Deutschlands Innenpolitik ist gehörig in Bewegung geraten. Manche sagen, dank des skandalösen Abstimmungsverhaltens der CDU- und FDP-Abgeordneten im Erfurter Landtag bei der (versuchten) Wahl eines neuen thüringischen Ministerpräsidenten. Auf alle Fälle jedoch wegen der Tatsache, dass diese beiden Parteien sich von der rechtsextremen AfD übertölpeln liessen – möglicherweise sogar Absprachen mit dieser getroffen haben.
Fakt ist jedoch, dass sich seitdem die Szenerie auch auf der Berliner Politbühne und von dort aus bundesweit ordentlich verändert hat. Das gilt in erster Linie für die CDU, letztlich jedoch auch für die deutschen Frei- und Sozialdemokraten. Denn im Herbst nächsten Jahres stehen wieder Bundestagswahlen an.
CDU in einer doppelten Krise
Keine Frage, durch die Unbotsamkeit des Thüringer Landesverbandes, beim versuchten Sturz des bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und der von ihm geführten rot-rot-grünen Koalition die Hilfe der AfD-Rechtsaussen zumindest akzeptiert zu haben, sind die Christdemokraten insgesamt in eine veritable Krise geraten. Oder aber eine schon länger vorhandene und nur mühsam verdeckte Krise ist damit in aller Deutlichkeit sichtbar geworden.
Wobei es sich bei Lichte betrachtet nicht nur um ein Dilemma, sondern gleich um mindestens zwei Probleme handelt: erstens um ein personelles, zweitens um ein inhaltliches. Genauer: Um die Fragen, in welche Richtung und mit wem an der Spitze die Partei in Zukunft gehen will, die wie keine andere in der Vergangenheit die zunächst die west- und seit 1990 die gesamtdeutschen Geschicke gelenkt hat.
Als Annegret Kramp-Karrenbauer in der Folge der Wahlaffäre von Erfurt ankündigte, nicht für die Kandidatur zur Kanzlerin im nächsten Jahr anzutreten und beim nächsten Parteitag auch nicht mehr als CDU-Chefin zur Verfügung zu stehen, war dies zwar zunächst ein Paukenschlag. Aber wirklich überraschend war die Kunde nicht. Denn bei allem zugestandenen guten Willen und Einsatz: richtig in den Griff bekam sie die Partei nie, seitdem sie das Amt vor 14 Monaten nach erfolgreichem Kampf mit ihren Mitbewerbern Friedrich Merz und Jens Spahn übernommen hatte. Und die internen Zweifel an ihrer Durchsetzungsfähigkeit wurden nicht leiser, obwohl die so genannten Leitmedien von „Spiegel“ bis „Die Zeit“ und von „Stern“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“ ordentlich Rückenwind gaben und die Bundeskanzlerin die Frau von der Saar zur Stärkung ihrer Autorität sogar mit der Leitung des Verteidigungsministeriums betraute.
Den Hut in den Ring geworfen
Nun hat Friedrich Merz als erster den Hut in den Ring geworfen. Kein Zweifel, ein kluger Analytiker, mitreissender Redner, erfahren in Europa und vor allem auch in Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten. Aber auch: seit Jahren ein erbitterter Gegner von Angela Merkel. Merz und dessen Anhänger widersprachen auch nicht der Mär, er sei (wie viele andere Unionspolitiker auch) von Merkel „weggebissen“ worden.
Richtig ist, dass Angela Merkel im Januar 2002 gemeinsam mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) bei dem berühmten „Wolfratshausener Frühstück“ folgendes „Geschäft“ ausgehandelt hatte: Der CSU-Chef Stoiber wird gemeinsamer Kanzlerkandidat der Union, dafür erhält Merkel den machtvollen Vorsitz der CSU/CSU-Bundestagsfraktion. Genau diesen aber hatte zu jenem Zeitpunkt Friedrich Merz inne. Doch anstatt diese einflussreiche Position zu verteidigen, ja um sie zu kämpfen, wartete Merz (vergeblich) darauf, „gerufen“ zu werden. Wenig später schied er – beleidigt – aus der Politik aus.
Genau Letzteres, nämlich einfach weggelaufen zu sein, haben ihm seinerzeit viele Parteifreunde verübelt – und nicht wenige tun das bis heute. Trotzdem hat der 64-Jährige eine durchaus respektable Truppe mit gewichtigen Personen hinter sich. Und zwar keineswegs nur aus der Wirtschaft. Man tut dem aus dem mehrheitlich katholischen Sauerland stammenden Friedrich Merz gewiss nicht Unrecht, wenn man ihn dem eher konservativen Flügel der CDU zurechnet.
Und exakt hier beginnen die Fragen und Diskussionen um den künftigen Kurs der CDU. Es steht ja ausserhalb jeder Frage, dass die Christlich Demokratische Union Deutschlands sich selbst als konservativ einordnet. Aber ebenso richtig ist, dass Angela Merkel die Partei von ursprünglich mitte-rechts Stück für Stück nach links geführt hat. „Sozialdemokratisiert“ nennen das interne Kritiker, die sich immer weniger in der Partei zuhause fühlten.
Das Schrumpfen der Grossen
Ob Merz auf seinem Weg an die CDU-Spitze Konkurrenz bekommt, ist noch offen. Sicher gilt er all jenen in der Partei als Hoffnungsträger, die sich dort mittlerweile fremd oder bei wichtigen Entscheidungen ganz einfach übergangen fühlen. Zum Beispiel bei der faktischen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ohne vorherige eingehende Diskussion. Oder bei der blitzartigen Kehrtwende in der erst kurz zuvor beschlossenen deutschen Energiepolitik nach dem Tsunami im japanischen Fukushima.
Manche aus diesem Kreis der Frustrierten sind in die innere Emigration gegangen, andere wechselten offen oder gesinnungsmässig zur AfD und sorgen dort allein durch ihr bürgerlich-gemässigtes Dasein dafür, dass solche Leute wie der nun wirklich faschistisches Gedankengut verbreitende thüringische Landesvorsitzende Björn Höcke als tatsächliche Gefahr gar nicht genügend wahrgenommen werden.
Jahrzehntelang war erst die Bundesrepublik und, nach der Vereinigung, auch ganz Deutschland stabil, weil die politische Mitte ein sicheres Staatsfundament war. Das ist vorbei. CDU/CSU und – viel mehr noch – SPD verlieren geradezu dramatisch an Zustimmung, und damit auch an Wählern. In die dadurch entstehenden Räume drängen neue (oder auch gar nicht mehr so neue) Kräfte.
Am deutlichsten gilt das ganz sicher für die Grünen, die sich vom einstigen Bürgerschreck längst in eben diese Mitte bewegt haben und mit ihrer nie beendeten Klage wegen der Zerstörung von Umwelt und Klima inzwischen bei allen Schichten und Bereichen der Gesellschaft Gehör und Anhängerschaft gefunden haben. Davon ist logischerweise auch die Union nicht unberührt geblieben. Als Beispiele mögen die inzwischen eingegangenen Koalitionen in Wiesbaden (CDU-Grüne) und Kiel (CDU-Grüne-FDP) dienen.
Unvereinbar für immer?
Noch immer – und inzwischen sogar erneut – gelten für die CDU aber zwei Unvereinbarkeits-Beschlüsse. Sie sollen jegliche Art von Kooperationen, Absprachen, Kungelei mit der AfD und mit den aus der einstigen DDR-Staatspartei SED hervorgegangenen Linken unterbinden. Was die Rechtsaussen anbelangt, gibt es ganz gewiss in der deutschen Öffentlichkeit grosse Zustimmung zu der Abgrenzung.
Grosse Zustimmung heisst aber nicht absolute. Besonders in der Kommunalpolitik auf dem Lande, wo jeder jeden kennt und beim Kegeln manche Kugel gemeinsam geschoben wird, dürfte das Nein eines fernen Parteitags wenig Wirkung zeigen. Und ähnliches gilt für Fraternisierungen von CDU-Leuten mit Vertretern der Linken, besonders im Osten Deutschlands. Dreissig Jahre nach dem Sturz der DDR-Diktatur gilt nicht wenigen auch im Westen die Linke als normal, demokratisch, friedliebend.
Nun hat sich also Friedrich Merz aufgemacht zum nächsten Gefecht. Es wird sich vermutlich recht bald zeigen, ob jene Partei- und Gesinnungsfreunde in der Mehrzahl sind, die in dem Sauerländer schon so etwas wie eine Heilsfigur erblicken, eine Lichtgestalt, deren Ausstrahlung und politisches Wirken möglicherweise sogar zumindest Teile derer wieder heimholen, die einst frustriert und desillusioniert die CDU verliessen. Oder ob jene die Majorität bilden, die nach Offenheit und Öffnung der Partei für vielleicht sogar neue Partner streben.
Die Noch-Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer möchte die Personalentscheidungen eigentlich erst auf dem Parteitag im Dezember herbeiführen. Wahrscheinlich wird ihr das nicht gelingen. Immer mehr einflussreiche Parteifreunde drängen auf eine Lösung möglichst noch in diesem Frühjahr. Das wäre nur vernünftig, um eine unendlich lange, quälende Zeit mit Streit und Querelen vermeiden.
Doch da ist immer noch ein Problem namens Angela Merkel. Sie will erklärtermassen im Herbst 2021 nicht noch einmal antreten. Aber da wäre – möglicherweise – eben auch Parteifreund Merz. Müsste der denn nicht darauf drängen dass sie schon vorher für ihn Platz macht? Aber ginge das überhaupt, denn schliesslich ist ja auch noch die SPD im gemeinsamen Regierungsboot.
Es steht ein spannendes Frühjahr bevor.