Das Wahlgesetz war nach der Annahme der Verfassung das letzte Teilstück, das noch fehlte, um eine Wahl für ein erstes reguläres Parlament durchzuführen. Die Wahlen allerdings werden noch etwas auf sich warten lassen, weil die praktischen Vorbereitungen, Wählerlisten und ähnliches, noch mehrere Monate beanspruchen werden. Der amtierende neutrale Minsterpräsident, Mehdi Jomaa, hat erklärt, er sehe nicht ein, warum diese Wahlen nicht noch dieses Jahr durchgeführt werden sollten.
Keine Rache an Politikern der Ben Ali-Ära
Die Diskussionen um das Gesetz erhitzten sich an zwei Hauptfragen: sollte es Bestimmungen zur Ausschliessung früherer Mitarbeiter des abgesetzten Ben Ali geben? und sollten die Frauen durch Sonderbestimmungen über ihre Beteiligung am Parlament gefördert werden? Die erste Frage war heikel, weil der Anführer und Star der "säkularen" Hauptpartei "Nida Tunes" (Ruf Tunesiens), Qaed as-Sebsi, ein möglicher künftiger Ministerpräsident, einst als Sprecher des - zahmen - Parlamentes unter Ben Ali gedient hatte. Sie wurde knapp, mit der Mehrheit von einer Stimme, zugunsten eines Verzichts auf alle Ausschlussbestimmungen entschieden.
Bemerkenswert ist, dass "Ennahda", die potentielle Rivalin von "Nida Tunes", für den Verzicht auf Ausschlussverordnungen eintrat. Die "islamische" Partei hat damit dem gewichtigsten Politiker ihrer säkularen Widerspieler den Weg zum politischen Wettbewerb geöffnet.
Ein epochaler Sieg für die Frauen
Die Frage der Förderung der Frauen war auch heiss umkämpft. Eine der Gegnerinnen war eine Frau, die Industrielle Fattouma Artiç. Sie erklärte, auch sie habe sich ihren Weg nach oben selbst öffnen müssen, und sie sei der Meinung, die Frauen sollten sich aus eigener Kraft vorwärts bringen. Hauptbefürworterin war auch eine Frau, aus den Führungsrängen der islamischen "Ennahda" Partei, die Vizepräsidentin der Versammlung, Meheriza Labindi.
Sie sagte aus, ihre politische Position verdanke sie selbst der politischen Förderung der Frauen, die nach der Revolution eingeführt worden war, als beschlossen wurde, die Hälfte der Parlamentskandidaten sollten Frauen sein. Ennahda weist den grössten Anteil an Frauen in der Versammlung auf, 41 Frauen in einer Gesamtzahl von 90 Abgeordnet/innen.
In der Frauenfrage kam es dazu, dass die "Ennahda"- Abgeordneten zum ersten Mal nicht geschlossen stimmten, sondern die Parteiparole nur zu Teilen befolgten. Resultat war zum Schluss die Bestimmung, dass alle Parteien gleich viele Frauen wie Männer auf ihre Wahllisten zu setzen hätten, und auch, dass die Frauen und die Männer abwechselnd, also in Reissverschluss Ordnung, auf den Listen zu stehen hätten. Dies zweite, um zu vermeiden, dass alle Männer sich oben ansammeln und dadurch die besten Chancen erhalten, gewählt zu werden.
Diese Diskussionen fanden - im Gegensatz zu den früheren politischen Debatten im Parlament statt, nicht auf den Strassen, und sie konnten im Parlament durch Abstimmungen zu einem positiven Abschluss gebracht werden. Die Debatte nahm allerdings Zeit in Anspruch. Sie dauerte vom 8. April bis zum 1. Mai.
Folgt nun eine Wirtschaftsreform ?
Damit sind die politischen Wege geöffnet, hin zu einer vollen und brauchbaren Demokratie. Allerdings werfen die wirtschaftlichen Probleme weiterhin lange Schatten. Der Technokrat und Ministerpräsident Jomaa, der als ein neutraler Statthalter für die Vorwahlperiode wirkt, hat erklärt, er werde nicht bei den kommenden Wahlen kandidieren. Dies obwohl er bereits viel Volkstümlichkeit erworben hat. Stattdessen hat er sich vorgenommen, durch Rationaliserung und Korrekturen von Missständen, die Wirtschaft voranzubringen und das schwerwiegende Defizit des staatlichen Budgets zu korrigieren.
Er weiss, dass dies nicht ohne Schmerzen für die Bevölkerung abgehen wird, weil staatliche Subventionen abgebaut werden müssen, vor allem im Energiesektor. Er hat plant dies in kleinen Schritten in Angriff zu nehmen. Der Subventionsabbau soll so organisiert werden, dass er weniger die Bedürftigen und mehr die Wohlhabenden trifft.
Billigeres Benzin für die Ärmeren geplant
Für Benzin wird das wahrscheinlich eine doppelte Preisschiene bedeuten: teurer für die reicheren Schichten, verbilligt, aber in der Menge beschränkt, für die Werktätigen und Bedürftigen. Leicht zu organisieren wird eine derartige Ordnung nicht werden, weil sie Raum für Missbräuche öffnet. Doch gewiss ist richtig: die politische Neuordnung ist nun unter Dach gebracht worden, die wirtschaftliche jedoch muss ihr folgen, wenn das ganze Bestand haben soll.