Wie schwierig das doch ist mit der sprachlichen Versicherung der eigenen Wahrhaftigkeit! Die Aussage „Ich bin aufrichtig“ führt nämlich den Sprecher und den Adressaten aufs Glatteis. Denn wer seine Aufrichtigkeit beteuert, hat offenbar Gründe, beim Gegenüber Zweifel zu vermuten – was bei diesem erst recht ein mulmiges Gefühl wecken kann. Der Versuch, Aufrichtigkeit sicher und überprüfbar mit Worten festzumachen, scheitert an der prinzipiellen Ambivalenz von Kommunikation: Worte können lügen, für echt Ausgegebenes kann falsch sein. Beteuerungen subjektiver Wahrhaftigkeit bleiben stets innerhalb des Systems Sprache. Sie stehen auf unsicherem Grund.
Die Hochschätzung des Ideals persönlicher Integrität und Wahrhaftigkeit ist ein Erbe der Aufklärung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reifte die Vorstellung der Bürgergesellschaft als einer Sozietät mündiger Persönlichkeiten heran. Auf der Basis einer gemeinschaftlichen Moral und in bewusster Frontstellung zu Klerus und Aristokratie wollten Bürgerinnen und Bürger sans phrase einander die Gewissheit eines aufrichtigen Umgangs geben und so einen Raum der Freiheit, Gleichheit und Verantwortlichkeit schaffen.
Aufklärung beruhte zum einen auf unbegrenzter Wissbegier. Zum anderen setzte der geistige Aufbruch eine vertrauensvolle, auf Wahrhaftigkeit gegründete Verbundenheit voraus. Diese Gemeinschaft war getragen vom Ethos, nicht täuschen, sondern klären zu wollen. Ohne eine derartige Moral gibt es keinen emanzipierten menschlichen Umgang, keinen wissenschaftlichen Fortschritt und kein demokratisches Staatswesen.
Als Gegenstück zu ihrer revolutionären Vorstellung von Mensch und Gesellschaft hatten die Aufklärer den Typus des Höflings vor Augen. Er galt ihnen als Inbegriff des verbogenen Menschen: liebedienerisch, berechnend, intrigant, grausam – und alles im Gewand vorgetäuschter Loyalität und Ehrlichkeit. Die Sprache lässt solches mit sich machen; sie kennt keine innere Absicherung gegen ihren Missbrauch. Das Ethos der Wahrhaftigkeit ist nicht Bestandteil der Sprache. Es muss ihr von der Sprachgemeinschaft der Aufgeklärten in gemeinsamer Anstrengung hinzugefügt werden. Das ist auch der Grund, weshalb ein einzelner Sprecher die eigene Aufrichtigkeit nicht sprachlich beweisen kann.
Die Prinzipien der Aufklärung seien in Gefahr, heisst es heute. Angegriffen ist nicht so sehr das aufklärerische Wissenwollen, sondern vor allem das Wahrhaftigkeitsethos. Wer für die Errungenschaften und Ziele der Aufklärung eintreten will, sollte entschieden reagieren auf alle Versuche, Sprache und Ethos zu trennen.
Damals galt es, dem Ungeist der Höflinge Paroli zu bieten. Und heute? Hierzu haben Leserinnen und Leser der „Sprach-Akrobatik“ gewiss ihre eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse.