Formuliert hat es der Ökonom John Kay. «Oblique» bedeutet «schräg» oder «schief». Das Prinzip lautet einfach: Wenn du es mit einem komplexen Problem zu tun hast, suche nicht unbedingt Lösungen, die direkt vor Augen liegen, sondern suche Wege schräg zum direkten Weg, wende vielleicht sogar einmal den Blick vom Problem weg. Das Prinzip leuchtet jedem Waldspaziergänger ein. Am kürzesten gelangt man von einem Punkt A zu einem Punkt B im Wald kaum je über die gerade Verbindung, man muss vielmehr, je nach Bodenbeschaffenheit, Baumbewuchs und Unterholz Umwege wählen. Die kürzeste Verbindung im Wald, im Gelände, im Leben überhaupt, kann stracks auf Irrwege, Abwege oder Holzwege führen. Und umgekehrt landen wir über einen vermeintlichen Umweg unversehens im Ziel.
In Analogie dazu sind Unternehmen häufig profitabler, wenn sie nicht optimalen Profit, Sportler erfolgreicher, wenn sie nicht den Rekord, Künstler origineller, wenn sie nicht Originalität, Techniker innovativer, wenn sie nicht Neues anstreben. In seiner Autobiographie schrieb der Philosoph John Stuart Mill über das Glück: «Bloss diejenigen sind glücklich, (..) welche ihren Sinn auf etwas anderes als das eigene Glück gesetzt haben (..) Während man so auf etwas anderes abhebt, findet man das Glück unterwegs.»
Obliquität im Waldanbau
Da gerade vom Wald die Rede war: Er liefert noch in einer anderen Hinsicht ein Beispiel für das Obliquitätsprinzip. Wälder sind komplexe Ökosysteme, zu denen Flora und Fauna, aber auch der Mensch gehören. Feuer wird traditionell als grosser Feind des Waldes betrachtet. Deshalb ist das direkte Ziel der Brandbekämpfung das Löschen. Aber dieses Ziel stellt sich wiederum als ein Problem heraus, weil die Ökologen entdeckt haben, dass der Brand Bestandteil der Walderhaltung ist. Nachdem in den 1970er Jahren in den Nationalpärken der USA grosse Feuer gewütet hatten, entschloss sich der Nationalparkdienst zu einer anderen Art von Brandbekämpfung. Statt Feuer jederzeit zu löschen, lautete die Zielsetzung nun, Feuer regelmässig und kontrolliert zuzulassen. Brände beseitigen entzündbares Unterholz, schaffen Brandschneisen und hemmen so die Ausbreitung. Genau dies exemplifiziert den Geist der Obliquität: Die Erhaltung des Waldes erreicht man nicht direkt, durch Brandbekämpfung, sondern indirekt, durch die Berücksichtigung weiterer Lösungsfaktoren, die zur Ganzheit und zur Erhaltung des Ökosystems gehören.
Obliquität im Städtebau
Was für den Waldanbau, gilt ebenso für den Städtebau. Städte sind historisch gewachsene architektonische, soziale und politische Gebilde, Ablagerungen und Speicher von Kultur und Brauchtum. Aus diesem Grund gelten sie vielen rationalistisch gesinnten Städteplanern als Inbegriff des Ungeordneten, Unkontrollierbaren, Überständigen, Schmutzigen. Urbane Probleme sollten in ihren Augen «sauber» und radikal gelöst werden – Tabula rasa. Einer der bekanntesten, indes auch umstrittensten Vertreter dieses modernen «Purismus» – Le Corbusier – sah im Städtebau denn auch das Wirken einer architektonischen Intelligenz, die urbane Systeme als von allem historischen Ballast befreite Aggregate aus reinen funktionalen Einheiten entwirft – «Wohnmaschinen». Ein Musterbesipiel dafür ist Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille, erbaut innerhalb von fünf Jahren. Ein solcher städtebaulicher Ansatz galt als modern, bis man 1972 im amerikanischen St. Louis einen vormals gefeierten riesigen Komplex für soziales Wohnen – das Pruitt-Igoe-Projekt – dem Erdboden gleichmachte. Das hochgesteckte Ziel, durch einen architektonischen Wurf ein sozial funktionierendes Quartier zu schaffen, erwies sich als höchst dysfunktional. Der Architekturtheoretiker Charles Jencks proklamierte mit diesem Abriss den Abschied von urbanistischer Planarchitektur und den Übergang von der Moderne zur Postmoderne (in der Architektur).
Obliquität im Demokratieaufbau
Man entdeckt darin freilich erneut das Obliquitätsprinzip. Dass Städte nach einem vorgefertigten Plan entstehen, ist ein gigantisches Missverständnis. Städte sind seit jeher Biotope des Lokalen: der Durchmischung und gegenseitigen Belebung von lokalen, kleinräumigen Lebens-, Kultur-, Gewerbe- und Wirtschaftsformen. Sie entwickeln sich aus einem kontinuierlichen Prozess der Repetition, Modifikation und Adaptation. Wie alles Leben. Greift man «disruptiv» in dieses komplexe System ein und konzipiert es als reine Maschinerie, verfehlt man das Ziel vieler Menschen, nämlich nicht bloss ein Dach über dem Kopf, sondern eine selber entworfene Existenzform zu haben. Man vertreibt sogar soziales Leben aus den Städten, wenn man das direkte Ziel verfolgt, soziales Leben in die Städte zu bringen. Wie gerade das brutale Fiasko von Afghanistan zeigt, liesse sich Ähnliches vom Demokratieaufbau sagen. Der Westen sucht den direkten Weg der quasi-technischen Konstruktion eines politischen Systems. Dabei hängt die Konstruktion empfindlich von den zahlreichen Umwegen ab, die eine traditionelle, tribalistische Gesellschaft wie Afghanistan charakterisiert. «Über die tiefgreifenden Einflüsse von Religion, familiären Beziehungen und ethnischen Gefügen auf einheimische Gesellschaften wird zwar gesprochen, aber sie finden keinen Eingang in die Agenda der Regierungen von Geberländern und die Planungen ihrer Experten. Vielmehr werden sie als Residuen einer überkommenen ‘Stammesgesellschaft’ geringgeschätzt; deren Einfluss auf den Staatsaufbau wird in den Plänen ausgeklammert, statt ihn konstruktiv einzubinden», schreiben der Politgeograf Georg Korf und die Kulturwissenschafterin Christine Schenk in einem lesenswerten Beitrag in der NZZ (28.08.2021).
Das Prinzip der verbergenden Hand
Die meisten von uns haben die Erfahrung des Festbeissens an Zielen gemacht. Die meisten kennen brave Weisheiten zur Arbeitsmoral, wie etwa «Bringe zu Ende, was du begonnen hast». Aber warum sollte man eine Arbeit nicht vorzeitig abbrechen? Dem Abbruch wohnt oft sogar ein Zauber inne, nämlich der Zauber des Neuaufbruchs in eine andere Richtung. Verbreitet ist zudem die Neigung, einmal gelernte Routinen immer wieder anzuwenden, was dazu führen kann, dass man sein eigenes kreatives Potenzial nicht nutzt und verkümmern lässt. Darauf hat im Übrigen ein anderer Ökonom – Albert O. Hirschman – ebenfalls mit einem Prinzip verwiesen, mit dem «Prinzip der verbergenden Hand». Es besagt, dass wir oft Ziele anvisieren, deren Erreichen uns viel mehr Schwierigkeiten bereitet als erwartet. Vorauskenntnis dieser Schwierigkeiten würde uns davon abhalten, die Ziele überhaupt anzuvisieren. Als ob eine «verbergende Hand» die Zwischenprobleme verdeckte und unseren Wagemut weckte. Und siehe da: Gerade dann entwickeln wir ungeahnte Phantasie.
Das Obliquitätsprinzip funktioniert – wie angetönt – in vielen Bereichen. Es macht den Geist der Kreativität explizit. Wie etwa auch das verwandte Prinzip der Serendipität: Wer nicht gezielt sucht, findet oft mehr. Mit Prinzipien dieser Art ist das allerdings so eine Sache. Sie arbeiten eng mit der Komplizin Fortuna zusammen. Manchmal funktionieren sie, viel öfter jedoch nicht.
Die reale Welt besteht aus Umwegen
Selbstverständlich gibt es Probleme, die sich direkt lösen lassen. Nennen wir sie Holzhack-Probleme. Man sieht den Erfolg unmittelbar. Das Obliquitätprinzip bringt dagegen eine häufig gemachte Erfahrung auf den Punkt: Absicht und Ergebnis einer Anstrengung stehen in einem schiefen Verhältnis zueinander. Das liegt zum einen daran, dass Absichten oft verschlungen und nicht ganz transparent sind; zum anderen, dass direkte Wege eigentlich nur auf Plänen existieren. Aber wie es so schön heisst: Die Karte ist nicht das Gelände. Die reale Welt – das sind Umwege, sprich: ungedeckte Versuche, kurzfristige Entscheidungen, begrenzte Optionen, unerwartete Hindernisse und Entdeckungen. Umwege ersieht man nicht aus Karten. Und weil viele Umwege existieren, existieren in der Regel auch viele Lösungsmöglichkeiten. «Es gibt keine Alternativen» ist einer der dümmsten Sprüche der Menschheitsgeschichte.
Die Erfahrungen des Klimawandels, der irreversiblen ökologischen Eingriffe, der unvorhergesehenen Kollapse von Finanzinstitutionen, jüngst der Pandemie dürften uns allmählich vor Augen führen, dass die Welt komplexer ist als sie auf den Karten einer planenden Vernunft erscheint. Gewiss, alles sollte so einfach wie möglich gemacht sein, aber nicht einfacher – um hier aus der Weisheitsquelle Einstein zu schöpfen. Genau dies drückt das Obliquitätsprinzip aus: Unterschätze nicht die Kapriolen eines komplexen Problems; erst auf Umwegen lernst du es richtig kennen, weil Umwege auch die Imagination stärken. Wenn es um solche Probleme geht, dann ist planende, zielorientierte Vernunft oft das Hindernis, das zu überwinden sie sich einredet.