angetreten hatte.
Jugendjahre in Indien
General Aung San hatte Burma 1947 in die Unabhängigkeit geführt und war noch im gleichen Jahr von putschenden Offizieren ermordet worden. Mit der Ernennung zur Botschafterin in Delhi hatten sich die Täter des familiaeren Restrisikos entledigt.
Suu Kyi verbrachte sieben Jahre ihrer Jugendzeit in Indien. Sie machte dort viele Freunde, und sie wurde stark vom Idealismus der Gewaltlosigkeit gepraegt, der die indische Unabhängigkeitsbewegung zum Erfolg geführt hatte. Nehru und Mahatma Gandhi waren ihre Vorbilder, als sie 1988 nach Burma zurückgekehrt war und ihre Partei, die ‚National League for Democracy‘(NLD) 1990 zu einem Erdrutschsieg geführt hatte.
Delhi kuscht
Die Verleihung des Nehru-Preises an Suu Kyi war daher nur folgerichtig. Indien ehrte damit eine Person, die fuer ihr Einstehen von Demokratie und Gewaltlosigkeit büssen musste. Die Generäle in Rangun reagierten auf den Preis mit der Drohung, die bilateralen Beziehungen abzubrechen. Den Politikern in Delhi wurde angst um ihren eigenen Mut. Statt weiterhin für eine Rückkehr zur Demokratie einzustehen, kuschte das mächtige Indien vor dem Armenhaus an seiner Ostgrenze.
Zwar wurden die zahlreichen burmesischen Studenten und Oppositionsgruppen in Indien weiterhin toleriert. Während Jahren gab der frühere Gewerkschafter George Fernandes den Studenten auf dem Gelände seiner offiziellen Residenz Gastrecht, selbst als er 1999 Verteidigungsminister wurde. Doch das offizielle Indien hängte seine Ideale in den Wind, um es mit den Generälen nicht zu verderben. „Als loyaler Bürger Indiens bricht es mir das Herz“, schrieb Wirtschaft-Nobelpreistraeger Amartya Sen, „zu sehen, wie der Premierminister meines Landes die Schlächter von Myanmar willkommen heisst“.
Bejings "Realpolitik"
Der Stock, mit dem die Generäle drohten, hiess ‚China‘. Mit der ueblichen ‚realpolitischen‘ Zynik wurde Beijing für den südwestlichen Nachbarn zur wichtigsten Regimestütze. China nutzte Yangons Isolation und Abhängigkeit, um sich für diesen politischem Flankenschutz fast unumschränkte Wirtschaftsrechte zu sichern – Bau von Eisenbahn-Trassen, Strassen und Häfen, Schürf- und Förderrechte für Bodenschätze. Sie Alle dienten dem Ziel, den Südwestprovinzen Chinas Rohmaterialien, Energie und vorallem Meeresanstoss zu sichern.
Indien, das sich für seinen Verrat an der Demokratiebwegung schämte, hatte nicht den Mut, mit derselben Kaltschnäuzigkeit als Rivalin Chinas aufzutreten.
Es war nicht Delhis halbherziges Hofieren und auch nicht die internationalen Wirtschaftssanktionen, die Chinas ‚Lifeline‘ vor einem Jahr schliesslich schnappen liess. Es war vielmehr die Einsicht der Generäle, dass das chinesische Rettungsseil einer neokolonialen Fessel immer ähnlicher sah. Und es war die Einsicht des neuen Generalissimus, Thein Sein, dass Suu Kyis Standfestigkeit immer mehr zu einem politischen Mühlstein für das Regime wurde, die ihn bewog, ihren Hausarrest im November 2010 aufzuheben.
"Etwas traurig"
Nun rafft sich das offizielle Indien hastig auf, seine Beziehungen mit der Demokratiebwegung zu reparieren. Es ist höchste Zeit. Als der NLD-Kongress kürzlich über seine künftige Politik debattierte, habe „niemand gegen Indien das Wort ergriffen“, schrieb die Hindustan Times. „Aber Keiner war für Indien. Sie sahen Indien nicht als einen Faktor fuer demokratischen Wandel“.
Manmohan Sing besuchte Ende Mai Myanmar und traf dabei auch Suu Kyi. „Wir in Indien sind sehr stolz auf unsere lange Beziehung mit ihr“, sagte er, und Suu Kyi antwortete mit diplomatischen Freundlichkeiten. Am Tag zuvor war sie weniger diplomatisch gewesen. In einer Video-Konferenz mit Studenten der Universität Hongkong sagte sie, sie sei „etwas traurig, dass Indien sich nicht so stark mit unserem Schicksal engagiert hat wie wir es erhofft hatten“.
In der langen Zeit, in der Suu Kyi störrisch an ihrer Ablehnung des Regimes festhielt, warfen ihr indische Intellektuelle manchmal vor, ihr Festhalten an der Gewaltlosigkeit habe zwar die moralische Qualität eines Mahatma Gandhi, aber ihr fehle die strategische Fähigkeit, diese politisch nutzbar zu machen. Nun ist sie es, die ihrem politischen Lehrmeister vormacht, wie man mit dem politischen Gegner umgehen kann, ohne die eigene Seele zu verschachern.
Mahnung an ausländische Incestoren
Obwohl die kürzlichen Nachwahlen unter einer scheindemokratischen Verfassung durchgeführt wurden, nahm Suu Kyis NLD daran teil und gewann 43 der 45 zur Wahl stehenden Sitze. Und die noch höhere Hürde – der Eid auf diese selbige Verfassung – nahm sie nach anfänglicher Zurueckweisung, in der Einsicht, dass ihre Wähler mit ihrer Stimme fuer die NLD genau dieses Opfer verlangt hatten.
Aber nicht nur Indien, auch der Westen kann von Suu Kyis ‚flexibler Standfestigkeit‘ lernen. Bei ihrem kürzlichen Besuch in Bangkok wandte sie sich, im Rahmen eine regionalen WEF-Konferenz, an westliche Investoren. Suu Kyi nutzte die Gelegenheit nicht, um gegen die Generäle zu polemisieren, die sie 22 Jahre lang drangsaliert hatten. Stattdessen forderte sie die Industrievertreter auf, in ihrem Land zu investieren, und dabei auch die Interessen des Landes zu respektieren: „Ich verstehe, dass Investoren von ihrem Einsatz profitieren wollen – ich bin einverstanden damit. Aber auch unser Land muss Gewinn daraus ziehen können, genauso wie Jene, die ihr Geld investieren."