Der Dokumentarfilmer Heinz Bütler hat eine Gruppe von Anker-Fans ins Atelier des Meisters geholt, darunter Endo Anaconda. Für ihn ist der Film zum Vermächtnis geworden. Der Star des Berner Mundart-Rocks entdeckt im Inser Atelier seine Nähe zu dem oft als purer Idyllenmaler verkannten Künstler.
Albert Ankers Wohn- und Atelierhaus ist als historischer Zeuge etwas Einmaliges. Das Ensemble ist nach Ankers Tod – er lebte von 1831 bis 1910 – als eines der ganz wenigen Künstlerhäuser überhaupt unverändert erhalten geblieben. Zurzeit wird es als Bestandteil des «Centre Albert Anker» restauriert.
In diesem Haus und Atelier situiert Heinz Bütler seinen neuen Künstlerfilm. Er hat ein Grüppchen von Anker-Fans zusammengerufen, das sich hier auf eine Begegnung mit dem Inser Maler einlassen will.
Nach und nach treffen sie im alten Berner Seeländer Haus ein, in welchem sie dem Leben und Arbeiten Albert Ankers bis in die letzten Winkel nachspüren werden: der Singer-Songwriter Endo Anaconda, die Kunsthistorikerin und Direktorin des Berner Kunstmuseums Nina Zimmer, der bald hundertjährige Galerist Eberhard W. Kornfeld, der Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der Pianist Oliver Schnyder sowie der Nachlassverwalter und Anker-Ururenkel Matthias Brefin. Mit kürzeren Auftritten kommen auch die Historikerin Noëmi Grain Merz und die Kunsthistorikerin Isabelle Messerli im Verlauf des Films hinzu.
Plötzliche Gegenwart
Regisseur Bütler achtet darauf, das Treffen nicht zu einem Anker-Symposium oder einem Reigen von Expertenauftritten werden zu lassen. Er führt die Protagonisten zuerst individuell an die überwältigende Konkretheit dieser Hinterlassenschaft heran. Niemand kann sich der Aura dieses Ortes entziehen. Die Malerwerkstatt mit ihren Wänden voller Skizzen, Kopien und Fotografien; die Pinsel, Farben, Staffeleien, Gipsabgüsse und Requisiten; die tausendbändige Bibliothek mit Werken in sechs Sprachen von der Biblia hebraica – der spätere Maler war ein (unglücklicher) Theologiestudent – über Horaz zu historischen Fachbüchern und der Literatur seiner Zeit: Ankers Welt ist in diesem Atelier konserviert wie in einer Zeitkapsel, in die man eintreten und deren Geist man als plötzliche Gegenwart erfahren kann.
Nina Zimmer steuert gleich auf einen japanischen Farbholzschnitt zu, der mit einem währschaften Nagel an die Wand gepinnt ist. Die Japanbegeisterung in der Kunst jener Zeit ist ihr als Fachfrau wohlbekannt, doch hier darauf zu stossen, ist für sie überraschend. Der Fund wird nicht der einzige Hinweis auf Ankers Weltläufigkeit bleiben. Er hat ja auch dreissig Jahre lang regelmässig die Wintermonate mitsamt seiner grossen Familie in Paris verbracht.
Ankers frühe Künstlerjahre waren die Zeit des Impressionismus, und in Paris war er mittendrin in dieser kunsthistorischen Revolution. Die Frage liegt nahe, ob und wieweit impressionistische Strömungen ihn beeinflusst haben. Sowohl die Kunsthistorikerin Zimmer wie der Galerist Kornfeld glauben Bezüge zu erkennen, dies aber kaum in den Gemälden, sondern vornehmlich in Ankers Landschaftsaquarellen. Die Hauptarbeiten des Insers zeigen einen altmeisterlichen Stil, dessen Vorbilder in der Zeit von der Renaissance bis zur Romantik angesiedelt sind. Nicht umsonst meinte Anker einmal, seine Vorstellung vom Paradies sei es, bei Raffael Malstunden zu nehmen.
Nähe zum Tod
Unter den Atelierbesuchern ist es Endo Anaconda, der sich rückhaltlos in die Begegnung mit Anker hineinbegibt, ja eigentlich hineinwirft. Die Bilder schlafender Kinder, ein bei Anker vielfach vorkommendes Sujet, bewegen den Rocker sichtlich. Mehrfach erscheint das Motiv eines bei seinem Grossvater schlummernden Buben, der Alte in Gedanken versunken oder ruhig auf den Schläfer schauend. Der gealterte Endo Aanaconda macht sich diesen Blick zu eigen, der nicht nur die Lebensspanne zwischen Kindheit und Greisenalter umschliesst, sondern auch eine Beunruhigung angesichts des schlafenden Wesens spürt. Der Betrachter der Szene denkt an damals und seine eigenen noch kleinen Kinder. Schliefen sie, so habe er alle zehn Minuten horchen müssen, ob sie noch atmeten.
Der Kindstod war immer nahe zu Ankers Zeit. Von den sechs Kindern des Malers waren es zwei Buben, die früh starben. Gut möglich, dass Anker beim Malen der schlafenden Kinder ähnlich empfunden hat wie sein Bewunderer anderthalb Jahrhunderte später.
Endo betrachtet lange eine Fotografie Ankers, sucht nach Worten und bringt endlich etwas hervor wie: «Das kommt mir nahe, das geht mir nahe.» Er weiss in dem Augenblick nicht, dass er kurz nach Ende der Dreharbeiten mit Lungenkrebs im Spital liegen wird. Den Film hat er nie gesehen. Endo Anaconda starb am 1. Februar 2022.
Mit kraftvoller Leinwandpräsenz prägt er dem Film den Stempel seiner Persönlichkeit auf und wird zum dominierenden Gegenpart des Malers. Bütler hat fast ebenso sehr einen Film über Endo Anaconda wie über Albert Anker gemacht – auch wenn das vermutlich so nicht vorgesehen war. Lässt man einen wie diesen Endo von der Leine, so nimmt er sich die Bühne, den Raum, das Publikum. Das ist gar nicht anders möglich.
Und doch verdrängt er den Anker nicht aus dem Film. Das liegt zum einen an der nachdrücklichen Anwesenheit des Malers in der Zeitkapsel, die er in seinem Inser Haus hinterlassen hat und in der die von Bütler dorthin eingeladenen Gäste sich wie auf Zehenspitzen bewegen. Zum anderen liegt es an der paradoxen Verwandtschaft zwischen Endo und Anker. Zwar ist der eine laut und der andere leise, der erste rebellisch und der zweite bescheiden. Aber sie finden sich in dieser Kapsel; woanders ginge das vielleicht nicht.
Das «Verfertigen der Gedanken»
An Menschen, die vor einer Kamera reden, hat uns das Fernsehen gewöhnt. Längst haben wir feine Antennen, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit von Sprecherinnen und Sprechern am Bildschirm abschätzen zu können. Dabei stellen wir jeweils in Rechnung, dass sie geschult, trainiert, gecoacht sind. Solch geschliffene Auftritte gibt es in Bütlers Film nicht. Nina Zimmer, als sie die Reproduktion eines Ankerschen Frühstückstisches vor sich hat, praktiziert, was Heinrich von Kleist «die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden» genannt hat.
Man kann ihr bei diesem «Verfertigen der Gedanken» förmlich zusehen, als sie nach und nach die Bausteine einer wichtigen Einsicht über Ankers Malerei zusammenfügt. Der Eindruck eines einfachen, geordneten, kultivierten und die Menschen gewissermassen bergenden Lebensvollzugs, den dieses Bild ausstrahlt: Das ist für Albert Anker eine bedrohte, von der um sich greifenden modernen Zeit bereits untergrabene, ja vielleicht schon fast vergangene Realität.
Der oft als Idyllenmaler apostrophierte Inser erweist sich als Nostalgiker. Er hält die Erinnerung an eine untergehende Welt fest. Und es ist wohl dieser wehmütige Blick, der ihn zum bis heute populärsten Maler der Schweiz gemacht hat. Man kann das als rückwärtsgewandte Haltung kritisieren, und manche tun das ja. Doch das Bewusstsein eines Verlusts hat auch ein kritisches Potential. Ankers beste Bilder evozieren nicht einfach eine vergehende Wirklichkeit, sondern sind in erster Linie Manifeste einer Humanität, die den Wert eines Menschen nicht an Rang und Leistung bemisst. Eine solche Haltung hat im Zeitalter von Industrialisierung und gesellschaftlicher Dynamik neue Relevanz bekommen.
Filmmusik oder Musikfilm?
Indem Heinz Bütler einen Musiker in seinen Film eingeladen hat, gibt er dem Musikalischen eine besondere Rolle. Oliver Schnyder nimmt an der Erkundung des Ateliers teil und spielt die Musik zum Film auf dem alten Klavier, das zur originalen Ausstattung des Anker-Hauses gehört. Bütler berichtet, er habe Schnyder eine Aufnahme mit dem Klang des Klaviers geschickt mit der Frage, ob er auf diesem Instrument spielen könne. Worauf Schnyder geantwortet habe, Bütler solle das Klavier auf keinen Fall stimmen lassen.
Schnyder hat für den Film Musik von Edvard Grieg gewählt, einem Zeitgenossen Ankers, der wie dieser stark in seiner Landschaft und Volkstradition verwurzelt ist und als Komponist genauso in einer Umbruchsituation lebt wie Anker als Maler. Diese Musik funktioniert im Film gerade deshalb, weil ihre Verwandtschaft mit dem Filmthema nicht vordergründig zutage liegt. Auf dem gewiss lange nicht gespielten, ein bisschen verstimmten Ankerschen Klavier intoniert und als Originalton durch das geräumige Haus klingend, ist sie genau die richtige Filmmusik.
Leider war Oliver Schnyder dann mit dieser so stimmigen Darbietung wohl doch nicht zufrieden. Und so bekommt das alte Piano halt nur eine eng beschränkte Filmpräsenz. Den Grossteil der Grieg-Musik hat Schnyder auf einem grossen Steinway-Flügel in einer Kirche aufgenommen. Dieser Wechsel vom atmosphärischen O-Ton zum technisch perfektionierten Soundtrack erschlägt den Film, der ja von Improvisation lebt. Dies umso mehr, als der Steinway-Ton wuchtig und mit metallisch scharfem Diskant regelrecht über die Bilder herfällt. In diesen Momenten tritt die Filmmusik völlig in den Vordergrund und polt die Darbietung um zum Musikfilm. Was ein bisschen schade ist.
Mit dieser Einschränkung kann Heinz Bütlers neuer Film jedoch als gelungenes Experiment allen empfohlen werden, die Lust drauf haben, den (vermeintlich) wohlbekannten Albert Anker neu kennenzulernen.
Heinz Bütler: Albert Anker. Malstunden bei Raffael, Dokumentarfilm, Schweiz 2022, 90 Minuten
ab 15. Dezember in den Kinos
Fotos: © Filmcoopi, Zürich