Die Suche nach dem Abfallwesen, dem Fabeltier der Jugend, führt von Regensdorf am Chatzensee und Chatzenbach entlang zur Entsorgungs- und Recyclinganlage Hagenholz in Zürich Oerlikon, wo ein anderes Wesen die Stadtlandschaft für seine Zwecke umgestaltet hat.
Haben Sie es schon einmal gesehen, das Abfallwesen, jenes geheimnisvolle Tier, das sich trotz seiner – vermuteten – Grösse den Blicken des Menschen so perfekt zu entziehen weiss, dass weder Herr Brehm in seinem monumentalen Werk noch seine zahlreichen Nachfolger etwas darüber zu schreiben wussten?
Ich habe schon in meiner frühesten Jugend danach zu suchen begonnen und es doch nie gefunden. Dabei war es damals omnipräsent. Sein Name prangte in grossen Lettern auf imposanten Lastwagen, an denen sich hinten Männer an Stangen festhielten und während der Fahrt auf- und absprangen. Wo immer ich diese Ungetüme erblickte, setzte der Erstklässler die frisch gelernten Buchstaben zusammen und sagte sie laut vor sich her. Dabei entdeckte er auch die verschiedenen Unterarten dieses geheimnisvollen Wesens. Jede Stadt und jede Region, die etwas auf sich hielt, hatte ihr eigenes Wesen, allen voran die Städte Zürich und Winterthur, aber auch Horgen, Wallisellen und Uster und viele mehr.
Ein Klassenkamerad war überzeugt, das Abfallwesen bleibe uns deshalb verborgen, weil ein gewisser Herr Ochsner, mit Vornamen Patent, alle Abfallwesen eingefangen und an einem geheimen Ort versteckt habe. Ich wunderte mich vor allem über den ungewohnten Namen «Patent». Er tönte wie eine Mischung aus Patrick und Vinzent, wie der kleine Bruder von Vinzrick. Aber auch die Gebrüder Ochsner halfen nicht weiter.
Später in meiner Schulzeit interessierten mich andere Dinge; das Abfallwesen geriet in Vergessenheit. Dies hing auch damit zusammen, dass auf den Lastwagen mit den turnenden Männern die Hinweise auf das unbekannte Wesen immer öfter durch neue Namen ersetzt wurden, zum Beispiel durch «Entsorgung und Recycling». Offenbar war das Abfallwesen unterdessen zum Sorgenkind geworden, dessen man sich (entsorgend) entledigen wollte. Oder befürchtete man, das seltene Tier sei vom Aussterben bedroht, weswegen man es recyceln müsse?
Ob bedroht oder nicht, während Jahrzehnten widmete ich keinen einzigen Gedanken mehr an das einst so geliebte Tier, bis es kürzlich an einer Gemeindeversammlung meines Wohnortes wie aus dem Nichts wieder auftauchte. Der Kanton Zürich, begann der zuständige Gemeinderat, noch nicht lange im Amt und sich der Brisanz des Themas für den seit Jahren dahin dösenden Abfallwesen-Spotter nicht bewusst, sei zum Schluss gekommen, das Abfallwesen müsse dringend durch ein neues Gesetz an die Kandare genommen werden. Vielleicht hatte, so meine Vermutung, das Abfallwesen zu viel Schaden angerichtet – wie der Wolf im Wallis –, so dass der Umgang mit ihm im in allen Gemeinden neu zu regeln sei. In jener Gemeindeversammlung lernte ich zudem – neben Entsorgung und Recycling – einen weiteren Begriff kennen: Abfallwirtschaft. Allerdings blieb unklar, ob damit vom Abfallwesen betriebene oder von diesem besuchte Gaststätten gemeint seien. Kurz, in den langen Stunden jener Gemeindeversammlung nahm ich mir vor, diesen Fragen, welche mich seit meiner frühesten Jugend beschäftigt hatten, nun endlich auf den Grund zu gehen. Und weil der bevorstehende Jahreswechsel ohnehin nach Vorsätzen lechzt, war mein erster Vorsatz geboren: Die endgültige Suche nach dem Abfallwesen.
Jede Suche beginnt heute bekanntlich auf dem Internet bzw. bei Google. Meine erste beruhigende Feststellung: Es gibt es noch, das Abfallwesen, obschon es unterdessen von anderen Arten an den Rand gedrängt worden ist. Aber wo wäre es noch zu finden? Wohl am ehesten in einem Naturschutzgebiet. Google Map empfahl das Naturschutzgebiet Chatzensee nördlich von Zürich als Ausgangsort meiner Suche. Vernünftig, dachte ich, geht es doch bei diesen Seen auch um ein Wesen (1). Wer weiss, der Weg vom Chatzensee zum Abfallsee ist vielleicht nur ein Katzensprung.
Als ich in Regensdorf die S6 verlasse, hängt der Hochnebel grau über dem Furttal, so grau und bedrückend wie die Mauer der Justizvollzugsanstalt, welcher der Wanderer auf der Suche nach dem Chatzensee die ersten paar hundert Meter folgt. Ich bin froh über das aufheiternde bisschen Schnee, das die Zeit überstanden hat, und über eine Gruppe von Kohlmeisen, welche im Pöschholz lautlos von Ast zu Ast flattern. Wissen sie wohl, dass hier schon in wenigen Wochen jeden Morgen ein lautes Vogelkonzert stattfinden wird, an dem sie teilzunehmen haben? Und werden sie sich Gehör zu verschaffen wissen gegen all den Lärm, der heute wie ein schmutziger Teppich über dem malerischen Ried liegt?
Es soll nicht unerwähnt bleiben: So schön die Landschaft hier auch ist, Lärmempfindliche werden auf meiner heutigen Wanderung während der kommenden zwei Stunden auf eine harte Probe gestellt. Immerhin ist für Abwechslung gesorgt; die Akteure wechseln ständig. Vorerst ist es die nahe Strasse, welche hier mitten durchs Ried führt. Als ich nördlich von Altburg die Bahngleise überquere, beginnt das Andreaskreuz zu lärmen und rot zu blinken. Ich flüchte mich auf die andere Seite und warte dort auf den angekündigten Zug. Beim Näherkommen übertönt er bald den Strassenlärm. Das kann keine S-Bahn sein, sagt der Bähnler in mir. Tatsächlich: Es ist der von einer Diesellokomotive angetriebene rote Hilfszug, der bei Unfällen zum Einsatz kommt. Ich hoffe, es handle sich nur um eine Probefahrt.
Ich überquere die Staatsstrasse und gehe zwischen den alten Gebäuden des Guts Katzensee hindurch. Wo früher Pferde logierten, gibt es heute ein Seminarzentrum. Der Kanton wird einen Teil des vor hundert Jahren aufgeschütteten Geländes wieder in ein Ried verwandeln. Wer den Chatzensee umrunden will (eine Stunde), kann nicht anders als jetzt einige hundert Meter in südöstlicher Richtung entlang der lärmigen Strasse zu gehen, bis der Wanderweg zum See abzweigt. Ich befinde mich jetzt im Naturschutzgebiet, da sollte das Abfallwesen nicht weit sein. In einiger Entfernung sehe ich ein grünes Wesen, doch beim Näherkommen entpuppt sich dieses als Elektro-Trottinett. Ob sich wohl das Abfallwesen damit in die Wildnis gerettet hat? Als ich zwischen dem See und dem Restaurant Katzensee entlanggehe, sehe ich ein Tier davonhuschen. Auch hier Fehlarm: Es handelt sich um einen Hund, der zwischen den verlassenen Geleisen der Dampfbahn Katzensee umherirrt.
Ich wandere weiter Richtung Osten vorbei am Seebad (wird umgebaut) und erreiche den «Oberen Ebnet», eine kahle, ausgeräumte Landschaft, in der einzig ein verlorener Baum steht. Von irgendwo ertönt der Ruf eines roten Milans. Plötzlich landet wenige Meter vor mir ein Graureiher. Beim Näherkommen beäugt er mich von der Seite, findet mich harmlos und lässt mich passieren. Habe ich mich getäuscht oder hat er mir tatsächlich zugeflüstert, ich solle auf der Suche nach dem Abfallwesen die Autobahn beim Tunneleingang überqueren und dem Chatzenbach abwärts bis zur Einmündung in den Leutschenbach folgen?
Die akustische Kulisse hat unterdessen auf Fluglärm umgestellt, wird westlich vom Büsisee jäh durch die A1 abgelöst und verwandelt sich dann bei den letzten Häusern von Unteraffoltern in einen allgemeinen akustischen Zivilisationsbrei, der um elf Uhr kurz durch das wohltuende Geläute der Kirche von Affoltern unterbrochen wird. Auf dem langen Weg ostwärts, dem Chatzenbach entlang, erlebe ich mit all meinen Sinnen den unaufhaltsamen Übergang vom Land zur Stadt. Bei Köschenrüti taucht der erste blaue Bus der VBZ auf, später gehe ich am Freibad Seebach vorbei, wo die spiralförmige Rutschbahn auf dem zugefrorenen Bassin endet, vor dem nahen Kindergarten ertönt fröhliches Lachen, dann erreiche ich die Endstation des 14ers, unterquere die Bahnlinie zwischen Oerlikon und Opfikon, überquere die Thurgauerstrasse und sehe schliesslich, wie sich bei der Haltestelle Fernsehstudio der Chatzenbach in einer hässlichen Röhre in den Leutschenbach ergiesst.
Und immer noch kein Abfallwesen! Was tun? Links stehen die Wohnblöcke des neuen Glattparks Opfikon, rechts prangt ein grosses SRF-Logo an einem fabrikartigen Gebäude … und plötzlich sehe ich ihn, den riesigen Turm, aus dem – wie aus einer überdimensionierten Friedenspfeife – weisser Rauch quillt. Das ist das Zeichen, hier, in dieser gut bewachten Burg muss es sein, das geheimnisvolle Abfallwesen. Doch der Eingang zum Gelände ist streng bewacht, Fussgänger sind nicht erwünscht. An einer weissen Tafel lese ich «Sonderabfall», darunter «Tierkörper» – jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Das Abfallwesen ist entsorgt oder gerecyclet, kurz: Ich komme zu spät.
Enttäuscht streiche ich meinen erstes Neujahrsvorsatz von der Liste. Jetzt wäre es schön, in den befahrbaren Tunnel hinunter zu steigen, in welchem die Röhren der Fernheizung Wärme bis ins Hochschul- und Spitalquartier bringen. Stattdessen gehe ich südwärts zu den Gleisen, auf welchen die Züge von Oerlikon nach Wallisellen fahren. Auch hier ist alles neu, gross und nicht gerade naturnah. Nur ein kleines Rinnsal zwischen Bahndamm und Fussweg – es heisst Binzmühlebach, wie ich später auf dem Stadtplan lese – bringt etwas Leben.
Plötzlich stutze ich. Überall liegen am Bahnbord geknickte Äste, abgenagte kleine Bäume und Büsche, ein richtiges Bioabfall-Eldorado. Und dann die grosse Überraschung. Ein gut gebauter Damm staut den Bach. Das Wasser hat weiter oben eine kleine Anlage, welche wohl für die gestressten Menschen aus Bürohochhäusern gedacht war, überflutet. Es gibt es noch, denke ich, das Abfallwesen, auch wenn es sich als Biber getarnt hat.
Mission erfüllt. Nach guten zweieinhalb Stunden ist es Zeit für ein Mittagessen im Bahnhofbuffet Oerlikon, das sich jetzt stolz Brasserie nennt.
(1) Katzensee oder Chatzenbach? – Ich verwende die (unterschiedlichen) Schreibweisen der Karte der Landestopografie.
Alle Bilder (ausser Bild 2): Dieter Imboden