Nennen wir ihn Wladimir E. Er war Genfer Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass. Ein eher düsterer, älterer Mann. Mit den anderen Journalisten-Kollegen sprach er kaum. So entsprach er dem Klischee des finsteren, etwas unheimlichen sowjetischen Apparatschiks.
Eines Nachmittags trat er in die Pressebar des Genfer Uno-Palastes. Er strahlte, lachte und klopfte uns auf die Schultern. Das war vor bald 36 Jahren.
Ronald Reagan und Michael Gorbatschow hatten an ihrem Genfer Gipfel soeben eine Schlusserklärung unterzeichnet, die den Anfang vom Ende des Kalten Krieges einläutete.
„Spirit of Geneva“
Wladimir E., der Tass-Funktionär, war ausser sich vor Freude. „Jetzt beginnt ein neues Zeitalter“, sagte er uns. Drei Jahre später wurde die Berliner Mauer geöffnet.
Das Gipfeltreffen in Genf vom November 1985 hatte vor allem symbolische Bedeutung. Zwar einigte man sich – allerdings nur grundsätzlich – auf eine substantielle atomare Abrüstung. Doch die wichtigen Themen wurden ausgeklammert. Entscheidender war jedoch: Die beiden Supermächte kamen sich freundschaftlich näher und bekundeten ihren Willen, zusammenzuarbeiten. Das Eis zwischen den USA und der Sowjetunion war gebrochen. Man sprach vom „Spirit of Geneva“.
Jetzt, 36 Jahre später, treffen sich in Genf erneut die zwei starken Männer aus Washington und Moskau. Viel hat sich verändert. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Russland ist geschwächt, wirtschaftlich und militärisch. China spielt eine immer wichtigere Rolle.
„Dann könnten Sie lange warten“
Was ist von diesem Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin zu erwarten? „Wenn Sie auf wirklich wichtige Ergebnisse warten“, sagte Jake Sullivan, der Sicherheitsberater des Weissen Hauses am Montag gegenüber Reportern, „dann könnten Sie lange warten, möglicherweise.“
Von einem „neuen Zeitalter“, das der Tass-Journalist einst beschwor, ist keine Rede, von einem neuen „Spirit of Geneva“ schon gar nicht. „Es wird wohl ein nettes Abschlusscommuniqué geben“, sagt ein amerikanischer Uno-Beamter in Genf. Und er fügt bei: „Wenn überhaupt.“
„Aggression in der Ukraine“
Streitfragen zwischen dem Westen und Russland gibt es genug: So die völkerrechtswidrige russische Besetzung der Krim-Halbinsel und das russische Zündeln in der Ostukraine. „Wir stehen zusammen“, schrieb Biden am Samstag in einem Gastartikel für die Washington Post, „um auf die Bedrohung der europäischen Sicherheit durch Russland zu reagieren, angefangen mit seiner Aggression in der Ukraine.“
Der amerikanische Präsident wird auch die Menschenrechtsverletzungen in Russland ansprechen, die Giftanschläge auf russische Oppositionelle, das zunehmend harte Vorgehen Russlands gegen die Opposition, die Fälle Alexej Nawalny und die Entführung des belarussischen Oppositionellen Roman Protasewitsch, die Festnahme des Oppositionellen Andrej Piwowarow, den Pakt Putins mit dem belarussischen Diktator Lukaschenko und die russische Unterstützung für Iran und den syrischen Präsidenten Asad.
„Killer“ Putin
Auch die Desinformationskampagnen durch russische Trolle, die Cyber- und Hackerattacken auf den Westen und die Beeinflussung amerikanischer Wahlen sollen zur Sprache kommen.
Biden wird auch die wieder engere politische und militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und China ansprechen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nannte dies eine „neue Dimension“. Der Aufstieg Chinas verändere die weltweite Machtbalance fundamental.
Biden, der Putin einen „Killer“ nannte, ist kein Mann der allzu diplomatischen Töne. Er wird die strittigen Themen mit Sicherheit in Genf offen und nicht nur klausuliert ansprechen. Er wird „in der Lage sein“, sagte Sicherheitsberater Jake Sullivan, „Präsident Putin in die Augen zu schauen und zu sagen: ‚Das sind Amerikas Erwartungen. Das ist es, wofür Amerika steht‘“.
Kritik an den westlichen Sanktionen
Putin ist darauf gefasst und wird dem amerikanischen Präsidenten wohl in aller Ruhe zuhören. An ihm werden die Vorwürfe abprallen. Er denkt, der Westen solle doch reden. Die westlichen Strafaktionen werde Russland überleben.
Dann wird er zum Gegenangriff übergehen. Er wird die westlichen Sanktionen gegen Russland kritisieren und wird sich verbitten, dass sich die USA in innerrussische Angelegenheiten einmischen. Er wird die Nato-Manöver an der Grenze zum russischen Einflussgebiet kritisieren. Auch das Vorgehen der amerikanischen Polizei gegen Schwarze und den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar wird er erwähnen, stellte der russische Aussenminister Sergei Lawrow in Aussicht. Auch die amerikanische Opposition gegen North Stream II und das von Präsident Trump gekündigte Atomabkommen mit Iran sollen zur Sprache kommen.
Biden hält wenig von Putin
Und dann? Das einzige Gebiet, auf dem sich die beiden näher kommen könnten, ist – wie vor 36 Jahren – die atomare Abrüstung. Fast alle atomaren Rüstungsverträge zwischen den USA und Russland sind inzwischen ausgelaufen. Da könnten die beiden Präsidenten ein Bekenntnis zu neuen Verhandlungen abgeben, vielleicht für ein Nachfolgeabkommen für das „Start“-Abkommen zur Begrenzung der atomaren Rüstung. Dieses lief Anfang dieses Jahres aus.
Werden sich die beiden persönlich näher kommen, so wie damals Reagan und Gorbatschow? Eher nicht. Biden hält wenig von Putin. Die amerikanische Haltung ist die: Vielleicht bringt das Treffen etwas Deeskalation. Wenn nicht, dann halt tant pis. Biden schrieb, er wolle „keinen Konflikt“ mit Russland. Sein Ziel seien „stabile und vorhersehbare Beziehungen“ mit Moskau.
Für Putin, der im internationalen Konzert längst nicht mehr die zweite Geige spielt, ist die Begegnung wichtiger. Er kann demonstrieren, dass er auf Augenhöhe mit dem mächtigsten Mann der westlichen Welt konferiert. Wird er, als Zeichen des guten Willens, Nawalny freilassen? Es wäre eine riesige Überraschung, würde er bei strittigen Themen Konzessionen machen.
Nur kein Eklat
Biden trifft bei seiner ersten Europa-Reise als Präsident zunächst in Cornwall mit den G7-Ministern zusammen. Anschliessend reist er nach Brüssel zum Nato-Gipfeltreffen. Er wird in Europa mit insgesamt 35 Staats- und Regierungschefs zusammentreffen. Er will die „demokratischen Allianzen“ stärken, um sie gegen Russland und China in Position zu bringen. Am Mittwoch, 16. Juni, findet dann das Genfer Treffen statt – vermutlich im Herrschaftshaus im idyllischen Park La Grange im Quartier Eaux-Vives.
„Unsere Erwartungen sind sehr gedämpft“, heisst es im Genfer Palais des Nations. „Wir hoffen nur eins: dass die Begegnung nicht mit einem Eklat zu Ende geht.“