Dennoch: Der Countdown zum Krieg laufe – das jedenfalls schreibt der deutsche Nahostkenner Michael Lüders in seinem Buch „Iran – der falsche Krieg. Wie der Westen seine Zukunft verspielt“. Lüders bezieht sich in seinem Buch auch auf viele amerikanische Quellen, besonders auf einen Aufsatz von Matthew Kroenig von der Georgetown-Universität in der Januar/Februar-Ausgabe der amerikanischen Zweimonatsschrift „Foreign Affairs“. Dort wirbt der Professor hartnäckig für einen Angriff auf den Iran, weil ein nuklear gerüsteter Iran das derzeit grösste Sicherheitsrisiko für die USA darstellen würde.
Gegen Mainstream-Stereotypen
Offenbar erschreckt über die Welle von Kritik, die über Kroenig hinwegschwappte, veröffentlichte Foreign Affairs in seiner Juli/August-Ausgabe jetzt einen Beitrag von Kenneth N. Waltz von der Columbia-Universität. Der Autor gab seinem Aufsatz den Titel „Why Iran Should Get the Bomb“.
Unabhängig voneinander unterziehen sich Michael Lüders und Kenneth N.Waltz der dringend notwendigen Aufgabe, den ständig im journalistischen Mainstream wiederkehrenden sprachlichen Stereotypen – wie etwa „Mullahregime“ - und den gängigen Argumenten – wie etwa dem, der Iran wolle Israel mit Atomwaffen vernichten – auf den Grund zu gehen.
Das Ergebnis dieser journalistischen und wissenschaftlichen Gegenrecherche ist erhellend. Es zeigt, dass all die Sanktionen gegen den Iran, seine Dämonisierung wie stets in solchen Fällen einseitig aus eurozentrischer bzw. amerikanischer Sicht kommen; die Interessenlage und vor allem die schlimmen historischen Erfahrungen, die der Iran mit diesem „Westen“ gemacht hat, lassen die gängigen Anti-Iran-Argumente dagegen vollkommen ausser Acht.
Dabei führt Michael Lüders auch moralische Gründe an, warum man den Iran nicht attackieren dürfe, während Kenneth N.Waltz unter Heranziehung rein politischer und geostrategischer Belege zu dem Schluss kommt, dass ein nuklear bewaffneter Iran durchaus zur Stabilität in der Region beitragen werde. „Es wäre“, schreibt Michael Lüders, „der dritte Krieg in wenigen Jahren, den westliche Staaten in den Mittleren Osten“ tragen ... erst nach Afghanistan, dann in den Irak und schließlich in den Iran.
Keine Selbstzweifel im Westen?
„Eine naheliegende, doch in den Medien oder der Politik nur selten zu vernehmende Frage sei an den Anfang gestellt: Woher nehmen wir eigentlich die Hybris, die Völker der Region nacheinander mit Gewalt zu überziehen, im Falle Iraks mit hunderttausenden Toten ... ohne uns nennenswert mit Selbstzweifeln aufzuhalten?“
Nein, Selbstzweifel gebe es nicht, folgert der Autor, denn in „der Causa Iran“ gehe es nur vordergründig um Irans angeblichen Griff nach der Bombe. „Tatsächlich aber sind vor allem die USA und Israel, in ihrem Windschatten auch die Europäer bemüht, die Regionalmacht Iran, den einzigen Staat neben Syrien im weiten Raum zwischen Marokko und Indonesien, dessen Politik nicht pro-westlich ausgerichtet ist, in die Schranken zu weisen.“ (Michael Lüders)
Blick auf Israels Atomarsenal
In die Schranken weisen. Kenneth M.Waltz ist der Meinung, ein anderer Staat stifte durch seine Nuklearwaffen Unruhe in der Region und müsse deshalb in die Schranken gewiesen werden – nämlich Israel. Der Autor schreibt: „Israels nukleares Monopol ... verursacht seit Langem im Mittleren Osten Instabilität. In keiner anderen Region der Welt gibt es einen einzigen, ungebremsten nuklearen Staat. Es ist Israels nukleares Arsenal, nicht Irans Streben danach, das am meisten zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat. Macht, immerhin, verlangt nach Balance.“
Balance aber liegt offenbar nicht im Interesse der USA und daher auch nicht – aus falsch verstandener transatlantischer Solidarität – im Interesse der jegliche aussenpolitische Selbständigkeit vermissen lassenden Europäischen Union. Michael Lüders zitiert ein Interview mit Mohammed el-Baradei, dem ehemaligen (ägyptischen) Direktor der „Internationalen Atomenergie Agentur“ . El-Baradei sagte am 19.April 2011 gegenüber Spiegel-Online: “Die Amerikaner wie auch die Europäer haben uns wichtige Dokumente und Informationen vorenthalten. Sie waren nicht an Kompromissen mit der Regierung in Teheran interessiert, sie wollten den Regimewechsel – egal wie.“
"Nicht unsere Form der Rationalität"
Mit El-Baradeis Nachfolger, dem Japaner Yukiya Amano, sind die USA und Europa offenbar zufriedener als mit seinem Vorgänger. Amano stehe, so zitiert Michael Lüders einen Bericht der US-Botschaft in Wien, der dem britischen „Guardian“ von Wikileaks zugespielt worden war, „in allen strategischen Schlüsselfragen fest auf der Seite der USA, von der personellen Besetzung von Schlüsselpositionen bis zum Umgang mit Irans mutmasslichem Atomwaffenprogramm“.
Will der Iran Israel zerstören, wie der sich in der Tat politisch wild gebärende und von Michael Lüders heftig kritisierte Mahmut Ahmadinedschad angeblich plant? Wird der Iran von „unberechenbaren Mullahs“ regiert, wie westliche Medieneinlassungen immer wieder einmal suggerieren? Einige ernst zu nehmende israelische und westliche Kenner des Iran argumentieren nicht so. Meir Dagan, bis Januar 2011 Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, erklärte in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS: „Den Iran zu bombardieren, ist die dümmste Idee, von der ich je gehört habe.“
Weiter sagte – so nachzulesen bei Michael Lüders – Meir Dagan, das Regime im Iran sei ein „überaus rationales“. Und auf die Frage, ob er Ahmadinedschad für rational halte, sagte Dagan: „Die Antwort ist ja. Nicht unsere Form der Rationalität, aber ich halte ihn für rational.“
Auch Iran würde einen Atomkrieg nicht überleben
In der Tat würde ein iranischer Atomwaffenangriff auf Israel nicht nur Israel zerstören, sondern auch jenes Volk, das Ahmadinedschad angeblich schützen will – die Palästinenser. Und noch immer gilt der Satz: Wer als erster (mit Atomwaffen) schiesst, stirbt als zweiter. Ebenso wie Israel/Palästina würde nämlich auch der Iran einen Atomkrieg nicht überleben.
Eine identische Einschätzung iranischer Politik findet man bei Kenneth N.Waltz. Irans Politik sei keinesfalls von „verrückten Mullahs“ gestaltet, sondern von ganz und gar gesunden Ayatollahs, „die überleben wollen wie alle anderen Führer“. Obwohl die iranischen Führer anstachelnder und hasserfüllter Rhetorik frönen, zeigen sie keine Neigung zur Selbstzerstörung. Für israelische und amerikanisch Politiker wäre es ein schwerwiegender Fehler, anderes zu vermuten.“ Es sei aber das Ziel amerikanischer und israelischer Politik, die Meinung zu verbreiten, Mullahs und Ayatollahs seien verrückte Politiker, auf die – deshalb – die Theorien nuklearer Abschreckung nicht zutreffen könnten.
Historische Traumas im Iran
Nelson Mandela hat einst gesagt, der von den amerikanischen und britischen Geheimdiensten betriebene Putsch gegen den iranischen Premier Mohammed Mossadegh im Jahre 1953 habe direkt zur Machtübernahme Ayatollah Chomeinis im Jahre 1979 geführt. In der Tat ist die Vertreibung Mossadeqhs, der die – in den Augen des Westens – Frechheit besass, die westlichen Erdölgesellschaften zu verstaatlichen und damit die iranischen Ölschätze in iranisches Eigentum zu überführen, eine der historischen Traumata, die den Iran bis heute heimsuchen.
Ein anderes ist die Aufteilung des Iran in eine russische und eine britische Interessensphäre im Jahre 1907. Ein weniger weit zurückliegendes düsteres historisches Erlebnis ist der von Saddam Hussein angeordnete irakische Angriff vom September 1980. Bis 1988 wütete dieser erste Golfkrieg, er forderte über eine Million Tote. Hinter Saddam standen – damals war Saddam Hussein im Westen noch hoffähig, weil er amerikanische Interessen vertrat – auch die USA. Diese wurden vom makabren Kalkül geleitet, in diesem Golfkrieg würden sich Iran und Irak so lange in einander verbeissen, bis beide politisch und militärisch ausbluteten, mithin keinerlei Gefahr mehr für die autokratischen Golfherrscher mit ihren riesigen Ölreserven darstellen würden.
Indien und Pakistan als Beispiel
Und nun steht der Iran wieder im Fadenkreuz einer ausländischen Militärmaschine. George Bush Junior hat den Weg rhetorisch bereitet, indem er den Iran – in Unkenntnis seiner leidvollen jüngsten Geschichte – als „Schurkenstaat“ abkanzelte. Michael Lüders schreibt, ein Angriff auf den Iran hätte für die Region, die Welt ähnliche Auswirkungen wie einst der erste Weltkrieg auf Europa und die USA. „In der Region“, schreibt er, „reihen sich die Konflikte aneinander wie Perlen auf der Kette. Ein Angriff auf den Iran würde ein tektonisches Beben auslösen, das man sich am besten vorstellt wie eine chemische Kettenreaktion. Ist sie einmal ausgelöst, kann sie nichts mehr aufhalten, weder Präsident Obama noch Revolutionsführer Chameini, die Vereinten Nationen nicht und am allerwenigsten die israelische Regierung.“
Im Jahre 1991 hätten, schreibt Kenneth N.Waltz, die historischen Rivalen Indien und Pakistan ein Abkommen geschlossen, in dem sie sich verpflichtet hätten, die nuklearen Anlagen des Nachbarn nicht anzugreifen. Der Autor empfiehlt, Israel und der Iran sollten einen ähnlichen, friedlichen Weg gehen.
„Wie der Westen seine Zukunft verspielt“ – so lautet der Untertitel des Buches von Michael Lüders. In der Tat: Ein von den USA und, wenn auch widerwillig, von Europa gebilligter Angriff Israels auf den Iran würde die letzte Glaubwürdigkeit des „Westens“ in der weiten Region von Algerien bis Afghanistan endgültig zerstören.
Michael Lüders: Iran – der falsche Krieg. Wie der Westen seine Zukunft verspielt. C.H.Beck Verlag München 2012, 175 S. Euro 14.95.
Kenneth N.Waltz: Why Iran Should Get the Bomb. In: Foreign Affairs, July/August 2012, S. 2-5
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