Zwei Polizisten der tunesischen Nationalgarde sind am Donnerstag 17. Oktober bei einem Einsatz gegen eine bewaffnete Gruppe ums Leben gekommen. Ein dritter liegt schwerverletzt im Spital. Die Polizei-Einheit wollte in einer kleinen Ortschaft etwa 70 km westlich von Tunis im Gouvernorat Béjà die gemeldete Gruppe kontrollieren und wurde vom Schusswechsel offenbar überrascht. “Wir waren klar in der Minderheit”, sagte ein verletzter Polizist gegenüber einer tunesischen Radiostation. Die Gruppe von Kämpfern soll laut Innenministerium bis zu 20 Mann stark sein. Erstmals ist in dieser Gegend im Nordwesten von Tunis eine bewaffnete Zelle aufgeflogen. Waffen und zwei Tonnen Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff wurden dabei entdeckt.
Zielscheibe Ordnungskräfte
Seit Ende Juli haben die tödlichen Angriffe auf die Einheiten des Militärs und der Polizei zugenommen. Je nach Quelle zwischen 12 und 15 Soldaten und Polizisten sind bisher bei bewaffneten Angriffen im Landesinnern umgekommen, die meisten nahe der algerischen Grenze. Das Innenministerium beschuldigte als Täter wiederholt die islamistische Organisation Ansar-Al-Scharia, auch beim jetzigen Angriff auf die Kontroll-Einheit der Nationalgarde. Seit Ende August gilt die Salafistengruppe Ansar-Al-Scharia in Tunesien offiziell als terroristische Vereinigung. Ihr Anführer in Tunesien, ein ehemaliger Al-Kaida-Afgahnistankämpfer, ist seit Dezember 2012 flüchtig.
Misstrauensvotum gegen die Regierung
Am 18. Oktober wurden die beiden toten Nationalgardisten beigesetzt. Die höchsten Vertreter der provisorischen Regierung (Premierminister Larayedh, Staatspräsident Marzouki und Parlamentspräsident Ben Jaafar) waren allerdings an einer offiziellen Zeremonie vor den Beerdigungsfeierlichkeiten nicht willkommen. Laute Proteste der Polizisten verhinderten den Auftritt der drei Regierungsvertreter. Einzig Innenminister Ben Jeddu konnte unbehelligt an der Zeremonie teilnehmen. Es ist das erste Mal, dass sich die Einheiten der Polizei so offen gegen die oberste Staatsführung wenden. Bereits früher hatten Sicherheits-Experten darauf hingewiesen, dass sie für die Bekämpfung des Terrorismus nicht genügend ausgerüstet seien. Premierminister Larayedh hat mit aller Härte reagiert und den Polizisten für ihr Verhalten mit Konsequenzen gedroht.
Nationaler Dialog startet am Jahrestag der Wahlen
Die Entdeckung der bewaffneten Gruppe kommt zu einem heiklen Zeitpunkt. Die politische Krise, die sich seit Ende Juli in Tunesien zuspitzt, wird gegenwärtig mit der Lancierung eines nationalen Dialogs zu lösen versucht. Er soll am 23. Oktober offiziell starten und würde automatisch zur Ablösung der jetzigen Regierung führen. Zahlreiche Störmanöver zu diesem runden Tisch, der alle Parteien in einen Plan zur Formung einer Technokraten-Regierung und der Organisation von Wahlen einbindet sind erwartet worden.
Die Ermordung der beiden Polizisten und die Aufdeckung der bewaffneten Gruppe und grosser Mengen Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt ist der bisher schwerwiegendste Zwischenfall seit die Vorbereitungsarbeiten zum nationalen Dialog am 5. Oktober offiziell begonnen haben.
Der neu festgelegte Termin am 23. Oktober 2013 ist ein symbolisches Datum: Es ist der zweite Jahrestag der ersten freien Wahlen nach der Revolution im Januar 2011. Seit dem 23. Oktober vor einem Jahr warten die Tunesier auf ihre neue Verfassung. Linke Oppositionsparteien haben die Bevölkerung an diesem Tag zu Strassenprotesten aufgefordert. Die islamistische Ennahda-Partei hat das bereits kritisiert und als kontraproduktiv für den nationalen Dialog verurteilt.
Anti-Terror-Einsatz abgeschlossen
Die tunesische Armee hatte am 18. Oktober gegen die von ihr zur Terrorzelle deklarierten Gruppe eine Militäroperation gestartet, die inzwischen praktisch abgeschlossen zu sein scheint. Der Einsatz soll mit Unterstützung aus der Luft erfolgt sein, Helikopter und Armeeflugzeuge waren im Einsatz, ein Teil der Bergregion Touayel wurde laut Agenturen bombardiert. Bisher wurden vom Innenministerium neun tote Kämpfer und vier Verhaftete gemeldet, zwei Gesuchte seien noch auf der Flucht. Das Militär verzeichnet 5 Verletzte. Die Militäroperation wird vom Innenministerium als erfolgreich bezeichnet.
Auch über Tunis selber kreisen seit ein paar Tagen wiederholt Helikopter. Auf den grossen Ausfallstrassen der Stadt sind Polizeisperren eingerichtet worden. Die Polizeipräsenz ist unübersehbar. Nachts sind die Strassen leer gefegt, niemand bewegt sich mehr nach Mitternacht. Die Angst der Bürger vor terroristischen Angriffen in der Hauptstadt ist Dauerthema. Für den 19. Oktober wurde ein nationaler Trauertag ausgerufen, alle kulturellen Aktivitäten sind abgesagt oder verschoben.
Kein ruhiges Opferfest
Die hohe Polizeipräsenz hatte markiert, dass die provisorische Regierung die Gefahr von Anschlägen während des Opferfests für sehr real hielt. Das grösste islamische Fest des Jahres „L’Aïd el Idha“ hat seinen Festcharakter mit diesen Ereignissen definitiv verloren. Die Entdeckung der bewaffneten Zelle ist einerseits eine gute Nachricht, sie wurde der Nationalgarde gemeldet, sollte kontrolliert werden und wurde aufgedeckt.
Die grössere Gruppe bewaffneter Männer und zwei Tonnen sprengstofffähiges Material nur 70 Kilometer von der Hauptstadt entfernt sind allerdings mehr als beunruhigend. Militante Kreise planen offensichtlich, den nationalen Dialog und damit die Organisation der nächsten freien Wahlen in Tunesien zu torpedieren und vielleicht auch die Absetzung der provisorischen Regierung, die von der islamistischen Partei Ennahda dominiert wird, zu verhindern.
Das Misstrauen zwischen den Parteien steigt täglich. Ennahda wird schon für die Ermordung von zwei Oppositionspolitikern im Februar und Juli dieses Jahres mitverantwortlich gemacht, weil sich die islamistische Bewegung viel zu spät von gewaltbereiten fundamentalistischen Kreisen distanziert hat. Dass der Premierminister offen von den eigenen Sicherheitskräfte zum Rücktritt aufgefordert wird, ist ein starkes Signal. Nicht einmal die Sicherheitskräfte fühlen sich mehr sicher in Tunesien. Für die tunesischen Bürger ist das alles ein grosses Déjà-Vu. Die Angst kennen sie schon länger, sie hat nur die Farbe gewechselt.