Atempause im Chaos-Trubel zwischen den beiden deutschen Unionsparteien um die künftige Flüchtlings- und Asylpolitik? Oder Ultimatum der bayerischen Christsozialen an CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel? Was sich soeben in Berlin und München abspielt, enthält beide Elemente. Einerseits ist – vorerst – das drohende Auseinanderbrechen der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU verhindert worden. Aber eben nur, weil der CSU-Vorsitzende und Bundesinnenminister Horst Seehofer zusammen mit der Münchener Landesregierung Merkel noch einmal eine Handlungsfrist bis zum EU-Gipfel am 28./29. Juni eingeräumt haben. Dort, und in den knapp zwei Wochen davor, soll sie nun die von ihr stets favorisierte „europäische“ Lösung des Zuwanderungsproblems erreichen. Man kann es auch so formulieren: Der Kanzlerin wurde das Messer an die Kehle gesetzt.
Galoppierender Vertrauensverlust
Dabei geht es bei dem sich immer mehr zuspitzenden Streit zwischen den beiden Partei-„Schwestern“ im Kern gar nicht mehr bloss um unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die vielen noch immer unbewältigten Folgen des unkontrollierten Massenzustroms aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika endlich in den Griff zu bekommen sind und eine künftige Zuwanderung geordnet geregelt werden könnte. Natürlich steht dieses heisse Thema im Zentrum der politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen. Und richtig ist ebenfalls, dass für die CSU die im Oktober anstehenden Landtagswahlen ein treibender Faktor bei ihren aktuellen Attacken sind.
Trotzdem ist es zu einfach, den Christsozialen dieses politische Kalkül ständig vorzuwerfen. Wird nicht umgekehrt den Parteien, nicht zuletzt von den Medien, immer wieder vorgehalten, brennenden Themen in den Wahlkämpfen aus dem Weg zu gehen? Nun mag man es mögen oder nicht – das Flüchtlingsproblem rangiert, ausweislich aller Umfragen, mit grossem Abstand weit vorn auf der Sorgenliste der Bürger. Und wenn sich nicht die demokratischen Parteien dieser Ängste annehmen, werden es die gnadenlosen Vereinfacher tun. Und zwar mit Erfolg.
Vertrauensverlust
Viel bedeutsamer als das Schwertergeklirr zwischen Berlin und München ist der wachsende Unmut und der daraus resultierende, regelrecht galoppierende Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass in den drei Jahren seit dem unkontrollierten Massenzustrom ab September 2015 nach Deutschland nichts Entscheidendes getan wurde, um der damit verbundenen wirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten Herr zu werden. Und es ist (auf die aktuelle Situation bezogen) ja auch wirklich niemandem zu erklären, warum zum Beispiel bereits abgelehnte und abgewiesene Asylbewerber trotzdem wieder ungehindert einreisen können.
Insofern dreht sich der bis an den Rand der Parteispaltung reichende Streit fast irrational um eine in der Sache gar nicht umstrittene Frage, die zudem unter vernünftigen Leuten eigentlich innerhalb von Minuten gelöst werden sollte.
Die Ursachen liegen tiefer
Nein, die Ursachen für die gegenwärtige fundamentale Krise liegen tiefer. Natürlich spielt auch die schon seit langem anhaltende gegenseitige persönliche Abneigung zwischen Merkel und Seehofer mit hinein. Aber es ist eben auch nicht mehr zu übersehen, dass sich nach 13 Jahren Regentschaft die Zahl derer sowohl innerhalb der Union als auch bei den so oft zitierten „Menschen draussen im Lande“ mehrt, die der Nachfolgerin von Helmut Kohl zunehmend überdrüssig werden. Das ist im Grunde normal und entspräche ja auch der Theorie, dass in einer Demokratie politische Ämter nur „geborgt“ seien, beziehungsweise durch die Wähler für eine begrenzte Zeit verliehen würden. Ein (möglichst geordneter) Machtwechsel gehört also mit zu diesen Spielregeln.
Bloss: Was ist geordnet in diesen Zeiten? Theoretisch ist ja völlig unbestreitbar, dass die von Angela Merkel favorisierte „europäische“ Lösung bei der Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber auf möglichst alle EU-Mitgliedstaaten allen nationalen Abwehrmassnahmen vorzuziehen wäre. Sollte sie sich jedoch erneut eine Abfuhr holen (wofür sehr viel spricht) und sich dennoch den Seehofer’schen Abschiebungen verweigern, wäre dies – mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit – das Ende der CDU/CSU-Gemeinschaft und damit zugleich der Bruch eines nach dem Krieg geschlossenen Bundes von Vertretern gleicher oder ähnlicher liberal-konservativer, moralischer, ethischer, wirtschaftlicher und humanistischer Werte. Dieser Bund, diese Union, hat das Land über 70 Jahre entscheidend mitgeprägt, brachte Bundeskanzler hervor wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Helmut Kohl sowie Präsidenten wie Richard von Weizsäcker, Roman Herzog oder Joachim Gauck.
Vertrauenskrise und AfD
Sollte diese Verbindung zerbrechen, hätte das – ohne Frage – viel dramatischere Auswirkungen als der kurzzeitige, damals von Franz-Josef Strauss inszenierte und exekutierte so genannte Kreuther Trennungsbeschluss vom November 1976. Seinerzeit ging es darum, dass die CSU rechts von sich keine weitere politische Kraft dulden wollte. Heute ist mit der AfD eine solche längst da und scheint sich – angesichts eines wenigstens aktuell noch ungebremsten Zulaufs – auch zu etablieren. Wobei sich dieser Zustrom keineswegs nur aus dem konservativen Lager speist, sondern genauso von sozialdemokratischer, grüner, liberaler ja selbst kommunistisch-linker Seite kommt. Kaum sonst etwas spiegelt die Vertrauenskrise in der Gesellschaft so scharf wider wie dieser Vorgang.
Ja, es erscheint sogar nicht einmal mehr ausgeschlossen, dass diese populistische Politsammlung ohne vernünftiges Programm und wirklich vorzeigbares Personal im Falle notwendig werdender Neuwahlen zur zweistärkten Kraft im Bund anwachsen könnte – noch vor der ebenso an Tradition reichen wie einstmals stolzen SPD, die gegenwärtig bloss noch bei etwa 18 Prozent herumdümpelt und überhaupt kein Kapital aus der Unions-Krise zu schlagen vermag. Was also wäre, wenn bei einer Regierungsbildung an den politischen Irrlichtern auf der Rechten kein Weg vorbei führte? Italienische Verhältnisse?
Nicht den Teufel an die Wand malen
Es heisst wirklich nicht den Teufel an die Wand zu malen, wenn man solche Szenarien durchspielt. Sie zeigen vielmehr, dass dieser Erdteil und damit eben auch Deutschland ganz offensichtlich vor einer – möglicherweise fundamentalen – Zeitenwende steht. Es macht mitunter schaudern zu sehen, mit welchem Mutwillen (ja geradezu gezielt) schon seit geraumer Zeit und auch von innen heraus ausgerechnet jenes Werk ganz offensichtlich sturmreif geschossen werden soll, das zu den grandiosesten Leistungen der Völker des „Alten Kontinents“ überhaupt gehört: Europa.
Mag ja sein, dass jüngere Generationen die friedensstiftende und friedenserhaltende Wirkung der EU nicht mehr hochschätzen können, weil diese allzu „normal“ ist. Aber dass es in Zeiten von Globalität und Digitalisierung offensichtlich nur schwer gelingt, der Einsicht Gehör zu verschaffen, wonach Europa nur gemeinsam den grossen Blöcken USA, Russland und China Paroli bieten kann, ist völlig unerklärlich. Stattdessen nationale bis nationalistische Strömungen, wohin man blickt.
Nähert sich jetzt auch Deutschland diesen Tendenzen an? In den vergangenen Jahrzehnten herrschte dort fast durchgehend eine beachtliche politische und wirtschaftliche Stabilität auf der Basis eines grossen demokratischen Grundkonsenses. Und dessen Bewahrung sollte eigentlich den Kampfhähnen und -hennen von Berlin und München Grund genug sein, auf gefährliches Zündeln zu verzichten.