Das zähe Ringen um die Zukunft des Iraks scheint nun einem Höhepunkt und einer möglichen Entscheidung entgegenzutreiben. Seit der Zeit der amerikanischen Intervention bestehen Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten. Sie hatten unter den Amerikanern in den Jahren 2006 und 2007 einen Höhepunkt erreicht. Damals war unter der Oberfläche der amerikanischen Besetzung ein Banden- und Bürgerkrieg zwischen den beiden Religionsgemeinschaften ausgebrochen, der zu vielen Mordaktionen und zur gewaltsamen Trennung innerhalb vieler zuvor gemeinsam bewohnter Stadtviertel und Ortschaften führte.
Die Sunniten, wenn man die Kurden ausschliesst, sind eine Minderheit von nur gut 25 Prozent der arabischen Iraker. Die von den Amerikanern eingeführten demokratischen Abstimmungen bewirkten daher, dass die Schiiten im Irak an die Macht kamen und das Land zu regieren begannen. Dies zum Zorn nicht nur der Sunniten, die bisher stets das Staatsvolk im Irak ausgemacht hatten, sowohl in den nahezu vier Jahrhunderten Osmanischer Herrschaft, wie unter den Engländern und während der 71 Jahre auf sie folgender Unabhängigkeit. Empört und beunruhigt waren auch die saudischen Nachbarn des Iraks und die Erdöl-Kleinstaaten am Golf.
Umbruch der Sicherheitslage am Golf
Für sie alle war der Irak seit der Zeit Khomeinis, die 1979 begann, eine Rückendeckung gegen Iran und dessen seit Khomeini militanten Schiismus gewesen. Der Irak verfügte über das einzige Heer in der Region, das dem iranischen gewachsen war, und bildete daher ein militärisches Gegengewicht gegen Iran bis zum Machtumschwung, den der amerikanische Angriff auslöste. Ein sunnitisch beherrschter Irak bildete eine Art von Schutzwall für die sunnitischen Golfmachthaber.
Allerdings, wie es sich 1991 erwies, als Saddam Hussein überraschend gegen Kuwait lossschlug, war der Irak auch ein nicht ungefährlicher Nachbar für sie.
Jedenfalls erblickte Riad in der «Machtergreifung» der Schiiten in seinem militärisch überlegenen Nachbarland eine Gefahr für das eigene Regime und für die Gesamtheit der sunnitischen Araber. Nach der saudischen Lesart schwebt das bisherige Machtverhältnis in der ganzen arabischen Welt, das zu Gunsten der Sunniten bestand, nun in Gefahr zu Gunsten der Schiiten und deren iranischer Vormacht zu kippen. Dies war der Grund dafür, dass Saudi-Arabien sich als unversöhnlich gegenüber dem unter al-Maleki bestehenden schiitischen Mehrheitsregime im Irak erwies.
Die Machtfestung al-Malekis
Es entstand eine Interessengemeinschaft zwischen den irakischen Sunniten und den Saudis, die versuchte, die Machtverhältnisse im entgegengesetzten Sinne zu kippen.
Die Vorstellung, dass ein Gleichgewicht zwischen beiden Religionsgemeinschaften zustandegebracht werden könnte und zum Vorteil des Landes gewesen wäre, scheint keine der beiden Seiten mit jener Ernsthaftigkeit ins Auge gefasst zu haben, die nötig gewesen wäre, um ihr zum Durchbruch zu verhelfen.
Das Gegenteil kam zustande. Weil al-Maleki für sich und seine auf der schiitischen Gemeinschaft beruhende Machtstellung fürchtete, tat er, was er konnte, um die sunnitische Gemeinschaft in seinem Land niederzuhalten. Er benützte dazu unter anderem die Gesetze und Verordnungen, die gegen die Parteigänger des hingerichteten Saddam bestanden, denn diese waren in erster Linie Sunniten. Dazu kam eine Anti-Terror-Gesetzgebung nach amerikanischem Vorbild, nur dass sie natürlich administrativ nach irakischen Regierungsgewohnheiten gehandhabt wurde.
Maliki sorgte dafür, dass die irakischen Sicherheitskräfte in erster Linie aus Schiiten bestanden und die entscheidenden Machtpositionen in der Armee sowie die überragende Mehrheit der Mannschaften ebenfalls zu den Schiiten gehörten. Nur auf sie konnte er sich wirklich verlassen. Doch dies führte über die Jahre der Konfrontationen, Bombenanschläge und Machtkämpfe dazu, dass die schiitischen Sicherheitskräfte – und auf ihre Weisung hin auch die Soldaten – energischer und brutaler gegen Sunniten vorgingen als gegen ihre eigenen Leute, die Schiiten. Was natürlich Wut und Klagen bei der Sunniten über Diskrimination und Verfolgung auslöste.
Kein Raum für Sunniten in der Regierung
Jene Kräfte unter den Sunniten, die ursprünglich geneigt waren, im Parlament mitzuwirken und in der Regierung mit Maleki zusammenzuarbeiten, um die Rolle einer loyalen Opposition zu spielen, verloren ihren Rückhalt in der eigenen Gemeinschaft. Deshalb sahen die Anhänger Malekis noch weniger Grund als zuvor, ihnen Gehör zu leihen oder ein Mitspracherecht zuzugestehen. Al-Maleki und seine Sicherheitskräfte sorgten auch dafür, dass die wichtigsten der kollaborationsbereiten sunnitischen Politiker, die Regierungspositionen einnahmen, der Kollaboration mit den Terroristen angeklagt wurden und aus dem Land fliehen mussten. Dies geschah zuerst dem Vizepräsidenten des Iraks, Tareq Hashemi, der inzwischen in absentia zum Tode verurteilt wurde, und dann dem Finanzminister.
Protestversammlungen der Sunniten
All dies führte dazu, das vor einem Jahr die Sunniten weitgehend auf die politischen Mitarbeit im Parlament von Bagdad verzichteten und stattdessen zu Demonstrationen und Demonstrationslagern in ihren Teilen des Landes übergingen. Der lachende Dritte in diesem Spiel zwischen Zentralmacht und lokalem Protest sollten die ursprünglich kleinen Minderheiten der gewaltbereiten sunnitischen Islamisten werden, die vor allem in Nordirak den Abzug der Amerikaner überdauert hatten. Sie fanden zuerst Sympathisanten unter den Protestierenden und später – besonders, nachdem es zu gewaltsamen Vorgehen gegen sie durch Regierungstruppen gekommen war – auch Rekruten und neue Kämpfer.
Die Inkubationszeit dauerte ein volles Jahr lang. Die Maleki Regierung ging einige Konzessionen ein; sie befreite einige der gefangenen Sunniten, besonders Frauen, und sie erhöhte den Sold jener sunnitischen Hilfskräfte, die seit der Zeit der Amerikaner im Dienst der Regierung standen, ohne sie jedoch in die offiziellen Streitkräfte aufzunehmen.
Doch die wesentlichen Konzessionen, welche die Demonstranten erwarteten, ein wirkliches Mitsprachrecht bei den Regierungs- und Verwaltungsentscheiden, ging Maleki nicht ein. Deshalb dauerten die Demonstrationen fort. Ihr Zentrum war das ganze vergangene Jahr hindurch ein grosses Protestlager in der Wüstenprovinz Anbar, bei dem Flecken Ramadi, entlang der internationalen Strasse, die den Irak mit Jordanien verbindet.
Ein kleineres Protestlager bei Hawije hatten Regierungstruppen im April gewaltsam aufgelöst, was zu 44 Todesopfern geführt hatte. Seit jener Zeit war die ursprünglich bestehende Gewaltlosigkeit der Proteste in Frage gestellt. Die Waffen sprachen immer häufiger, auf dieser und auf jener Seite.
Immer mehr Bombenanschläge
Neben den Protesten entwickelte sich eine Bombenkampagne im ganzen Land. Sie wurde primär durch Selbstmordbomber bestritten, die von den Extremisten im Norden ausgebildet und im ganzen Lande, vor allem in seinen schiitischen Teilen, eingesetzt wurden. Diese Bomben hatten und haben noch immer zwei Ziele. Einerseits sie dienen dazu, möglichst viele, womöglich schiitische, Opfer zu verursachen. Deshalb die Bomben, die auf Marktplätzen, in Moscheen und Wallfahrtsstätten der Schiiten ausgelöst werden. Andererseits sie zielen auf die ebenfalls meistenteils schiitischen Sicherheitskräfte, indem sie Polizeistationen, Strassensperren, Polizei- und Armeegefährte und sogar Gefängnisse zum Ziel wählen.
Diese Art der «militärischen» Bombenangriffe wird oft in der Spielart der Doppel- und Dreifach-Suizidbomben durchgeführt. Eine erste sorgt für Verwirrung und Menschenaufläufe, die dann einer zweiten zum Opfer fallen. Es kommt dann auch vor, dass als drittes Glied der Kette Bewaffnete in Aktion treten, etwa nachdem die beiden vorausgehenden Bomben Tore aufgesprengt und Mauern umgelegt haben.
Die zahllosen Anschläge, täglich kommen mehrere vor, führten dazu, dass gelegentlich auch Schiiten ihrerseits Rache nehmen und Bomben in sunnitischen Moscheen und Wohnvierteln hochgehen lassen. Dies, obwohl die schiitischen Geistlichen, in deutlichem Gegensatz zu vielen ihrer sunnitischen Kollegen, ihre Gläubigen immer wieder ermahnen, sich nicht provozieren zu lassen.
Rekordzahlen der Anschläge
Diese Bombenkampagne hat im vergangenen Jahr gegen 8’000 Todesopfer gefordert. In den vorausgehenden Jahren hatte die Zahl der Bombenopfer, die ihr Leben verloren, zwischen 2’771 (im Jahr 2009) und 3’238 (im Jahr 2012) gelegen.
Die Ziele dieser Kampange sind vielfältig. Sie soll immer wieder deutlich machen, dass al-Maleki und «seine Schiiten» die Sicherheit im Land nicht gewähren können. Sie versucht wohl auch, die schiitische Gemeinschaft so lange zu provozieren, bis sie schliesslich doch noch zu Gegenschlägen schreitet. Was unvermeidlich zu einer noch weiter gehenden physischen und psychologischen Trennung der beiden Gemeinschaften führen und das Land unregierbar machen würde.
Das wäre Wasser auf die Mühlen der sunnitischen Extremisten islamistischer Färbung, deren offen verkündetes Nahziel wäre, einen «Islamischen Staat im Irak und in Syrien» einzurichten (ISIS). Urzelle dieses Gebildes müssten Nordirak und die westlich angrenzenden Gebiete der syrischen «Jazira» werden, das heisst der «Insel» zwischen Euphrat und Tigris. Die heute bestehenden Grenzen würden aufgelöst.
Al-Qa'eda als Generalanklage
Die grosse Masse der irakischen Protestierenden möchte lange nicht so weit gehen. Ihnen ginge es um Mitspracherecht im Irak. Doch wenn sie das nicht erhalten, besteht für sie stets die Versuchung weiter zu gehen. Wohin? Die Extremisten weisen den Weg. Diese Extremisten und all ihre Sympathisanten werden von der Regierungsseite als «al-Qa'eda» bezeichnet und behandelt. Verbindungen zu Ayman az-Zawaheri in seinem afghanischen oder pakistanischen Versteck bestehen in der Tat. Ob das Geld für die Insurrektion und ihre Bombenleger auch dorther kommt, ist fraglich bis unwahrscheinlich. Seine Quellen dürften weitgehend im Golf und in Saudi-Arabien liegen.
Auflösungbefehl für Protestlager
In der zweiten Dezemberhälfte hat al-Maleki den entscheidenden Schritt getan, den er ein Jahr lang vermieden hatte. Er hat erklärt, die Protestlager seien zu «Hauptquartieren für al-Qa'eda» geworden, und er gab Befehl, sie aufzulösen, mit Gewalt, wenn es sein müsse. Die Kampagne begann mit Bombardierung und Beschiessung von Lagern in der westlichen Wüste, die – auf der irakischen Seite der bloss symbolischen Wüstengrenze gelegen – den Kämpfern in ISIS als Schlupfwinkel und auch als Ausbildungslager gedient hatten. Sie waren leer als es zu den Beschiessungen kam. Vermutlich weil ISIS über Informationen aus der Armee verfügte.
Doch ein Fahrzeug mit hohen Armeeoffizieren wurde am 21. Dezember in Ramadi Opfer eines Bombenanschlags. Die Informationen sind widersprächlich, es könnte eine Mine oder auch ein Selbstmordanschlag gewesen sein. Ein General und drei weitere hohe Offiziere, total 13 Personen, fielen ihm zum Opfer. Später am 29. Dezember kam es noch einmal zu einem Anschlag auf einen General der Armee, der zusammen mit 8 Soldaten westlich von Mosul getötet wurde. Die Gesamtzahl der Opfer betrug diesmal 18.
Ein Abgeordneter wird verhaftet
Am 18. Dezember schritt die Armee zur Festnahme Ahmed al-Alwanis, eines Parlamentsabgeordneten von Ramadi, der sich in den Protestversammlungen durch eifrige Reden hervorgetan hatte. Die Festnahme ging nicht ohne Blut über die Bühne. Der Bruder des Abgeordneten, seine Schwester und fünf seiner Leibwächter wurden erschossen, auch Soldaten verloren ihr Leben.
Als Abgeordneter geniesst al-Alwani eigentlich Immunität. Nur wenn er auf frischer Tat ertappt würde, könnte er verhaftet werden. Die Armee dürfte die fragwürige Ansicht vertreten, er sei in flagranti ertappt worden, obwohl sie ihn in seiner Wohnung von Ramadi festnahm. Man wirft ihm offenbar «Terrorismus» vor.
Doch seine sunnitischen Kollegen im Parlament sind anderer Ansicht. Sie haben protestiert, und am 29. Dezember haben 44 von ihnen ihre Demission eingereicht. Diese wird erst endgültig, wenn der Parlamentssprecher sie akzeptiert. Dieser, Osama al-Nujaifi, hat vorläufig nur von einem «offensichtlichen Bruch der Verfassung» gesprochen und von einem «gefährlichen Präzedenzfall». Er will er zunächst eine Untersuchungskommission nach Ramadi ausschicken.
In Ramadi selbst ist die Polizei gegen die seit einem Jahr bestehende Protestversammlung eingeschritten. Es soll dabei mindestens 13 Tote gegeben haben. Polizeifahrzeuge wurden zerstört, und Polizisten gehören zu den Opfern. Es herrscht Ausgangsverbot in der Stadt, doch bewaffnete Zivilisten seien auf den Strassen zu sehen.
Im Schatten der kommenden Wahlen
Schon bei früheren Gelegenheiten haben die sunnitischen Abgeordneten demissioniert oder das Parlament boykottiert. Bisher sind sie immer wieder nach Verhandlungen und Verhandlungspausen zurückgekommen. Doch Parlamentswahlen stehen auf April 2014 bevor, und die sunnitischen Parlamentarier müssen an ihre Wiederwahl denken. Die Stimmung ihrer Wähler ist heute derart, dass ihre Wahl gefährdet sein dürfte, wenn sie zu lange im Parlament bleiben oder gar ihre Randpositionen in der Regierung Malekis beibehalten.
Auch Nuri al-Maleki muss sich um seine Wiederwahl Sorgen machen. Die Koalition der verschiedenen schiitischen Parteien, die ihn vor vier Jahren zu einem sehr knappen Wahlsieg verhalf, ist auseinandergefallen, und es ist ungewiss, ob er sie wieder vereinigen kann. Vielleicht hat er darum die Konfrontation mit den Sunniten verschärft, weil er hofft, auf diesem Wege erneut als Vorkämpfer des Schiismus in die Wahlen zu ziehen.