Die Anti-Einwanderungsparole ist das Allerweltsmittel der SVP, mit dem sie sich für den Wahlkampf rüstet. Die negativen Folgen des Wachstums sind real, aber um sie zu bekämpfen, muss wesentlich tiefer angesetzt werden
Die Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten kräftig gewachsen. Alles ist grösser geworden: Bevölkerung, Bruttosozialprodukt, Verkehrsaufkommen, Siedlungsgebiete. Es ist ein Wachstum, von dem viele profitieren, das aber unübersehbare Schattenseiten hat. In den Städten herrscht Wohnungsnot. Die wuchernden Agglomerationen sind dabei, das Schweizer Mittelland in eine einzige Megacity zu verwandeln. Wachsender Verkehr erfordert immer neue Infrastruktur-Bauwerke. Und dies alles steht erst noch vor dem Hintergrund, dass natürliche Ressourcen geschont und die weitere Aufheizung des Planeten verhindert werden müssen.
Von den heimischen Parteien ist es allein die SVP, die der Aufblähung der Schweiz den Kampf ansagt. Für sie ist es – wie immer – einfach: Unkontrollierte Einwanderung ist der Grund aller Übel. Deshalb, so das Rezept, müsse die Schweiz gegenüber der EU ihre Souveränität behaupten und keine Abkommen eingehen, die unserem Land Personenfreizügigkeit auferlegen. Mit Blick auf den beginnenden nationalen Wahlkampf ist diese Politstrategie für die SVP gewiss naheliegend, da sie so ihren Markenkern neu aktivieren kann.
Alle übrigen Parteien, selbst die auf Ökothemen ausgerichteten, haben die Thematik bisher rechts liegen lassen. Gut möglich, dass sie dies bei den Wahlen im Oktober deutlich zu spüren bekommen werden. Denn es wird vielen Wählerinnen und Wählern einleuchten, dass mit der Entwicklung der Schweiz einiges nicht stimmt und dass manches davon mit ungesteuertem Wachstum zu tun hat.
Wer sich mit der simplen Problemanalyse der SVP nicht zufrieden geben will, muss allerdings tiefer graben und darf sich nicht scheuen, tabuisierte Themen aufzugreifen. Einwanderung ist weder der alleinige noch der erste Grund der ungesunden Aufblähungen. Der enorme Bedarf an ausländischen Arbeitskräften hat komplexe Ursachen. Einwanderungsstopp oder -begrenzung würde diese nicht beheben. Vielmehr würden dadurch empfindliche personelle Lücken entstehen, die in der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft massiven Stress auslösten.
Um an die wahren Gründe der Wachstumsproblematik heranzukommen, muss man sich klar machen, dass Einwanderung primär eine Folge des Reichtums der Schweiz ist. Wir können es uns ganz einfach leisten, notwendige, aber von Einheimischen gern gemiedene Arbeiten von Zugewanderten verrichten zu lassen. Für wichtige Bereiche wie das Gesundheitswesen bilden wir seit Langem nicht genug Leute aus. Stattdessen importieren wir in grossem Stil Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachleute, die anderswo teuer ausgebildet wurden. Gleiches gilt für hochqualifizierte Fachkräfte und Berufsleute in vielen Industrien und Branchen.
Eine solche Wachstumsdynamik einfach per Einwanderungsstopp abzuwürgen, wäre eine allzu riskante Schocktherapie. Was es vielmehr braucht, ist eine langfristige Entwicklungsstrategie, die darauf setzt, die im Land vorhandenen Kräfte optimal zu qualifizieren und einzusetzen. Bei den Anreizen und Möglichkeiten zur Beschäftigung (Löhne, Kinderbetreuung, Steuern, Sozialsysteme etc.) braucht es eine Ausrichtung, die dafür sorgt, dass Ausgebildete auch tatsächlich arbeiten.
Tieflöhne, von denen die Beschäftigten nicht leben können, sind ein No-Go, ebenso die Umgehung von Arbeitgeberpflichten durch Auslagerungen und Schein-Selbständigkeiten. Einfache Arbeiten müssen teurer und gegen ausländische Dumping-Konkurrenz geschützt werden, und zwar letztlich auf Kosten der einheimischen Konsumenten. Diese Verteuerung des Lebens wäre nichts anderes als eine Einpreisung der bislang verweigerten sozialen Fairness. Sie würde mithelfen, die ungesunde Wachstumsdynamik zu dämpfen. Damit auch die Reicheren ihren angemessenen Beitrag leisten, müsste über Steuern ein zusätzlicher Ausgleich erfolgen.
Mit Forderungen nach Verzichtleistungen und höheren Steuern zieht natürlich keine Partei in den Wahlkampf. Zumindest aber muss man denen, die billige Pseudo-Lösungen gegen die problematischen Seiten des Wachstums propagieren, entschieden entgegentreten.