Köln ist unter den deutschen Städten in mancherlei Weise einzigartig. In ihrer mehr als 2000-jährigen Geschichte hat die Metropole am Rhein vieles erlebt, manches bewegt, eine Menge über sich ergehen lassen müssen, aber auch mit ihrer Offenheit und Toleranz, ihrer Schlampigkeit und ihrem „leben-und-leben-lassen“ wunderbare Vorbilder abgegeben. In Köln ist die „Fünf“ bei Bedarf eine gerade Zahl. Wenn Sanierungsarbeiten an Gebäuden, Straßen oder Brücken partout nicht vorangehen, tröstet man sich, dass der Dom ja auch erst nach 650 Jahren fertiggestellt wurde. In seinem Schatten durfte der „Kölsche Klüngel“ zur Perfektion reifen – jenes sonst überall unerreichte Funktionieren von Beziehungsgeflechten egal ob in Politik, Wirtschaft oder sonst wo. Hauptsache, es vollzieht sich unterhalb jeder öffentlich einsehbaren und damit zu kontrollierenden Ebene. Die einen übersetzen „Klüngel“ mit „Wir-kennen-uns,-wir-helfen-uns“, andere finden selbst in der negativen Auslegung noch einen freundlichen Anstrich: „Korruption ist Klüngeln ohne Charakter“.
Ein Selbstbildnis zerbricht
Es ist ein freundliches Selbstbildnis, das Köln und die Kölner von sich gemalt haben. Getreu Artikel drei des (ironischen) rheinischen Grundgesetzes, der da lautet: „Et hätt noch immer jot jegange“ – was in der Übersetzung heißt: „Es ist noch immer gut ausgegangen“. Mit den brutalen Übergriffen in der Silvesternacht am und im Kölner Hauptbahnhof, mit den sexuell motivierten Angriffen von 1000 oder sogar noch mehr völlig enthemmten jungen Männern auf Frauen und den damit einher gehenden massenweisen Diebstählen ist dieses fröhliche Bild jetzt zerbrochen. Nicht nur, dass die Medien mit einem Mal den Blick wieder auf die hässlichen Seiten der Karnevals-Kapitale richten. Auf die Rauschgift-Dealer, Taschendiebe und Straßenräuber des Nachts auf den Stadtringen. Nein, diese Neujahrsnacht wirkt seither wie ein Feuerzeichen – ein Fanal, das in vielfacher Weise über die Grenzen der Stadt, ja mittlerweile sogar des Staates hinaus wirkt.
Denn die dramatischen Vorgänge in den nächtlichen Stunden zum neuen Jahr treffen mitten ins Zentrum einer sich ohnehin aufgewühlt-zuspitzenden Auseinandersetzung über die aktuelle Entwicklung der Flüchtlingsproblematik in Deutschland und deren Bewältigung. Wie Gesellschaft und Politik am Ende damit fertig werden, steht heute noch in den Sternen. Dass in Köln der bisherige Polizeipräsident seinen Posten verlor, ist vermutlich noch das Geringste. Das nächste „Opfer“ könnte sein jetziger Chef sein, der nordrhein-westfälische Landes-Innenminister Ralf Jäger (SPD). Doch am Ende könnte es auch die Bundeskanzlerin, Angela Merkel (CDU), treffen. Merkel hat gewiss die menschliche Lawine aus den nahöstlichen Kriegs- und nordafrikanischen Krisengebieten nicht ausgelöst. Zehntausende von Flüchtlingen bewegten sich schließlich bereits auf der „Balkanroute“, als Merkel den Satz sprach: „Wir schaffen das!“. Damit freilich bekam die „Völkerwanderung“ jene zusätzlich Dynamik, deren Wucht dann die Politik sowie die darauf nicht vorbereiteten staatlichen Organe und schließlich auch die bürgerliche Gesellschaft einfach überrollte.
Schock der Unehrlichkeit
Was – über das schon genügend schlimme kriminelle Geschehen hinaus – durch „Köln“ in der Öffentlichkeit ausgelöst wurde, ist ein doppelter Schock. Erstens die Tatsache selbst, dass die Täter (und ähnliches vollzog sich ja praktisch zeitgleich auch in anderen deutschen Städten wie Hamburg, Stuttgart oder Düsseldorf) zu einem Großteil eben aus jenen (muslimischen) Gruppen kamen, die doch immerhin angeblich vor der Gewalt geflüchtet waren und denen hier Schutz und Herberge geboten wurden. Und der zweite Schock folgte, als ruchbar wurde, dass – möglicherweise auf politische Weisung – die Polizeiführung genau eben dies offensichtlich zu vertuschen suchte. Erst im Zuge des Bohrens der lokalen und regionalen Medien (also der von Rechtsaußen so heftig angefeindeten „Lügenpresse“) wurde dieser Skandal nach und nach publik.
Ja, es ist einer. So wie es immer ein Skandal bleiben wird, wenn Lügen und unsaubere Vorgänge unter den Teppich gekehrt werden sollen. Im vorliegenden Fall greift das Problem tiefer. Es hat vornehmlich zu tun mit der, immer mehr um sich greifenden, „politischen Korrektheit“ und einem daraus erwachsenen vorauseilenden Gehorsam. Was damit gemeint ist, hat vor kurzem die junge, griechisch-stämmige Bochumer Streifenpolizistin Tania Kambouri in ihrem Buch „Deutschland im Blaulicht – Notruf einer Polizistin“ geschrieben. Es ist einerseits eine schonungslose Abrechnung mit „den sozialromantischen Anhängern eines unkritischen Multikulti“, gleichzeitig aber auch eine Zustandsbeschreibung in jenem Berufsstand, der doch immerhin für die innere Sicherheit sorgen soll. „Meine deutschen Kollegen scheuen sich, ihre Meinung über straffällige Ausländer zu äußern, da dann sofort wieder die Leier mit den Nazis anfängt“.
„Willkommenskultur“ statt Nüchternheit
Man muss kein notorischer Schwarzseher sein, um festzustellen, dass sich die Stimmung in Deutschland in besorgniserregender Weise auf einen Punkt zu bewegt, an dem sie kippen könnte. Nicht wenige Meinungsträger – darunter auch Medien – mögen geglaubt haben, dass die Bilder von applaudierenden Menschen im Münchener Hauptbahnhof beim Eintreffen von Zügen mit Flüchtlingen aus Budapest jene „Willkommenskultur“ dauerhaft manifestieren, in der man sich gerne sonnte. Stattdessen wäre von Beginn an jene Nüchternheit angebracht gewesen, die nötig ist, um mit krisenhaften Lagen fertig zu werden. Denn inzwischen hat die Zahl der Migranten die Millionengrenze weit überschritten. Mehr als 300 000 darüber hinaus, schätzen die Sicherheitsbehörden, sind nicht einmal registriert, sondern bewegen sich unerkannt irgendwo in den deutschen Ballungszentren, wo – z. B. in Duisburg, Dortmund, Düsseldorf oder Berlin – es heute schon sogenannte „no-go-areas“ gibt, in denen etwa libanesische Familien über ganze Straßenzüge herrschen und wohin sich die Polizei gar nicht mehr wagt.
Das sind alles keine neuen Erkenntnisse und haben zunächst einmal mit den jetzigen Flüchtlingsmassen gar nichts zu tun. Als Beispiel sei der jüngst in Paris von der Polizei erschossene Attentäter genannt, der mindestens bereits seit Januar 2013 (mit sieben verschiedenen Identitäten!) in Deutschland lebte und sogar schon mehrere Gefängnisaufenthalte hinter sich hatte. Wenn sich jetzt - von der Kanzlerin angefangen über den Bundesinnen- und den Justizminister sowie diverse Bundes- und Landespolitiker ob in Regierungsverantwortung oder Opposition – politische Entscheider schier überbieten mit Forderungen und Absichtserklärungen hinsichtlich neuer, schärferer ausländerrechtlichen Regelungen, dann fällt es schwer, dahinter nicht bloßen Aktionismus zu sehen. Wer allein die bundesweite Zahl abgelehnter und damit an sich ausreisepflichtiger Asylbewerber mit jener der tatsächlich abgeschobenen vergleicht, erkennt das Vollzugsproblem. Und dieses zu beheben, ist nach dem deutschen Rechtssystem ja auch schwer. Wenn man, zum Beispiel, nicht weiß, woher jemand stammt, weil er seine Papiere weggeworfen hat – wohin soll der denn abgeschoben werden? Wie schnell sich allein aus dieser „Taktik“ bei vielen Migranten eine Bleibe-„Sicherheit“ festgesetzt hat, zeigen wiederum Handlungen und Aussagen von kurzfristig festgenommenen Tätern am Kölner Hauptbahnhof. Da wurden, demonstrativ vor den Augen der Polizei, Registrierzettel der Immigrationsbehörde zerrissen. Andere, wiederum, sagten den Beamten grinsend: „Ihr könnt mit gar nichts. Ihr müsst vielmehr nett zu mir sein. Denn ich bin hier Gast, eingeladen von ´Mutti Merkel´“.
Furcht vor der Wähler-Wut
Natürlich ist die inzwischen in Gang gekommene hektische Aktivität aus der Not der Situation geboren. Aber mindestens ebenso aus der Sorge vor möglichen politischen Entwicklungen im Lande. In diesem Jahr werden in fünf deutschen Bundesländern neue Parlamente gewählt – darunter bereits am 13. März in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. In allen drei konnte sich, bis zum vergangenen Sommer, die CDU mit ihrer damals noch sehr populären Bundeskanzlerin Angela Merkel berechtigte Siegeshoffnungen machen. Die sind mittlerweile einer deutlichen Skepsis gewichen. Innerhalb der Christlichen Sozialen gährt es – besonders an der „Basis“. Noch steht, wie sich am vergangenen Wochenende bei einer Konferenz in Mainz zeigt, die Parteiführung zwar hinter der Regierungschefin. Das dürfte sich, freilich, schlagartig ändern, falls die Wähler den Christdemokraten eine Abfuhr erteilen sollten – möglicherweise sogar ins Lager der schwer rechtslastigen, muslimfeindlichen „Alternative für Deutschland“ (AfD) wechseln würden.
Wie groß die mitunter sogar zur Wut angewachsene Sorge vieler Bürger vor einer nicht (oder nur schwer) zu beherrschenden Krise um die Flüchtlinge ist, lässt sich unschwer in den Kommentaren bei facebook und den anderen (un)sozialen Netzwerken lesen. Dabei sind jene unsäglichen Beleidigungen und nicht selten sogar bis zu Morddrohungen reichenden Eintragungen hier nicht einmal berücksichtigt. Tatsächlich geht es zwischen Flensburg und Konstanz, Rhein und Elbe auch gar nicht mehr um diverse politische Schicksale. Inzwischen steht mehr auf dem Prüfstand. Es sind ganz neue Fragen für die Civitas. Wie ernst ist es uns mit unserer Mitmenschlichkeit? Wie halten wir es mit der Liberalität unserer Gesellschaft, wenn sie unter Druck gerät. Was sagen wir zu dem „Fremden“? Wie steht es, weiter, um unsere viel beschworenen „Werte“? Wie hoch halten wir tatsächlich die sowohl aus dem Christentum als auch aus der Aufklärung, der französischen Revolution und den naturwissenschaftlichen – nicht selten schwer erkämpften – Errungenschaften wie Freiheit, wie Gleichheit aller Menschen, wie Religionsfreiheit, wie absoluter Vorrang von Verfassung und Gesetz, wie Gewaltmonopol des Staates, wie Freiheit von Presse und Kunst usw. Wie konsequent gehen Ordnungsmacht und Justiz gegen Verstöße dagegen vor. Oder müsste die Frage bereits lauten; Wie konsequent dürfen sie dagegen vorgehen?
Nur ein starker Staat…
In den Gründungsjahren der Bundesrepublik war die Einsicht unbestritten, dass nur ein starker Staat auch ein wirklich liberaler Staat sein könne und es keine Freiheit für die Feinde der Freiheit geben dürfe. Führt das Fanal von Köln zu Konsequenzen? Die türkischstämmige Autorin, Sozialwissenschaftlerin, Frauenrechtlerin und Publizistin Nekla Kelek scheint da nicht übermäßig optimistisch zu sein. Sie kritisiert: „Dieselben Akteure, die noch vor Wochen den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden… rechtes Gedankengut unterstellten, weil er auf mögliche Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus (von Seiten muslimischer Flüchtlinge, d. Red.) hinwies, fordern jetzt die ´Härte des Gesetzes´.“ Seit Jahren werde die Polizei auf Deeskalation und politische Korrektheit verpflichtet – bis zur Schreckensnacht an Silvester. Nun sei der Schreck groß.
Der Schreck ist, bis in die tiefe Bürgerlichkeit, auch deshalb so groß, weil man mit einem Male merkt, wie brüchig jene „Normalität“ in Wirklichkeit geworden ist, in der man es sich warm gemacht und gemütlich eingerichtet hatte. Man spürt, dass die Realität in der Welt ringsum mit dieser „Normalität“ nichts gemein hatte und diese wohl auch im wohligen Mitteleuropa so nicht länger Bestand haben werde.