Erneut werden Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zur Urne gebeten. Am 18. Mai 2014 soll darüber bestimmt werden, ob zukünftig der Staat ins Lohngefüge des Landes eingreifen soll. In immer schnellerem Takt folgen sich nationale Initiativbegehren, deren mögliche, unbeabsichtigte Folgen aus taktischen Gründen ausgeblendet werden. Die schleichende Tendenz, dem einst liberalen und produktiven Arbeitsmarkt und den Sozialpartnern weitere staatliche Fesseln zu verpassen, hat ihre Tücken. Die Argumente der Befürworter und Gegner auch.
Mindestlohn und Lohnschutz
Die Botschaft der Gewerkschaften tönt verführerisch: Die Menschenwürde verlangt, dass ein starkes Land faire Löhne braucht. Die Bundesverfassung soll entsprechend geändert werden. SGB-Präsident Paul Rechsteiner will dafür sorgen, dass sich Arbeit endlich für alle lohnt. 22 Franken mindestens soll zukünftig der (weltweit höchste) Stundenlohn oder 4000 Franken der Monatslohn betragen. Wie bei allen Abstimmungskampagnen der letzten Zeit wird das weiß Kreuz im roten Feld als Symbol für bodenständiges Schweizertum und wahre Werte bemüht. SP und Gewerkschaften haben einiges gelernt von den SVP-Strategen. Schweizerfahne, Schweizerschirm, Schweizerballon, Schweizerkäse, Schweizerfleisch. Alles andere ist Beilage…
Im Argumentarium der Initianten wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen der Anhebung des Tiefstlohns (330‘000 Betroffene) für die gesamte Schweizer Wirtschaft relativ klein seien. Dagegen würden AHV (jährliche Mehreinnahmen 118 Mio Franken), Sozialhilfe (103 Mio Franken Minderausgaben) und Sozialversicherungen (296 Mio Franken) davon profitieren. „Ein Ja zur Mindestlohn-Initiative schützt faire Unternehmen vor der Billigkonkurrenz“, propagiert die Internetseite SGB USS. Im Hochpreisland Schweiz wird bekanntlich mit allen möglichen gewerkschaftlichen, flankierenden Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Hochpreisinsel nicht unterspült wird. Das ganze Paket wird mit „wirtschaftlicher Vernunft“ gerechtfertigt. Wie könnte man da gegen diese Initiative sein?
Marktwirtschaft versus staatliche Regulierungswut
Economiesuisse und Gewerbeverband kämpfen vehement gegen das „linke“ Ansinnen. Ihre deutliche Absage basiert auf den prognostizierten schädlichen Auswirkungen für den Schweizer Arbeitsmarkt. Lohnpolitik sei nicht Sache des Staates, sondern der Sozialpartner und zudem gefährde die Initiative Arbeitsplätze im Tieflohnbereich. Statt diesen Arbeitnehmern zu helfen, erreichten die Initianten das Gegenteil: Niedrigqualifizierte kämen unter die Räder, weil deren Stellen nicht mehr wirtschaftlich angeboten werden könnten.
Der geforderte Mindestlohn würde den Anreiz zu Schwarzarbeit erhöhen und dadurch fehlten die entsprechenden Sozialabgaben. Zudem führten höhere Löhne zu höheren Preisen, was wiederum die Niedrigverdiener treffen würde.
Das Volk hat immer Recht
Obwohl National- und Ständerat das Initiativbegehren klar mit 128:59 Stimmen ablehnen, stellt sich die Frage, ob auch diesmal das Volk anderer Meinung sein könnte. Es wird sich vielleicht durch die Menschenwürdebotschaft zu einem schnellen Ja verleiten lassen. Ob dagegen an der Urne ein Nein resultieren wird, hängt nicht zuletzt vom Inhalt der gegnerischen Argumente und deren Glaubwürdigkeitsgrad ab. Und da gibt es doch einige Fragezeichen.
Zu oft wurden seitens Economiesuisse in der Vergangenheit angsteinflößende Prognosen verbreitet, die von der Gegenseite relativ einfach durchschaut und entkräftet wurden. Auch der Gewerbeverband tut sich schwer mit stichhaltigen Gründen für ein Nein. Hans-Ulrich Bigler spricht von verheerenden Konsequenzen, vom großen Beizensterben, von einer Kaskade weiterer Lohnforderungen in den höheren Lohnklassen. Bereits sieht er Schweizerinnen und Schweizer für den Coiffeurbesuch ins Ausland fahren.
Beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ist Boris Zürcher gegen die Einführung des anvisierten Mindestlohns – „wegen unabsehbarer Kosten“. Auch da wird mit dem Argument des Dominoeffekts argumentiert: Lohnempfänger, die heute 3700 und morgen 4000 Franken verdienten würden bewirken, dass jene, die bisher 4000 neu 4300 Franken verlangen würden, und so weiter, die Lohntreppe hinauf. Ob dieses Szenario zutreffen und verfangen wird?
Risiken und Nebenwirkungen
In der NZZ warnt Matthias Müller davor, „die Rechnung ohne den Wirt zu machen“. Tatsächlich wissen wir nicht erst seit dem 9. Februar 2014, dass im Getöse der Abstimmungs-Propaganda vordergründige, „wahre“ Botschaften punkten und die impliziten Nebenwirkungen eines Entscheides von vielen erst im Nachhinein wahrgenommen werden, obwohl sie immer bekannt waren.
Offensichtlich scheint der gegenwärtige Trend gesteigerter staatlicher Einflussnahme ins Gefüge der Sozialpartner schlagwortbedingt im Aufwind. „Manager und Superreiche“ bedienten sich großzügig, untere Einkommensklassen hätten also ein Recht auf faire Löhne. Natürlich kann man das so sehen. Der Gleichung ist jedoch nicht über alle Zweifel erhaben. Viele Studien zeigen, dass negative Auswirkungen eines fixen Mindestlohns existieren. Schädliche Beschäftigungseffekte werden effektiv festgestellt. Junge Berufseinsteiger und Geringqualifizierte sind besonders betroffen. Das Armutsrisiko lässt sich mit Mindestlöhnen kaum reduzieren.
Uneinigkeit bei den Gewerkschaften
Von den erwähnten 330‘000 Betroffenen arbeiten rund 50‘000 im Detailhandel, je 42‘000 in der Gastronomie und Raumpflege/Garten- und Landschaftsbau. Während z.B. Migros/Coop den Mindestlohn entrichten, sieht die Situation bei vielen kleinen Bäckereien, Metzgereien, Käsefachgeschäften, Kiosken, privaten Textil- oder Schuhgeschäften, Buchhandlungen etwas anders aus. Auch die Beiz um die Ecke kalkuliert differenziert und wer eine Raumpflege beansprucht, trägt wohl oft zu einem willkommenen Zusatzverdienst bei. Diese Branchen bieten überdurchschnittlich viele Teilzeitjobs. Gerade in ländlichen Gegenden – jedoch nicht nur - sind diese hochwillkommen als „Zustupf“ in Haushalten, wo noch ein zweiter Lohnempfänger zum Haushalteinkommen beiträgt. Die Folgen staatlich verordneter Mindestlöhne könnten sich hier tatsächlich als Bumerang erweisen.
Je näher der Abstimmungstermin rückt, desto mehr melden sich sogar nachdenkliche Gewerkschafter zu Wort. So wendet sich die Gewerkschaft Angestellte Schweiz gegen das Ansinnen der propagierten Lohnerhöhungen: Zu viele Branchen können sich das einfach nicht leisten. Auch in der Schweizer Kader-Organisation (SKO) schüttelt man den Kopf. Löhne festlegen sei Sache der Sozialpartner, heißt es auch hier.
Rechsteiners Ideologie
Wie immer beleuchtet der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes in seinen Auftritten ein Problem dualistisch, einseitig, tendenziös. Diese Ideologie aus dem letzten Jahrhundert des Klassenkampfs ist nicht zielführend. Zu viele mögliche Konsequenzen bei Annahme der Initiative bleiben bewusst unterschlagen:
Die völlig unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in ländlichen Gegenden und städtischen Zentren. Der Wert einer gründlichen Ausbildung. Das Alter der „Unterbezahlten“ – viele sind sehr jung (da war früher ein kleiner Anfangslohn völlig normal). Die Tatsache, dass ein Großteil der Betroffenen in Haushalten mit weiteren Verdienenden zusammenlebt. Die latente Gefahr, dass die geforderten Mindestlöhne in vielen Bereichen nicht verkraftbar sind – tatsächlich könnte das zu Stellenstreichungen oder –auslagerungen führen. Politik mit der Brechstange zerstört oft mehr als damit gewonnen wird.
Pardinis Krieg
Corrado Pardini, UNIA-Gewerkschafter, will seit Jahren einen „zukunftsfähigen Sozialismus“ schaffen. Gemäß Portrait in der ZEIT ist für ihn die Welt schwarz und weiß. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Er spricht nicht mit Verhandlungspartnern, er spricht mit Gegnern. Er will den Kapitalismus nicht erträglicher gestalten, er will ihn ausmerzen. Deshalb ist für ihn der 18. Mai 2014 ein Schicksalstag. Klassenkampf des letzten Jahrhunderts - pur.
Tieflohnrisiko im Tessin
Vergleichbar mit der Masseneinwanderungsinitiative kumulieren sich auch diesmal die Probleme im Tessin. Hier spielen die Faktoren Lage (Nähe zu Italien), Grenzgänger (tiefes Lohnniveau), Stellenmarkt (reale Arbeitsmöglichkeit), Branche (persönliche Dienstleistungen, Haus- und Gartenbetreuung, Gastronomie), Unternehmensgröße (viele Kleinbetriebe) eine enorme Rolle. Es scheint die Zeit gekommen, da in Bern diese Sondersituation nicht nur kommentiert, sondern auch mit Sondermaßnahmen entschärft werden sollte. Es genügt nicht, wenn Herr Blocher zur Begräbnisfeier von Giuliano Bignasca fährt.
Illusionen sind Selbsttäuschungen
Der Ruf nach fairen Löhnen ist verlockend. Schön wär’s. Eine differenzierte Auseinandersetzung führt aber wohl dazu, weiter zu denken. Würde ein Mindestlohn von 4000 Franken nicht die Berufslehre entwerten, eine der schweizerischen Stärken? Was, wenn der Arbeitgeber die höheren Löhne nicht verkraften kann? Wenn er eine Margeneinbuße nicht durch höhere Verkaufspreise kompensieren kann? Wenn auch die viel beschworene Effizienzsteigerung nicht möglich ist? Wenn dann Stellen gestrichen würden wären jene zuerst davon betroffen, denen mit dem Mindestlohn doch geholfen werden sollte?
Wie so oft bei Abstimmungen gilt: Die Idee ist einfach und verständlich. Die Auswirkungen sind komplex und unvorhersehbar. Der längerfristige volkswirtschaftliche Schaden staatlicher Aufsicht im erfolgreichen, freien helvetischen Arbeitsmarkt ist schlicht nicht absehbar.