Den Thurgauern wird nachgesagt, sich gerne klein zu machen, weil sie sich in der wahren Grösse unwohl fühlen. Dazu passt die Benennung des Gottlieber Bodmanhauses am Untersee als „Das kleine Literaturhaus“. Aber zur Freude am Diminutiv gehört auch, durch ihn den Stolz auf die eigene Bedeutung zu verbergen. Das Spiel mit der Bescheidenheit als still gelebter Tugend und artig geübter Zier offenbart sich im Selbstvertrauen, dem „kleinen Literaturhaus“ den bestimmten Artikel voranzustellen. Der beanspruchte Rang ist ohne Imponiergehabe klar.
Weltstar und Geistesgrössen
Der Anspruch wiederum passt zum Dorf Gottlieben. Es verdeckt seine Grösse hinter der Tatsache, eine der kleinsten Gemeinden der Schweiz zu sein. Mit 325 Einwohnern und einer Fläche von 0.33 Quadratkilometern. Aber mit einer grandiosen Aussicht auf die Riedlandschaft des Seerheins, mit stattlichen Häusern, die ohne Prunk Herrschaftlichkeit ausstrahlen, und einem Schloss, das auf keinem Hügel thront, sondern hinter Bäumen den Blick abweist und sechzig Jahre lang einem Weltstar, der Sopranistin Lisa della Casa, das Leben in der Zurückgezogenheit erlaubte.
Eine Generation zuvor, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, übersiedelte eine andere Berühmtheit ihrer Zeit nach Gottlieben, der deutsche Dramatiker, Lyriker und Essayist Emanuel von Bodman. Aus seinem Wohnsitz am Dorfplatz pflegte er Kontakte zu Künstlern und Geistesgrössen, mit Hermann Hesse etwa und inzwischen Vergessenen wie Heinrich Ernst Kromer, Wilhelm Schäfer oder Ernst Würtenberger.
Aber welcher genius loci könnte stimmiger sein, um im Haus des Freiherrn einen literarischen Begegnungsort einrichten zu wollen? Auch mit der Aufgabe, Literatur übers Tagesgeschäft hinaus im geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen und im Kleinen das Grosse zu entdecken und im Grossen das Kleine mitzubedenken.
Intervention eines Mäzens
So stimmig wie Gottlieben für ein Literaturhaus heute ist, so wenig erschien diese Idee als derart zwingend, um für die Realisierung rasch die Interessen und Kräfte zu bündeln.
Emanuel von Bodman starb 1946 mit 72 Jahren, seine Witwe Clara 92-jährig 1982. Sie bemühte sich mit einer Werkauswahl um den literarischen Nachruhm. Doch die Zeit liess die Erinnerung an den Schriftsteller schwinden und belegte das Haus mit den Spuren des Zerfalls.
Es war der mäzenatische, dem kulturellen Erbe des Thurgaus verpflichtete Bankier Robert Holzach, der die Anregung von Denkmalpfleger Albert Schoop aufnahm und sich entschloss, das Bodmansche Haus zu renovieren, generös eigene Mittel einzubringen und als Bodmanhaus der Literatur zu erhalten.
Es konnte als Eigentum der eigens gegründeten Thurgauischen Bodman-Stiftung und mitfinanziert vom Kanton, der Gemeinde und von Privaten am 8. April 2000 als drittes Literaturhaus in der Schweiz eröffnet werden. Mit dem sanft renovierten Arbeitszimmer Emanuel von Bodmans, einer Gästewohnung für schreibende Stipendiaten, einer Handbuchbinderei und einem später eingerichteten Gedenkraum für Robert Holzach.
Neue Leitung
Bei jedem Literaturhaus wären hier die Namen der bedeutenden Autorinnen und Autoren aufzuzählen, die für eine Lesung und fürs Gespräch mit dem Publikum nach Gottlieben reisten. Die Liste wäre lang. Sie ergäbe allerdings insofern ein unscharfes Bild, als es dem Bodmanhaus wichtig ist, auch Jüngeren und Literaten aus der Region zur Resonanz zu verhelfen.
Seit einigen Monaten präsidiert der ehemalige Regierungsrat Claudius Graf-Schelling, ein begeisterter Leser, die Trägerstiftung. Neue Programmverantwortliche sind die profilierte Kulturjournalistin Kathrin Zellweger und Norina Procopan, literarisch beschlagene Gymnasiallehrerin in Konstanz.
Sie bleiben auf dem bisherigen Kurs, das Bücherlesen als Erlebnis zu vermitteln, als Quelle der Inspiration und als Chance, die Gegenwart besser zu begreifen. Das ist viel und klingt doch zu bescheiden. Die Faszination fürs traditionelle Setting mit Vorlesenden und dem Wasserglas nimmt allgemein ab.
Durchhalten aus eigener Überzeugung
Aber genau dafür ist das Interesse nach wie vor zu wecken, für nichts anderes als eben die Begegnung des Publikums mit der Person hinter einem schöpferischen Werk. Innerhalb engster inszenatorischer Grenzen gilt es, ein Literaturhaus Veranstaltung für Veranstaltung neu zu erfinden und ihm die Attraktivität zu bewahren. Auch für junge Leser. Auch wenn Lyrik vorgetragen wird. Das sind Knacknüsse.
Kathrin Zellweger und Norina Procopan sind die Subtilität, die Leidenschaft und die Fantasie eigen, sich auf dem schmalen Grat zwischen Konvention und Abwechslung immer wieder überraschend zu bewegen.
Es ist im Thurgau schwierig, einem kulturellen Angebot über lange Zeit die hohe Qualität zu sichern. Das Publikum zeigt schnell seine Dankbarkeit. Den regionalen Medien fällt das Schulterklopfen leichter als die anspornende Kritik. Die öffentliche Hand hilft fürsorglich, aber nicht in mutiger Weise generös. Das kulturelle Klima ist dem Gutgemeinten förderlicher als dem Gewagten. Fürs Durchhalten braucht es die Überzeugung der Veranstalter.
Produktiver Gegensatz
Auf Gottlieben bezogen und gleichwohl auch fürs Literaturhaus gültig, notierte Emanuel von Bodman, er wolle sein „poetisches Innenreich retten vor der Intellektualisierung, an der ich zuletzt in den Städten litt“, und müsse deshalb nach Gottlieben, „und zwar für immer. Es ist eintönig, oft langweilig, aber das ist die Vorbedingung der Sammlung und Erhebung.“
Diesen Gegensatz nehmen die Verantworltichen des Bodmanhauses als Herausforderung an. Ohne literarischen Kompromisse und dem Publikum den Respekt bezeugend. Die Rechnung geht auf.