Die moderne Schweiz ist ein weltweit einzigartiges Erfolgsmodell. Der 175. Geburtstag des Bundesstaates bietet Anlass, um über die Zukunft des Landes nachzudenken. Entscheidend wird ein konstruktives Verhältnis zur EU sein.
Am 12. September 1848 erklärte die Tagsatzung die neue Bundesverfassung, erarbeitet durch die Revisionskommission, als angenommen. Die Schweiz mutierte dadurch vom Staatenbund zum Bundesstaat, einem einzigartigen demokratischen Staat im monarchistischen Europa.
Ja. Nein. Weiss nicht — Musterdemokratie Schweiz?
Vom 1. April bis 29. Oktober 2023 findet aus Anlass des Geburtstags der Schweiz im Salzmagazin Stans eine Ausstellung statt: «Ja. Nein. Weiss nicht – Musterdemokratie Schweiz?» Die Organisatoren schreiben: «Wir fordern Mitsprache und beteiligen uns selten. (…) Und doch streiten wir. Krisen wie die Pandemie und der Krieg in der Ukraine führen zu hitzigen Diskussionen über unser Demokratieverständnis. Wer spricht denn eigentlich mit bei politischen Entscheidungen? Welche Mittel der Mitsprache stehen uns zur Verfügung? Und wo stösst unsere Demokratie vielleicht an ihre Grenzen?»
Fragen über Fragen. Die wichtigste ist wohl jene, ob die Schweiz von heute an ihre Grenzen stosse und, wenn ja, wie diese durchbrochen werden könnten. Denn: 175 Jahre später reden wir nicht mehr von einem die Schweiz umgebenden monarchistischen Europa, sondern vom Staatenverbund der 27 autonomen Staaten mit rund 450 Millionen Einwohnern, vereinigt in der Europäischen Union. Die Schweiz, Nichtmitglied der EU, im Herzen eines völlig veränderten politischen Umfelds liegend, muss sich kritischen Fragen stellen und diese beantworten.
Die Schweiz und die EU
Der vertragslose Zustand unseres Landes mit der EU ist kein Vorzeigeprojekt. Er symbolisiert vielmehr ein unwürdiges Katz- und Mausspiel. Viele der Beteiligten in der Schweiz verkünden mediengerecht, sie wären zwar für eine Lösung der blockierten Zusammenarbeit mit erneuerten bilateralen Verträgen, aber nur zu ihren Bedingungen. Was so viel heisst wie: Wir sind gegen bilaterale Verträge.
Im Juni 2023 verkündete zum Beispiel Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, im Tages-Anzeiger: «Wir haben die bilateralen Verträge immer unterstützt, aber für uns war gleichzeitig klar, dass der Schutz des Service public und der Löhne gewährleistet sein muss. In diesen Punkten geben wir nicht nach.» Ein Augenöffner, warum es mit der EU kriselt.
Diese Art der Kommunikation steht nicht allein im Raum. Auch andere wichtige Player verkünden das eine, meinen aber das andere.
Auf diese Weise wird es für den das EU-Dossier führenden Bundesrat Cassis – den ich persönlich für den vorzeitigen Verhandlungsabbruch mit der EU 2021 verantwortlich mache – nicht möglich sein, ein zeitgemässes Abkommen zu realisieren. Sind sich die verantwortlichen Politiker bewusst, dass es für Kooperationsverträge immer ein Geben und Nehmen braucht? Das egoistische Verharren auf dem eigenen Standpunkt ist unzeitgemäss, kontraproduktiv und eines 175-jährigen Vorzeigestaates unwürdig.
Damals und heute
Vor 175 Jahren wurde also die moderne Schweiz gegründet. Wie war es damals überhaupt möglich, ein solches Zukunftsprojekt zu schaffen? Der Historiker Georg Kreis (*1943), Gründer des Europainstituts der Universität Basel im Jahr 1993, verweist mit Nachdruck darauf, dass der Schweizer Bundesstaat kein einhelliges Konsensprodukt gewesen sei. Die unterlegenen Kantone, die gegen die neue Verfassung gestimmt hatten, wurden gezwungen, das Neue zu akzeptieren. Politologen der Universität Bern waren damals beauftragt worden, die deutliche Ablehnung des Kantons Schwyz exemplarisch zu untersuchen. Sie fanden, dass dieses Verhalten «eine verfestigte und verallgemeinerte Ablehnung gegenüber allem sei, was neu erscheine und von Bern komme» (Neue Zürcher Zeitung).
1965 erinnerte Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen daran, dass sich die Eidgenossen «seinerzeit zusammengeschlossen hätten und Schweizer geworden seien, um Urner, Berner, Genfer und Tessiner bleiben zu können». In der stets kleiner werdenden Welt müsse die Lösung der neuen Generation lauten: «Europäer sein, um Schweizer bleiben zu können» (Neue Zürcher Zeitung).
Europäer respektive Europäerin zu sein heisst nicht, dass die Schweiz der EU beitreten soll. Daraus folgt allerdings kein zwingender Alleingang der Schweiz. Wenn heute manchmal argumentiert wird, die EU sei ein von oben, von einer Elite inszeniertes Gebilde, so ist daran zu erinnern, dass das 1848 geschaffene Staatsgebilde – die moderne Schweiz – auf eben diese Weise zustande kam. Das löste damals keineswegs allgemeine Begeisterung aus.
Kreis fragt uns: Ist die Schweiz nicht eine Art EU im Kleinen und die EU eine Schweiz im Grossen? «Es verwundert daher, dass hierzulande die beiden Gebilde trotz den bestehenden Ähnlichkeiten meist als derart unvereinbar gesehen werden.» (Neue Zürcher Zeitung)
Eine versöhnliche Geburtstagsrede
Eine Geburtstagsrede an die «lieben Schweizerinnen und lieben Schweizer» könnte folgendermassen lauten:
«Macht euch selbst ein grandioses Geburtstagsgeschenk! Kreiert einen modernen EU-Verhandlungsvorschlag ’Bilaterale III‘, ob dessen zukunftsweisendem Inhalt die EU-Verhandlungspartner aus dem Staunen nicht herauskommen. Ihr Nationalkonservative mit eurem ermüdenden ’Nein, Nein, Nein!‘ zu allen kooperativen Vorschlägen und auch ihr unentwegte Kämpferinnen und Kämpfer für ein sofortiges Abkommen, ihr unermüdliche Kämpferherzen, die ihr euch gegenseitig blockiert und damit euren Anliegen jegliche Erfolgschancen raubt: Handelt! Setzt euch an den runden Tisch! Wählt je eine umsichtig-fortschrittliche Führungspersönlichkeit aus euren Reihen! Eine Figur, die Kooperation statt Kampf als Ziel erkennt.
Ersetzt auf diese Weise das seit Jahren herrschende Führungsvakuum im Bundesrat und der obersten Verwaltung! Dieses helvetische Governance-Problem in Bern gehört ein für allemal gelöst, indem ihr – das Volk vertretend – zielbewusst denkt, statt mutlos verwaltet. Schafft den grossen Wurf!
24 Jahre nach der Unterzeichnung der Bilateralen I ist der 175. Geburtstag der Schweiz der entscheidende Moment, da Geschichte geschrieben werden soll. Schweizerinnen und Schweizer wollen Grenzen durchstossen und in Zukunft kein EU-skeptisches Inseldasein mehr fristen. (Inseln im Meer gehen unter bei steigendem Wasserspiegel zufolge Klimaveränderung.) Sie fühlen sich stark und liberal genug, auf alte, verstaubte Kampfparolen zu verzichten und Zugeständnisse zum Wohle aller zu akzeptieren, um damit der anderen Seite gleiches Konsenshandeln zu ermöglichen. – Tut um Volkes Willen etwas Tapferes!»
Literaturhinweis: Christoph Zollinger: «Schweiz, öffne dich!», Glaskugel-Gesellschaft, 2022, 79 Seiten