Solche Reisen lassen sich vom Virus nicht beeindrucken, denn sie finden im Kopf statt. Im Gegenteil, das Virus schenkt uns kostbare Zeit, über Dinge nachzudenken, welche sonst eher zu kurz kommen. Zum Beispiel über die Zeit.
Zeit ist mehr als eine Angelegenheit der Physik. Doch wir können mit ihr beginnen: Was sagt die Physik zur Zeit?
Während ich an meinem Computer sitze und schreibe, schreitet die Zeit der Physiker unerbittlich und gleichförmig vorwärts, immer nur in eine Richtung, von der Gegenwart in die Zukunft über jenen mysteriösen Punkt des „Jetzt“, der keine Dauer hat und den wir „Gegenwart“ nennen. Sie läuft für alle Menschen gleich schnell, wie der Rennfahrer am Lauberhorn weiss. (Ach ja, die allgemeine Relativitätstheorie und die Zwillinge, welche verschieden schnell altern, wenn sie sich im All mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen – vielleicht sind sie spannend für Physiker, aber kaum relevant für die Welt, in der wir leben, also ignorieren wir sie für einmal!)
„Ein sonderbar Ding“
Doch die Zeit der Physiker ist nicht die Zeit des menschlichen Fühlens und Denkens. Unsere Sprache verrät es: Die Zeit steht still, oder auch: Die Zeit rennt einem davon. – „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, singt die Marschallin im Rosenkavalier und meint damit ein Gefühl, das wir alle kennen. „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal spürt man nichts als sie.“
Doch in unserer Wahrnehmung läuft die Zeit nicht nur unterschiedlich schnell – gerade jetzt in diesen Tagen, da die einen zum Abwarten, die andern zum pausenlosen Einsatz verurteilt sind –, sie versteht es auch, mühelos vorwärts und rückwärts zu springen. Bin ich im Raum unterwegs, auf einer Tour zum Gipfel meines Lieblingsberges zum Beispiel, kann ich mir die Reihenfolge der Wegstücke nicht wählen. Wie wäre es doch praktisch, ich könnte den Aufstieg oberhalb der Baumgrenze auf den frischen Morgen verlegen und später, wenn die Sonne vom Himmel brennt, die Partie durch den schattigen Wald absolvieren.
Nicht so auf einer Reise durch die Zeit, in einer Geschichte zum Beispiel. Es gehört geradezu zur Kunst des guten Erzählens, die Zeitachse nicht langweilig, gleichsam von links nach rechts abzuschreiten, sondern kühne Sprünge in die Zukunft und zurück in die Vergangenheit zu machen.
Habe ich das nicht erst gerade an dieser Stelle über einen der berühmtesten Geschichtenerzähler geschrieben.
Natürlich, Sie vermuten richtig, Homers Odyssee begleitet meine Frau und mich noch immer durch den eigenartigen Schwebezustand, in welchen uns das Coronavirus versetzt hat. Schliesslich benötigt dieses unvergleichliche Epos 12’110 Hexameter, um Odysseus’ zehnjähriger Heimfahrt von Troja nach Ithaka gerecht zu werden. Diese lassen sich nicht in ein paar wenigen Quarantänewochen rezitieren.
Tatsächlich spielt die Zeit in der Odyssee, ja ganz allgemein in der Welt der Mythen und Sagen, eine sehr eigenwillige Rolle. Nicht nur dass Homer die Geschichte vom Ende her erzählt und auch dazwischen in der Zeit hin und her springt, er variiert auch das Tempo, beschreibt manchmal über mehrere Gesänge die Ereignisse eines einzigen Tages, um dann plötzlich mehreren Jahren nur ein paar wenige Zeilen zu widmen. So verbringt Odysseus gute neun Jahre seiner zehnjährigen Heimfahrt bei der Nymphe Kalypso. Darüber erfahren wir im fünften Gesang nur Summarisches, etwa dass Odysseus jeden Tag mit der Nymphe das Lager zu teilen hat. Die Zeit scheint stehen zu bleiben wie das Wasser im abgeschnittenen Altlauf eines Flusses, bis schliesslich Athene ihre Götterkollegen zum Handeln aufruft, der Götterbote Hermes im Auftrag des Olymps bei Kalypso vorstellig wird und ihr befielt, Odysseus freizugeben.
„O unser Vater, Sohn des Kronos, du höchster der Herrscher,
wenn dies wirklich jetzt den seligen Göttern genehm ist,
dass der vielgewitzte Odysseus fahre nach Hause,
lasst uns Hermes dann, den Geleiter, den Töter des Argos,
eilig entsenden zur Insel Ogygia, dass er aufs schnellste
sage der lockenprächtigen Nymphe den bindenden Ratschluss
von des leidengestählten Odysseus Rückkehr nach Hause.“ (1)
Danach nimmt die Zeit plötzlich wieder turbulente Fahrt auf, wie wenn während eines Hochwassers der Fluss seine Altwässer flutet und alles mitnimmt, was sich dort angesammelt hat. Auf Anweisung von Kalypso zimmert Odysseus aus Bäumen ein Floss, mit dem er endlich die schiffslose Insel verlassen kann.
Lassen wir ihn fahren – wir werden Zeit genug haben, ihn wieder einzuholen, denn er wird noch viele Tage unterwegs sein – und wenden wir uns einem andern Aspekt der unterschiedlichen Wahrnehmung der Zeit durch die Physik und des Menschen zu, dem Prinzip der Kausalität. Für die Physik hat jedes Geschehen eine (wirkende) Ursache – in der Philosophie „causa efficiens“ genannt –, welche zeitlich VOR dem Ereignis, also in der Vergangenheit liegt. Umgekehrt ist der Zukunft jeglicher Einfluss auf die Gegenwart und Vergangenheit verwehrt. Mit andern Worten: Das „Jetzt“ wirkt in der physikalischen Welt wie ein Einwegventil, welches Wirkungen von der Vergangenheit in die Zukunft zulässt, nicht aber umgekehrt.
Dieses physikalische Grundprinzip über das kausale Wirken entlang der Zeitachse steht an der Wurzel eines Jahrhunderte alten philosophischen Disputs. Es hat die Physik in Konflikt mit der Kirche gebracht, denn für diese wird der Gang der Welt nicht nur durch die Vergangenheit, also im religiösen Denken durch die Schöpfungsgeschichte bestimmt, sondern gleichzeitig auch durch ein Ziel bzw. einen Zielzustand („causa finalis“). Der Sinn unserer Existenz offenbart sich also im Zusammenspiel zweier Kräfte, welche je vom Ursprung bzw. vom Ziel ausgehen. Die Kausalität wirkt gleichsam von hinten und von vorne auf das Jetzt, während im Gegensatz dazu die Physik das Wirken der Kausalität nur von der Vergangenheit in die Zukunft zulässt, was die Zeitachse asymmetrisch macht.
Der blinde Uhrmacher
Besonders heftig hat sich die Frage nach der Symmetrie bzw. Asymmetrie der Zeit an der Evolutionslehre von Darwin entzündet. Dieser Kampf lebt in der Bewegung des Kreationismus (biblische Schöpfungslehre) bis heute fort. Der englische Bischof William Paley, ein erbitterter Feind von Darwin, hatte gegen die Evolutionslehre vorgebracht, die Existenz von derart komplexen Gebilden wie Pflanzen und Tieren – vom Menschen ganz zu schweigen – beweise die kreative und lenkende Hand eines Uhrmachers, womit er Gott meinte und für die Entstehung der Arten ein übergeordnetes Ziel (eine „causa finalis“) verantwortlich machte. Darwin entgegnete, jener Uhrmacher, der fortwährend und ohne Plan auf verschiedene Art Schrauben, Zahnräder und Federn zusammensetze und im Verlauf seiner Versuche zufällig auch einmal eine funktionierende Uhr herstelle, sei in Tat und Wahrheit blind. So entstand die Metapher vom blinden Uhrmacher, der – im Gegensatz zu Paleys göttlichem Uhrmacher – nichts von der Zukunft weiss.
Ob gläubig und an einen göttlichen Plan glaubend oder nicht, das Bild der asymmetrischen Zeitachse der Physik steht im Widerspruch zu unserem Selbstverständnis bezüglich unseres Einflusses auf die Zukunft. Das ist kein Verdikt gegen die Gültigkeit der physikalischen Gesetze, sondern die Folge einer Fähigkeit des Menschen, welche ausserhalb der klassischen physikalischen Gesetze zu stehen scheint und die wir bis heute nicht wirklich verstehen, die Fähigkeit zur Selbstreflexion als Folge des Bewusstseins.
Unerwünschte Zukunftssituationen vermeiden
Forschung ist Selbstreflexion. Indem der Mensch durch Forschung immer besser versteht, wie die physikalischen, chemischen, biologischen, ökonomischen und sozialen Prozesse funktionieren, hat er sich Instrumente geschaffen, mit denen er Prognosen über den möglichen Verlauf der Zukunft erstellen kann.
Die (vorläufige) Krönung dieser Prognosen sind mathematische Modelle, zum Beispiel für das Klima, die globale Ökonomie oder die Verbreitung einer viralen Infektion. So wie ein Wanderer auf einer Landkarte mögliche Routen prüfen kann, ohne den Weg tatsächlich gehen zu müssen, hat der Mensch heute die Möglichkeit, mögliche Zukunftssituationen virtuell zu erkunden und Massnahmen zu evaluieren, mit welchen sich unerwünschte Zukunftssituationen vermeiden lassen. Tatsächlich wurden Klimamodelle nicht zuletzt mit dem Ziel entwickelt, um herauszufinden, wie verhindert werden kann, dass die Prognose wahr wird. Ob wir dann tatsächlich die Kraft aufbringen, aus antizipierten Negativzuständen den Lauf der Welt zu verändern, steht auf einem andern Blatt. Wissen und Willen waren schon immer ungleich stark.
Die Zukunft zu unseren Gunsten beeinflussen
Natürlich wäre es einfacher, an einen göttlichen Plan zu glauben – verspreche er das Paradies oder die Hölle –, denn die Erstellung von Prognosen ist unsicher und schwierig, wie uns das Coronavirus schmerzlich beweist. Und doch stellt gerade jetzt unser Wissen, so lückenhaft es auch sein möge, das einzige wirksame Instrument dar, um die Zukunft zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Es besteht deshalb die reale Hoffnung, dass die Corona-Pandemie anders verlaufen wird als früher die Pest oder die Spanische Grippe. „Anders“ heisst nicht unbedingt „gut“, aber wenigstens „besser“.
Prognosen als Karte für Wanderungen auf der Zeitachse, welche dem blinden Uhrmacher ein bisschen Sehvermögen verleihen! – Das bringt mich zurück zu Odysseus und den griechischen Göttern. Letztere fühlten sich, wie die griechischen Sagen beweisen, ohnehin nie an die asymmetrische Wirkung der physikalischen Kausalität gebunden. Vielleicht finden heute die damaligen Beratungen im Götterhimmel in den Büros der mathematischen Modellierer statt, wo Einflussnahme auf die Zukunft versucht wird. Doch hier wie dort, auf dem Olymp als auch in den Rechenzentren, immer ist das Wissen beschränkt, und es geschehen Fehler. Die Odyssee liefert ein gutes Abbild für das, was der Mensch heute in sich vereint, nämlich zugleich Schöpfer und Erdulder des Ganges der Geschichte zu sein.
(1) Zitat aus der Neuausgabe der Odyssee von Homer, übersetzt von Kurt Steinmann mit Illustrationen von Anton Christian, Manesse Verlag Zürich, 2007.