Es hat etwas von David gegen Goliath.
Hier, irgendwo im tiefen Frankreich, ein paar hundert ländliche Anwohner, die sich gegen die Ansiedlung des US-Konzerns und den Bau einer gigantischen Lagerhalle in ihrer unmittelbaren Umgebung zu wehren versuchen.
Dort einer der weltgrössten Konzerne, der die Fühler ausstreckt und auf seine sehr eigentümliche, fast heimliche Art und Weise auf dem flachen Land sesshaft werden und einen seiner überdimensionalen Kästen aus Beton und Leichtmetall in die Landschaft setzen möchte, mit allen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen für die Region.
Asterix gegen Onkel Sam – ein ungleiches Duell.
Strategisch für Europahandel
Denn in der Tat ist seit Sommer letzten Jahres in Frankreich kaum ein Monat vergangen, in dem nicht irgendwo auf dem freien Feld zwischen Metz im Nordosten, Nantes und Quimper im Westen, Avignon und Nîmes im Süden oder im östlichen Elsass, hier Hunderte, dort inzwischen einige Tausend Anwohner gegen eine mögliche Niederlassung des Internetgiganten Amazon auf die Strasse gegangen wären. Zum letzten Mal an einem Samstag Ende Januar und dies gleich an mehreren Orten gleichzeitig, was so viel heisst, dass sich in Frankreich so etwas wie eine Anti-Amazon-Bewegung inzwischen landesweit organisiert hat.
Denn nach und nach ist durchgesickert, dass der Weltkonzern sich Frankreich als künftigen Europastützpunkt ausgesucht hat, sich an 10 bis 15 – so genau weiss man das bei Amazon nie – weiteren Orten im Land anzusiedeln versucht. Ein gutes Dutzend Standorte von Amazon gibt es in Frankreich bereits.
Nicht zufällig sind die meisten der geplanten Niederlassungen nicht allzu weit von den Aussengrenzen Frankreichs entfernt: im Elsass stehen zum Beispiel Enisheim und Dambach-la-Ville zur Diskussion. In Augny, südlich von Metz, haben, trotz aller Proteste seit Anfang 2019, die Bauarbeiten für ein Logistikzentrum mit 185’000 Quadratmetern Lagerfläche begonnen. Und in Lauwin, im krisengeschüttelten Nordfrankreich, wurde Ende 2019 ein Depot von 135’000 Quadratmetern eröffnet.
Von diesen vier Standorten aus sind die Wege entweder in die Schweiz oder nach Deutschland, Luxemburg oder Belgien nicht weit. Fournès, ein kleines Dorf in Südfrankreich zwischen Nîmes und Avignon, liegt nicht allzu weit von Spanien entfernt. Ein weiteres umstrittenes Grossprojekt, östlich von Lyon, in der Nähe des Flughafens Saint Exupéry, könnte ebenfalls die Schweiz mitbedienen.
Das Dorf Fournès
Die lautstärksten Proteste gegen die Expansionsberstrebungen von Amazon in Frankreich kommen in den letzten Monaten aus dem südfranzösischen Fournès, einem mittelaterlichen Dorf mit knapp 1000 Einwohnern, unweit der Autobahn zwischen Avignon und Nîmes. Es liegt am westlichen Rand des Rhônetals, in der Ferne schon die Cevennen, in einem landwirtschaftlichen Gebiet mit reichlich Weinbau, wo auch Jean-Louis Trintignant einst jungen Winzern unter die Arme gegriffen und einige Hektar Rebland erworben hatte für das Weingut mit dem poetischen Namen, der an den Film „Kinder des Olymp“ erinnert: „Rouge Garance“.
Das geplante Logistikzentrum, keinen halben Kilometer vom Ort entfernt, soll auf einer Fläche von acht Fussballfeldern entstehen: 400 Meter lang, 100 Meter breit und 20 Meter hoch, 23’000 Quadratmeter Lagerfläche auf sechs Etagen – eines der drei grössten Depots von Amazon in Europa.
Ein wahrer Klotz aufs Auge, der zudem auch noch nur wenige Kilometer vom legendären Pont du Gard entfernt in die Landschaft ragen soll, diesem Meisterwerk römischer Baukunst und Wasserversorgung, das immerhin zum Unesco-Weltkulturerbe zählt und in normalen Zeiten jährlich von einer Million Touristen besucht wird.
Der Bürgermeister von Fournès und mehrere Kollegen aus umliegenden Gemeinden befürworten das Projekt. Sie hatten es aber so lange wie möglich geheim gehalten, weil sie in den entsprechenden Verträgen Geheimhaltungsklauseln unterzeichnen mussten. Jetzt rücken sie im Streit, der schon seit zwei Jahren andauert und ihre Dörfer – in denen der Haussegen mittlerweile gründlich schief hängt – in zwei Lager gespalten hat, natürlich das Argument der Arbeitsplätze in den Vordergrund. Und ausserdem die daraus resultierende wirtschaftliche Belebung der ganzen Region und die Steuereinnahmen, die da sprudeln werden.
Der Internetriese aus Seattle verspricht mindestens 600 Festanstellungen, zu denen, wie bei Amazon üblich, eine nie näher bekannte Zahl von Leiharbeitern hinzukommen dürfte, wobei – und das ist in Frankreich bisher einmalig, ausser bei Amazon noch nie vorgekommen – die Leiharbeitsfirmen direkt in den Logistikzentren des Grosskonzerns ihre Zelte aufschlagen.
Zynisches Spiel
Nach und nach scheinen aber immer mehr Menschen auf dem flachen Land in Frankreich, wo Amazon wie eine Krake seine Fühler ausstreckt, zu spüren, dass die Weltfirma bei der Suche nach neuen Standorten ein reichlich zynisches Spiel mit der sozialen und ökonomischen Misere in diesem Land spielt, in dem mehr oder weniger fünf Millionen Einwohner arbeitslos sind und neun von 67 Millionen unter der Armutsgrenze leben.
Denn Amazon wählt, sofern eine Autobahnauffahrt in der Nähe liegt, die Liegenschaften für künftige Grossprojekte, wie auch im Fall des südfranzösischen Dorfes Fournès, überwiegend in besonders strukturschwachen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit aus und betreibt dort, ohne all zu grosse Mühe und tendenziell mit Erfolg, eine Politik der Erpressung mit dem Argument von Arbeitsplätzen, nach dem Motto: wenn ihr uns hier nicht wollt, ziehen wir eben weiter und ein anderer Ort und ein anderer Landstrich wird vom Arbeitsplatzangebot und vom Steuersegen profitieren.
Argumente der Gegner
Die Gegner von Amazon zwischen Nîmes, Uzès und Avignon aber, die seit November letzten Jahres immer mehr Zulauf erhalten und mittlerweile sogar von der Präsidentin der Region „Occitanie“ unterstützt werden, verweisen darauf, dass laut mehrerer Studien inzwischen nachgewiesen ist, dass ein Arbeitsplatz, der von Amazon geschaffen wird, gleichzeitig rund zwei bestehende Arbeitsplätze, vor allem im Einzelhandel, vernichtet und dass das Arbeitsplatzargument damit absolut hinfällig sei.
In diesem Zusammenhang geisseln sie auch die Widersprüchlichkeit der Pariser Zentralregierung, die sich zur jüngsten Expansionsstrategie von Amazon bislang äusserst bedeckt gehalten hat. Zum einen habe die Regierung unter Präsident Macron das echte und ernste Problem der vor sich hin sterbenden Zentren vieler französischer Klein- und Mittelstädte beim Schopf gepackt und für die nächsten Jahre ein fünf Milliarden-Euro-Programm zu deren Wiederbelebung aufgelegt.
Gleichzeitig weigere sie sich aber bislang, öffentlich gegen die weiteren Ansiedlungen von Amazon und anderen Internethändlern Stellung zu beziehen, wo diese Firmen doch bisher schon ganz entscheidend zur Schliessung unzähliger, kleiner Geschäfte und zur Verödung vieler französischer Innenstädte beigetragen hätten. Darüber hinaus hätten die zwei Lockdowns für kleine Geschäfte seit Beginn der Pandemie und die damit verbundenen Einbussen bei gleichzeitiger Umsatzsteigerung von 80% bei Amazon in Frankreich diesen Widerspruch schliesslich ja noch zusätzlich verdeutlicht.
Amazon zahlt fast keine Streuern
Und zu guter Letzt halten die Anti-Amazon-Aktivisten, und nicht nur im südfranzösischen Fernès, noch das Argument der künftigen Umweltbelastung hoch. Das geplante Logistikzentrum würde für das kleine Dorf und die umliegende Kulturlandschaft bedeuten: täglich zusätzliche 600 Lastwagen und 2’500 PKWs auf den kleinen Strassen der Umgebung, die im normalen Berufsverkehr ohnehin schon überlastet sind.
Und generell, so sagen die Aktivisten in Fernès, müsse man doch auch endlich den Widersinn zumindest einschränken, dass die Franzosen bei Amazon (25% Marktanteil beim Internethandel) Produkte kaufen, die überwiegend in China hergestellt wurden, über einen in Frankreich angesiedelten US-Konzern, welcher in Frankreich aber so gut wie keine Steuern bezahlt. Dabei wird immer wieder die Zahl ins Feld geführt, wonach die vom US-Giganten nicht gezahlte Steuersumme das gesamte Defizit im französischen Gesundheitswesen abdecken würde.
Eine verschwiegene Firma
Darüberhinaus sorgt an allen Orten, an denen sich der Internetgigant niederlassen möchte gerade auch sein besonders perfides Vorgehen bei der Auswahl von Standorten und beim Ankauf der Bauflächen für Empörung. Denn die Firma nennt, so lange es irgendwie geht, nie ihren Namen und kommt verschleiert daher. So lange es um den Erwerb der riesigen Grundstücke und später um die entsprechenden Baugenehmigungen geht, taucht der Name Amazon niemals auf.
Da werden erstmal Unternehmen aktiv, die sich so exotische Logos wie EUROVIA 16 oder, im Fall von Fournès, ARGAN verpasst haben. Diese treten jeweils nur als Bauunternehmer und Dienstleister in Erscheinung, um hinterher die gigantischen Lagerhallen schlüsselfertig zu vermieten. Dass der werte Mieter am Ende dann Amazon heisst, erfährt die Öffentlichkeit meistens erst, wenn für juristische Einsprüche alles oder fast alles zu spät ist.
Im südfranzösischen Fournès jedoch wurde das Geheimnis eher früh gelüftet, so dass momentan beim Verwaltungsgericht in Nîmes noch elf Einspruchsverfahren gegen das Bauprojekt anhängig sind und die Bauarbeiten erst mal auf Eis gelegt sind.
Nicht die Bohne
Generell tritt Amazon in Frankreich als Firma auf, die sich, so weit wie möglich, jeder öffentlichen Kontrolle entzieht. Sie ist so gut wie nicht zu erreichen, sie ist aalglatt und schweigt sich am liebsten aus, ihre Kommunikationsabteilung ist noch verschlossener als die der französischen Atomindustrie, und das will etwas heissen. Wenn der Chef von „Amazon France“ sich ein Mal im Jahr öffentlich in den Medien zu Wort meldet, in einer antrainierten, hölzernen Sprache daherredet, um am Ende aber so gut wie gar nichts gesagt zu haben, dann ist das schon ein kleines Ereignis. Eines sagt er bei dieser Gelegenheit seit einigen Jahren aber bestimmt, es ist zu einer Art Ritual zum jeweiligen Jahresanfang geworden: „Amazon wird in Frankreich dieses Jahr zwei-, drei- oder viertausend Arbeitsplätze schaffen.“
Es kann vorkommen, dass der Frankreichchef des Internetgiganten jetzt, angesichts der Proteste quer durchs Land gegen künftige Niederlassungen seiner Firma, dann auch noch sagt: „Nein, nein, Amazon hat keinerlei Pläne, sich an diesem oder jenem Ort anzusiedeln.“ Darauf kann man allerdings so gut wie gar nichts geben, in zwei Jahren kann das schon wieder ganz anders aussehen, Amazon hat einen langen Atem und was juckt es dann in zwei Jahren einen Chef der Frankreichabteilung, dass er vor zwei Jahren schlicht und einfach gelogen hat? Nicht die Bohne.
Letzten Dezember jedoch musste der Frankreichchef von Amazon etwas konkreter werden, als er vor den Wirtschaftsausschuss der Nationalversammlung in Paris geladen war. Auf mehrmalige Nachfrage rückte er schliesslich mit den Expanionsplänen von Amazon heraus, die einer Grossoffensive gleichen. Man wolle die Lagerkapazitäten in Frankreich im Lauf der nächsten drei Jahre verdoppeln, jedes Jahr ein neues Logistikzentrum von 160’000 Quadratmetern bauen und pro Jahr zwischen fünf und zehn kleinere Verteilerzentren eröffnen.
Machtfrage
Gewiss, der Widerstand gegen Amazon verschafft sich in Frankreich mehr und mehr Gehör. Und doch darf man fast 100-prozentig sicher sein, dass am Ende, in zwei bis fünf Jahren, all die Proteste gegen den Online-Riesen nichts genützt haben werden und Amazon sein Netzwerk in Frankreich mehr oder weniger so weit ausgebaut haben wird, wie es zur Zeit geplant ist. Dies wird dann ein weiteres Resultat einer Entwicklung sein, die im Lauf der letzten Jahrzehnte immer deutlicher geworden ist: Die wirkiche Macht liegt inzwischen eben nicht mehr beim Staat und den gewählten Volksvertretern, sondern die riesigen Weltkonzerne wie Amazon und Konsorten sind de facto einfach um ein ganzes Stück mächtiger als die Politik und können, um es banal zu sagen, letztlich tun und lassen, was sie wollen.
Die frühere sozialistische Umweltministerin und heutige Abgeordnete, Delphine Batho, hat im vergangenen Juni zwar eine Gesetzesvorlage im Parlament eingebracht, die ein mindestens sechsmonatiges Moratorium für die Ansiedlung grosser Logistikzentren von Amazon und anderen Internetgrosshändlern vorsieht. Das mag verdienstvoll gewesen sein und die Diskussion über Sinn und Unsinn des Onlinehandels weiter belebt haben, eine Mehrheit im von der Macronpartei LREM dominierten französischen Parlament wird die ehemalige Umweltministerin für ihr Gesetzesprojekt jedoch nicht finden.
Zumal dieses Projekt jetzt schon seit acht Monaten sang- und klanglos im Gesetzgebungslabyrinth der Pariser Nationalversammlung verschwunden ist.