Die Todesnachricht, die ihr jüngster Sohn Twm am vergangenen Freitag verbreitete, war kurz: «Heute morgen um 11.40 Uhr in Ysbyty Bryn Beryl on the Lyn hat die Autorin und Reisende Jan Morris ihre grösste Reise angetreten. Sie lässt am Ufer ihre lebenslange Partnerin Elizabeth zurück.» Eine Todesursache nannte der Sohn, ein walisischer Dichter und Musiker, keine. «Vorgerücktes Alter ist ein grosser Fehler», hatte Jan Morris einmal gesagt.
Ihr Grabstein aus Schiefer wird unweit ihres Wohnsitzes, einer umgebauten Scheune, in Trefan Morys, stehen, auf einer Insel im Fluss. «Hier liegen zwei Freundinnen, am Ende eines Lebens», steht auf dem Stein auf Englisch und Walisisch. Der Grabspruch erinnert daran, dass Jan Morris, obwohl geschieden, auch nach ihrer Geschlechtsumwandlung mit ihrer Partnerin Elizabeth Tuckniss einvernehmlich zusammenlebte – am Ende über 70 Jahre lang. Die beiden hatten fünf Kinder, von denen eines jung starb.
In den falschen Körper geboren
Die Demenz ihrer Partnerin beschrieb Jan Morris in ihren Tagebuchnotizen «In My Mind’s Eye» als «jenen subtilen Dämonen unserer Zeit», der sie beide abwechslunsgweise verwirrt, mürrisch und ängstlich mache. Doch nach wie vor verbinde sie die Freundlichkeit: «In all den langen Jahren unseres Zusammenseins, im Leben und in der Liebe, haben wir uns nie gute Nacht gewünscht ohne den süssen Kuss der Versöhnung.» Überhaupt, alles Gute in der Welt beruhe auf Freundlichkeit: «kindness». Die einzige Person in der Politik, die dieses Wort je brauche, sei Neuseelands Premierministerin (Jacinda Ardern).
Mit Jan Morris starb im Alter von 94 Jahren eine aussergewöhnliche Frau, die sich als Journalistin, Reiseschriftstellerin und Historikerin einen glänzenden Ruf erworben hatte. Am 2. Oktober 1926 als James Humphrey Morris in Somerset geboren, realisierte sie, wie sie sich erinnerte, schon früh, dass sie in den falschen Körper geboren worden war und eigentlich ein Mädchen sein sollte.
Eine Umwandlung über Zeit
Doch sie sah diesen Umstand als Geheimnis, als nichts mehr als «etwas Verschwommenes, versteckt in einer hinteren Ecke meines Verstandes». Und während ihrer Kindheit fühlte sie «ein Verlangen nach etwas Unbekanntem, als fehlte mir ein Stück meiner Persönlichkeit oder ein Element, das hart und beständig sein sollte, aber lediglich löslich und diffus war».
Erst 1972 im Alter von 46 Jahren unterzog sich James Morris in Casablanca einer Geschlechtsumwandlungsoperation, nachdem sie acht Jahre zuvor begonnen hatte, Hormonpillen einzunehmen. Innert acht Jahren schluckte sie nach eigener Zählung 12’000 Pillen: «Ich war dabei, meine Formen und meine Erscheinung zu ändern – auch meinen Status, vielleicht auch meinen Platz unter meinen Zeitgenossen, zweifellos meine Haltungen, die Reaktionen, die ich auslösen würde, meinen Ruf, meinen Lebensstil, meine Aussichten, meine Gefühle, möglicherweise meine Fähigkeiten.» Doch ihr Schreiben, so die Autorin, habe das neue Geschlecht kaum beeinflusst. Vielleicht gehe sie es etwas entspannter an.
Ratlose Reaktionen
Ihre Erfahrungen beschrieb Jan Morris im Buch «Conundrum», das 1974 erschien und Rezensenten teils schockierte und ratlos liess. Wie konnte ein früherer Mann darüber schreiben, was es hiess, eine Frau zu sein? «Sie tönt nicht wie eine Frau, sondern wie ein Mann sich eine Frau vorstellt», schrieb die britische Schriftstellerin Rebecca West in «The Times Book Review». Und kurioserweise, so West, sei das die Vorstellung eines Mannes, der nicht annähernd so intelligent sei, wie es James Morris zu sein pflegte.
Und was für ein Mann James Morris gewesen war. 1943 trat er in die britische Armee ein und diente als Nachrichtenoffizier in Palästina. Danach studierte er in Oxford und begann nach einem Umweg über die Provinz in London als Journalist für die «Times» zu arbeiten. Für das Blatt berichtete er am 29. Mai 1953 exklusiv über die Erstbesteigung des Mount Everest durch Sir Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay. Doch Morris kehrte noch vor dem Gipfel um und überliess den beiden Bergsteigern das weltweite Rampenlicht. Er stieg eilends ab und sandte aus dem Basislager ein kodiertes Telegramm über die gelungene Erstbesteigung nach London, um die Konkurrenz nicht zu wecken. Die «Times» vermeldete den Primeur einen Tag später – am Tag der Krönung von Elizabeth II.
Ein historischer Primeur
«Ich glaube, der letzte Tag auf dem Everest war der beste Tag meines Lebens, was den Überschwang der Gefühle betrifft», erinnerte sich Jan Morris: «Der Berg war bezwungen worden, und ich hatte bereits meinen Abstieg über den Gletscher in Richtung Katmandu begonnen und die Expedition hinter mir gelassen, um noch ihre Sachen zu packen.» Ihm sei es vorgekommen, als wäre er an jenem 30. Mai selbst gekrönt worden.
Drei Jahre später enthüllte James Morris exklusiv, dass sich Frankreich und Grossbritannien an der Seite Israels im Geheimen in den Suez-Konflikt eingemischt hatten, was Londons Premierminister Anthony Eden zum Rücktritt zwang. Beim Durchqueren des Sinai mit israelischen Truppen bemerkte der Korrespondent ägyptische Panzer und Lastwagen, die vollständig eingeäschert worden waren.
Bei Gesprächen mit französischen Kampfpiloten in Zypern erfuhr er, dass sie auf Seiten der Israelis die Ägypter mit Napalmbomben attackiert hatten. Die «Times», patriotisch und regierungshörig, mochte die Aufsehen erregende Geschichte nicht drucken, der «Guardian», kritischer und unabhängiger, hatte keine Bedenken.
Städteführerin par excellence
Für die «Times» und den «Guardian» schrieb James Morris über Kriege, Naturkatastrophen und Hungersnöte. Unter anderem berichtete er 1960 aus Moskau über den Prozess gegen Francis Gary Powers, den Piloten eines über der Sowjetunion abgeschossenen amerikanischen Spionageflugzeugs, und 1961 aus Jerusalem über das Verfahren gegen den deutschen Kriegsverbrecher Adolph Eichmann. In Havanna interviewte er den Revolutionär und Guerillaführer Che Guevara.
1946, unterwegs mit der britischen Armee nach Palästina, hatte James Morris Station in Venedig und Triest Halt gemacht, zwei Städte, über die er später liebevolle Beschreibungen verfassen sollte, nachdem er zu Beginn der 1960er-Jahre begonnen hatte, Bücher zu schreiben: über den Everest, über Amerika und den Nahen Osten, Städteporträts, über Oxford, Sydney und Hongkong, Reiseerzählungen sowie eine meisterhafte dreibändige Geschichte des britischen Imperiums: «Pax Britannica». Ihr unermüdliches Reisen, gestand Jan Morris, entspringe einem Antrieb ausserhalb ihrer Kontrolle: «Es ist ein äusserlicher Ausdruck meiner inneren Reise.»
Geist vor Körper
Jan Morris, schrieb ihr Biograf Derek Johns anlässlich ihres 90. Geburtstags, sei eine «ausserordentlich geschickte Schriftstellerin, die den Leser miteinbezieht, während sie selbst diskret präsent bleibt; die das Besondere benutzt, um das Allgemeine zu illustrieren und die da und dort Vorschläge einstreut wie Segnungen». Ihren schriftstellerischen Fähigkeiten entspräche ihr Talent für Beobachtung und Analyse sowie ihre wundervolle Gabe (…), mit Leuten ins Gespräch zu kommen und sie reden zu lassen: «Sie ist jemand, der beobachtet, in der Regel allein, aber nur selten einsam, aufmerksam auf alles um sie herum.»
Zeit ihres zweiten Lebens hat sich Jan Morris dagegen gewehrt, in erster Linie als jemand gesehen zu werden, der sein Geschlecht gewechselt hatte. «Ich habe dies nie als so wichtig eingeschätzt, wie alle andern das taten. Ich glaube mehr an die Seele und den Geist als an den Körper», sagte sie ein Jahr vor ihrem Tod. Obwohl sie auch ihren Körper nicht vernachlässigte. Bis fast zuletzt ging sie jeden Tag, Lieder pfeifend, 1000 Schritte, draussen im Freien, es sei denn, das Wetter war zu garstig. Die Götter wollten das so, sagte Jan Morris.
Quellen: The Guardian, The Observer, The Independent, The New York Times, BBC