Die türkischen Nationalwahlen haben die gewaltige Aufmerksamkeit, die ihnen gerade zuteil wird, verdient. Zwar war die Anzahl der internationalen Wahlbeobachter nicht viel höher als bei den letzten vor fünf und vor zehn Jahren; doch die Lage war diesmal weit interessanter.
Die Autorin war als Mitglied einer freiwilligen Wahlbeobachtungsgruppe auf Einladung der HDP im kurdischen Gebiet.
Obwohl ich nur in wenige Wahllokale direkt hineinsehen konnte, habe ich einen mächtigen Eindruck über die Stimmung in der östlichen Türkei mit nach Hause genommen.
Zunächst die unglaublich energische, optimistische Aufbruchstimmung, welche vor allem die jungen, engagierten kurdischen Kandidaten und Kandidatinnen verbreiteten. Sie strahlten vor Zuversicht und wirkten kompetent und vertrauenserweckend. Ihre Reden und ihr Auftritt riss die Leute mit. Dass sie tatsächlich voll überzeugt waren, die Wahlen zu gewinnen, konnte eine trockene Schweizerin kaum richtig glauben. Doch die tiefe Verzweiflung nach dem Ergebnis vom Sonntag beweist es: Sie haben gemeint, es sei zu schaffen. Und sie wissen, dass der gemeinsame Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu die Stichwahl nicht gewinnen kann.
Ein Schritt vorwärts ist erreicht
Dabei waren sie wirklich so nah dran. Näher aber, glaube ich, war jedenfalls jetzt noch unmöglich. Die Opposition und alle ihre Wählerinnen und Wähler könnten glücklich sein über den Erfolg und wissen, dass ein Schritt gewonnen ist: Der regierende Präsident ist so angeschlagen wie noch nie, sein vermeintlich stabiler Glanz hat gelitten und er wird nie mehr so weit oben stehen wie bisher.
Die Schwierigkeiten sind kaum aufzuzählen: Die heimliche Favoritenpartei HDP heisst zwar Partei der Völker, doch alle wissen, dass sie «den Kurden nahesteht» und ihre Parlamentsvertretung den obersten Regierungschef (der sich selber zum Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten gleichzeitig machen liess, nachdem er beide Ämter innegehabt hatte) mächtig stört. Nun war sie ausgeschlossen, die meisten ihrer Exponenten sind im Gefängnis oder unter Anklage. Sie hatten sich mit den sechs zusammengeschlossenen Parteien auf deren Kandidaten geeinigt, war aber nicht selber im Bündnis. Nur die Grünen Linken (Yeşil Sol Parti*) nahmen die grosse HDP unter ihrem Namen auf. Kurz, es war schon für politisch Informierte sehr schwierig zu wissen, wem man die Stimme geben sollte. Trotzdem war die Überzeugung, dass der Langzeitautokrat weg müsse, so mächtig, dass es beinahe gereicht hätte.
Woran mag es liegen? Dass gerade die erdbebenbetroffenen Städte Erdogan-Hochburgen geworden oder geblieben sind? Dass trotz Polizeistaat, Wirtschafts- und Finanzzusammenbruch derjenige Präsident bleibt, der die Fortsetzung des Niederganges verspricht? Der mit brutaler Gewalt, Häme und Hassrede hetzt?
Eines ist wohl sicher: Weil mit der Dauer der korrupten Herrschaft die Vernetzung ständig zunimmt. Bald sind alle – die noch da sind – irgendwo beteiligt an der gesamtwirtschaftlichen Korruption, profitieren auf irgend einem Weg davon oder wissen, dass sie verlieren, wenn die Machtverhältnisse ändern.
Erdogans Plakat- und TV-Dominanz in Diyarbakir
Was ich gesehen habe, war einmal die unerträgliche Bedrängung und Einschüchterung durch die aufdringliche bewaffnete Polizei in Zivil oder Uniform. Überall halten sie dich willkürlich an, kontrollieren, kopieren die Pässe und wollen dich zu ihren «Vorgesetzten» schleppen. Um eine Kundgebung der oppositionellen Parteien zu sehen, muss man mehrere Reihen von Polizisten – zum Teil fast Kinder – durchlaufen, Taschen durchsuchen lassen, die Stifte werden einbehalten, weggeworfen (und dann von einer Polizistin oder einem Kind eingesackt), eine Kamera ist Grund für die Verschleppung zur Polizeistation.
Aber es sind noch andere Beobachtungen, die mir wichtig scheinen. Die ganze Stadt Diyarbakir, wo eigentlich mehrheitlich kurdisch gewählt wird, durchzieht eine hochprofessionell designte Plakatkampagne mit Bildern von Erdoğan. Er ist = Verantwortung, = Nation, einfach = alles, der Slogan variiert, sein Foto ist immer gleich und im Blau der AKP. Doch auf dem schönsten Boulevard vor der Stadt steht er einfach für die Türkei, rot neben der roten Landesfahne lässt er keinen Meter Sicht ohne sein Statement frei.
Andere Kandidatenfotos waren in der Stadt an Wänden aufgeklebt und wurden kaum beachtet; im Vergleich wirkten sie bereits als Verlierer. Ausserdem fand ich das TV-Programm bemerkenswert. Ohne die effektiven Verhältnisse der Fernseh-Abhängigkeit zu kennen, ergab das mehrfache Durchzappen von Kanälen vor der Wahl einen drückenden Befund. Die Unterhaltungskanäle bieten ausser den amerikanischen oder türkischen Filmen wirklich seichteste Unterhaltung, fast bis zum Ekel. Danach aber folgen gefühlt 97 Kanäle, die allesamt Erdoğan bewerben, und ganz am Schluss (bevor man verzweifelt aufgibt) bringen vielleicht zwei Sender eine Art objektive Information über alle andern Kandidierenden.
Diese wirklich schamlose Vereinnahmung des Fernsehens war am Wahlsonntagabend nochmals vollkommen. Über Stunden verbreiteten alle Fernsehsender pausenlos Erfolgsmeldungen von Erdoğans Wahl, bevor überhaupt Auszählungen vorlagen. Das ist Kalkül. Die Informationsgier füllen mit falschen Meldungen, bis alle frustriert und niedergeschlagen sind und gar nicht mehr weiter hören wollen. Oder so verwirren, dass alle einfach an den überragenden Sieg glauben – so werden die feiernden Mengen in Ankara, wo Erdoğan gnädig vom Balkon heruntersprach, sich nachher nicht mehr vom Gegenteil überzeugen lassen.
«Wir haben ein Sprichwort in der Türkei für diese Leute, die sich von solchen falschen Führern verblenden lassen: Sie lieben ihren Mörder», erklärte mir eine Türkin.
Das süsse Gift der Moscheen
Es gibt noch ein anderes süsses Gift von Erdoğans Erfolg. Die gleiche Frau sagte: «Zu zwei alten Schulen gibt es überall fünf neue Moscheen», und ja, ich habe es gesehen. Auf einer Fahrt durch die Dörfer blitzen dir überall die Dächer neugebauter Moscheen entgegen. Diese Regierung und ihre Anhänger wollten das Land regelrecht verdummen mit der verordneten Religiosität, sagen mir die jüngeren Männer und älteren Frauen. Der Fahrer Özgür – das bedeute der Freie, betont er – radebrecht (er war in Australien und will nach Westeuropa): «Too many police and too many mosques fills the brains of the people», und er ist das beste Beispiel für junge Männer seines Alters: Nur weg von hier. Er wolle sich gar nicht mit Politik befassen, sondern ein Leben, einen Beruf, eine Familie haben, und das könne er hier auf keinen Fall. Ein anderer hat nach seinem jahrelangen Studium mit ausgezeichnetem Abschluss gerade mal einen Job als Pflaumenpflücker gefunden, sagt, er müsse das Land verlassen, so gern er hier auf seinem Beruf arbeiten würde.
Land hat die Türkei wirklich viel, die Leute laufen weg, der Brain-Drain ist akut. Hier werden Leute, die irgendwelche politische, soziale oder unternehmerische Ambitionen haben, gnadenlos weggedrückt und durch jene ersetzt, die der Regierungspartei angehören. In den kurdischen Provinzen wurden die gewählten Bürgermeister und Bürgermeisterinnen (je eine Frau und ein Mann an der Spitze der Regierung), sozial und umweltpolitisch engagierte Politikerinnen, kurzerhand abgesetzt und durch einen von Ankara geschickten Gouverneur ersetzt –, welcher selbstverständlich keine Gelder freigibt für die notwendigen und gewünschten Infrastrukturen, sondern vermutlich Moscheen baut, um der Regierung die Unterstützung der Gläubigen und vor allem ihrer Imame zu sichern.