Der Aufmarsch der Trolle und Bots in den allerletzten Stunden des Bundestagswahlkampfs ist das jüngste Beispiel: Mit Fake News über angebliche Wahlfälschungen wurde in den sozialen Netzwerken Stimmung gemacht und es wurden rechte Wähler mobilisiert. Wo Schleusenwärter fehlen, die den Faktengehalt von Nachrichten prüfen, punkten Betrüger. Falschinformationen und Konspirationstheorien werden zum Geschäftsmodell einer Desinformationsökonomie, die für die Demokratie zerstörerische Folgen haben kann.
Immerhin hat ein Aussenseiter unter den Sozialforschern frühzeitig das Rüstzeug für die Analyse dieser Desinformationsökonomie geliefert, in die wir infolge der digitalen Disruption hineinzuschlittern drohen und die sich seither auch zur Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus ausgeweitet hat. Kurz vor der Jahrtausendwende, also noch bevor Internet und Digitalisierung den herkömmlichen Medienbetrieb mit aller Wucht durcheinanderwirbelten, hat in Wien Georg Franck sein Konzept der „Aufmerksamkeitsökonomie“ publiziert.
Er zeichnete vor, wie Institutionen, aber auch Politiker und Wirtschaftsführer, Künstler, Sportler und Funktionäre immer mehr nach öffentlicher Aufmerksamkeit gierten. „Prominente sind die Einkommensmillionäre in Sachen Aufmerksamkeit. Der Ruhm ist die schönste der irdischen Belohnungen, weil er den Status des Grossverdieners an Aufmerksamkeit noch über den Tod hinaus sichert“, gab Franck zu Protokoll. Und: „Je reicher und offener die Gesellschaft, umso offener und aufwendiger wird der Kampf um die Aufmerksamkeit ausgetragen.“
Information gegen öffentliche Aufmerksamkeit
Diese wachsende Konkurrenz um Aufmerksamkeit veränderte den öffentlichen Diskurs. Franck setzte dem materiellen einen „mentalen“ Kapitalismus entgegen, der „närrische Züge“ trage. Er skizzierte einen zweiten Wirtschaftskreislauf, der den bisherigen Austausch von Waren und Dienstleistungen gegen Geld zunehmend überlagere, ja an Bedeutung übertreffe: Unter Bedingungen zunehmenden Wohlstands und der Saturierung materieller Bedürfnisse werde in der Aufmerksamkeitsökonomie vermehrt Information gegen öffentliche Aufmerksamkeit getauscht.
Die Aufmerksamkeitsökonomie war mitgeprägt vom rasanten Wachstum und von der Professionalisierung der PR-Branche, die ihren Kunden eben ein Mehr an öffentlicher Wahrnehmung verhiess. Der Journalismus hat auch deshalb seine Glaubwürdigkeit verloren, weil er der Übermacht seiner Zulieferindustrie nicht mehr Paroli zu bieten vermochte – eben der PR-Experten, die die Welt im Interesse ihrer Auftraggeber schönreden.
Inzwischen entwickelt sich diese Aufmerksamkeitsökonomie rasant zur Desinformationsökonomie weiter. Mit dem Siegeszug des Internets und der Digitalisierung hat sich für die Nutzer das Nachrichtenangebot vervielfacht. Was im Übermass vorhanden ist, verliert indes an Wert. Und wir selbst verlieren obendrein leicht den Überblick: Ökonomen sprechen vom „Paradox der Auswahl“.
So wie wir uns im Supermarkt quälen, unter Dutzenden von Frühstücksflocken oder Marmeladen eine Wahl zu treffen, so überfordert uns längst auch die Vielzahl der News-Angebote als Nachrichtenkonsumenten. Immer mehr Nutzer vertrauen deshalb darauf, dass die für sie wichtigen Nachrichten zu ihnen finden, soll heissen: Sie verhalten sich passiv und überlassen die Auswahl ihrem Freundeskreis und den Algorithmen von Facebook und Twitter. Während uns indes staatliche Kontrolleure bei Lebensmitteln vor Gammelfleisch und Fipronil-Eiern schützen, ist das hohe Gut der Pressefreiheit nur zu garantieren, wenn es keine staatlichen Zensurbehörden gibt, die den Nachrichtenfluss kontrollieren. Im „alten“ Mediensystem hat der Journalismus diese Schleusenwärter-Funktion übernommen, doch die klassischen Nachrichten-Versorger gerieten als Folge der Digitalisierung massiv unter Druck.
Die IT-Giganten beraubten die alten Medienunternehmen
Bei den Werbeumsätzen schrumpften die Margen. Die IT-Giganten beraubten die alten Medienunternehmen innerhalb weniger Jahre ihrer Haupterlösquellen, Werbetreibende können dank Suchmaschinen und sozialer Netzwerke ohne allzu grosse Streuverluste ihre Zielgruppen erreichen. Einen Grossteil der Online-Werbeerlöse, auf welche die traditionellen Medienunternehmen hofften, erzielen deshalb inzwischen Google, Facebook und Co.
Wer von Kindheit an mit Gratisinformation im Internet aufgewachsen ist, kann sich ausserdem kaum mehr vorstellen, für Journalismus zu bezahlen. Gerade weil die meisten Menschen nicht hinter die Kulissen des Medienbetriebs gucken können, ist die Qualität von Journalismus für den Nutzer intransparent. Es fehlt somit auf der Käuferseite Qualitätsbewusstsein und damit auch Zahlungsbereitschaft.
Damit einhergehend schrumpften die Redaktionen. Die Alles-gratis-Magie übt ihre Faszinationskraft allerdings auch auf der Hinterbühne des Medienbetriebs aus. Gestandene Chefredakteure haben Nachrichtenagenturen gekündigt, weil es im Internet doch alles „umsonst“ gibt. Und viele Medienmanager meinen, man könne Redakteure wegrationalisieren, weil die Redaktionen doch tagtäglich kostenlos mit Medienmitteilungen geflutet werden, die sich mit wenigen Copy-and-paste-Befehlen in „Journalismus“ verwandeln lassen. Auch freie Mitarbeiter werden immer öfter mit Aufmerksamkeit statt mit Geld entlohnt – ist es nicht eine Ehre, für den „Tagesspiegel“ oder die „Süddeutsche Zeitung“ schreiben zu dürfen?
Diese Schwäche des Journalismus wird inzwischen schamlos ausgenutzt, um uns mit Propaganda zu manipulieren oder mit Fake News Geld zu verdienen. Damit die Aufmerksamkeitsökonomie kippt und sich zur Desinformationsökonomie weiterentwickelt, muss es sich „nur“ für eine Vielzahl von Akteuren wirtschaftlich oder machtpolitisch lohnen, durch Fakes, Halbwahrheiten und Propaganda Aufmerksamkeit zu erzielen.
Angesichts der schnellen viralen Verbreitung solcher Falschnachrichten geraten honorige Versuche, aufzuklären und die Wahrheit zu finden, leicht ins Hintertreffen. Falschnachrichten sind deutlich billiger herstellbar als „echte“ News, die auf Fakten basieren. So dürften sich mehr und mehr Akteure im Vorfeld des Journalismus fragen, ob es sich unter den veränderten Rahmenbedingungen weiterhin lohnt, sich an das „alte“, auf Faktizität geeichte Regelsystem zu halten. Wenn wir nicht höllisch aufpassen und Gegenkräfte mobilisieren, ist es von der Desinformationsökonomie zur desinformierten Gesellschaft nur ein kleiner Schritt.
Dieser Artikel erschien zunächst im Berliner „Tagesspiegel“.