Der tunesische Übergang gilt als die einzige Erfolgsgeschichte des «arabischen Frühlings» von 2011. Tunesien wird am kommenden Sonntag seine zweiten allgemeinen Wahlen durchführen. Das Land hat seit der Vertreibung des Diktators Ben Ali zuerst eine Verfassungsversammlung gewählt, die auch als Parlament wirkte (Oktober 2011), dann eine Verfassung festgelegt und ein Wahlgesetz ausgearbeitet. Nun kommt es zu regulären Wahlen, zuerst am 26. Oktober für ein Parlament, einen Monat später (am 23. November für den ersten Wahlgang) für einen Präsidenten. Wenn dies glatt verläuft, was man hoffen darf, wird der Übergang zu einer vollen Demokratie erreicht se
Bitter enttäuschte Jugend
Tunesien ist aber auch das arabische Land, das die meisten ausländischen Kämpfer für IS in Syrien und im Irak geliefert hat, abgesehen natürlich von Syrien und dem Irak selbst. Ihre Zahl wird von den tunesischen Behörden auf etwa 3’000 geschätzt. Dieser Umstand unterstreicht, wie schwierig es selbst in Tunesien gewesen ist und wohl auch weiterhin bleiben wird, die Transformation zu einem funktionierenden demokratischen Regime zu Ende zu führen.
Die 3’000 IS-Kämpfer sind eine Folge der bitteren Enttäuschungen, die für bestimmte Teile der tunesischen Gesellschaft mit dem Übergangsprozess verbunden waren und bleiben. Es sind vor allem junge Leute, die sich von der Revolution ein besseres Leben erhofften, die aber seither immer noch keine Arbeit finden können. Die Arbeitslosigkeit ist während der drei Jahre, die der Übergang zur Demokratie gedauert hat, noch weiter gestiegen, und die Jugendarbeitslosigkeit, die am schwersten wiegt, ganz besonders.
Wirtschaftsabschwung und Profit für Profiteure
Der politische Umsturz löste zunächst einen wirtschaftlichen Niedergang aus. Während der Übergangszeit gab es so viel Unruhe, dass die Investitutionen aus dem Ausland zurückgingen und der Tourismus zum Erliegen kam. Die Aufmerksamkeit der führenden Köpfe war stark in Anspruch genommen durch die drei Jahre der politischen Kämpfe, begleitet von Dauerdemonstrationen auf den Strassen und einigem Blutvergiessen. Doch nun konnte der Übergang schlussendlich zu einem guten Ende gebracht werden.
Unter Ben Ali hatte es Wachstum gegeben, wenngleich es ein Wachstum in die Taschen Ben Alis und seiner Freunde gewesen war. Die Bürokratie aus der Zeit der Diktatur besteht weitgehend fort. Sie verhielt sich nach dem Umsturz einfach etwas vorsichtiger, als sie es unter Ben Ali gewesen war. Mit ihr hat das gesamte auf Profit für die Profiteure ausgerichtete Wirtschaftssystem überlebt.
Das gleiche gilt von der Polizei. Vor der Revolution war sie das wichtigste Folter-, Regierungs- und Machtinstrument des Diktators gewesen. Nach der Revolution brauchte man sie, um die Wirren einzudämmen. Sie konnte daher nicht wirklich reformiert, das heisst grundlegend umgebaut werden. Sie wurde einfach ein wenig vorsichtiger und daher etwas weniger effizient. Von der Gerichtsbarkeit muss man ähnliches sagen.
Benachteiligte Provinzen im Landesinneren
Tunesien hat relativ wohlhabende Landesteile in der Hauptstadt und an der Küste und bitterarme im Landesinneren und an den Grenzen. Die Revolution war bezeichnenderweise im Landesinneren ausgebrochen. Auch dieses Erbe Ben Alis blieb bestehen, ja es verstärkte sich. Töne der Ungeduld und der Verzweiflung dringen gelegentlich aus den Armutszonen bis in die Hauptstadt durch und sogar bis ins Ausland. In jenen Gebieten hat auch die Polizei mehr von ihrer alten repressiven Charakter bewahrt als in den reicheren Zonen.
In diesen Zonen trägt die Erbitterung darüber, dass die Revolution «für uns nichts erreicht hat», ihre gefährlichsten Früchte: Auswanderung nach Europa, auch ohne Visum, oder eben die Reise in «das Kalifat» via Türkei für die mutigsten und energischsten der Verzweifelnden. Oder auch Schmuggelaktiväten über die Grenzen hinweg in die beiden Nachbarländer. Auf der libyschen Seite sind Waffen und Drogen zu haben, und die mächtigen nichtstaatlichen Mafias, bewaffnet und manchmal islamistisch ideologisiert, sind die Kontaktleute.
Wachsende Sicherheitsprobleme
Auf der algerischen Seite gibt es zwar rigide staatliche Aufsicht, aber auch bewaffnete, teils rein kriminelle teils extrem islamistisch motivierte Randgruppen, welche in den Randzonen – Grenzen, Berge, Wüsten – ihr Wesen treiben. Tunesien hat denn auch an seinen Grenzen und in den Aussenzonen zurzeit ein wachsendes Sicherheitsproblem. Dazu kommen die radikalen einheimischen Islamisten, die entweder nie zu an-Nahda gehörten oder sich von der Partei abgespalten haben, weil diese mit den säkularen Politikern Kompromisse einging.
Zwei Tage vor dem Wahltermin stürmte die tunesische Polizei ein Haus in einer Vorstadt von Tunis, in dem sich bewaffnete Extremisten befanden. Das Haus war seit Donnerstag von schwerbewaffneten Polizisten belagert. Es gab Verhandlungen, doch sie führten zu nichts. Am Freitagmorgen sollen nach den Aussagen der Polizei fünf Frauen aus der belagerten Küche des Hauses gestürmt sein und das Feuer eröffnet haben. Die fünf Frauen wurden erschossen. Ein bewaffneter Mann und ein Kind wurden verwundet. Am Donnerstag war ein Polizist bei einem Feuerwechsel erschossen worden.
Drei Schritte zur Demokratie
Was aber hatte Tunesien bei allen Schwierigkeiten den anderen arabischen Ländern voraus, so dass das Land zur Demokratie kommen konnte? Die ersten Wahlen hatte in Tunesien – wie in Ägypten – eine islamistische Gruppe gewonnen. Dies aus vergleichbaren Gründen: Die Islamisten waren als zusammenhängende Untergrundopposition gegen das alte Regime am besten darauf vorbereitet, eine Wahl zu bestreiten. Ihnen gegenüber gab es bloss Ansätze zu nicht-islamistischen politischen Formationen, bestehend aus rasch improvisierten politischen Parteien.
Doch die Islamisten Tunesiens standen unter der Führung eines Parteichefs, Theologen und Ideologen, der wirklich auf Demokratie ausging und der auch wusste, was eine Demokratie ist und wie sie funktioniert. Dies war Rachid Ghannouchi, der sich in einem vieljährigen Exil in London mit den Fragen von Demokratie und Islam eingehend beschäftigt hatte.
Entscheidende Rolle der Vermittler
Als es hart auf hart ging und ein beutender Teil der gewählten Volksvertreter sich weigerte, mit der islamistischen Partei Ghannouchis, an-Nahda, im Parlament zu bleiben, stattdessen auf die Strasse zog, und Monate lang vor dem Parlament gegen die «Islamisierung» Tunesiens protestierte, da war es am Ende Ghannouchi, der nachgab – nachgeben musste, sagen seine Gegner. Er verzichtete darauf, die Regierungsmacht auszuüben, obwohl seine Partei rein formell die Mehrheit dazu besass. Ghannouchi liess zu und bewirkte bei seinen Parteigängern, dass eine neutrale Technokratenregierung die Macht übernehmen konnte, um zuerst die Verfassung unter Dach zu bringen und dann die regulären demokratischen Wahlen vorzubereiten. Auch in Verfassungsfragen machte die Mehrheitspartei, an-Nahda, entscheidende Zugeständnisse.
Neben dem an-Nahda-Führer und der Technokratenregierung gab es ine dritte Instanz, die diesen entscheidenden Schritt zu vollziehen half und die in den anderen arabischen Staaten nicht zum Zug kam. Dies waren die tunesischen Gewerkschaften und anderen Berufsorganisationen. Sie übten wirksamen Druck auf die beiden politischen Streithähne aus, den islamistischen und den säkularen, um zu Kompromissen zu gelangen. Sie drohten mit Streiks, die das ganze Land lähmen würden, und sie waren als voll funktionsfähige und repräsentative Gewerkschaften und Berufsassoziationen in der Lage, glaubwürdig zu drohen. Ihre Vermittlungsposition sollte sich als entscheidend erweisen. Vergleichbar funktionsfähige Gewerkschaften kennen die anderen arabischen Staaten nicht. In Ägypten sind sie vom Staat infiltriert.
Als weiterer Faktor dürfte das negative Beispiel Ägyptens gewirkt haben: Ghannouchi und seine Partei hatten das Debakel Mursis und der Muslimbrüder in Kairo vor Augen. Die an-Nahda-Leute erkannten, dass dieses Scheitern dem Bestreben des ägyptischen Präsidenten anzulasten war, seine Macht um jeden Preis zu monopolisieren und zu erhalten. Dies hatte Ägypten schlussendlich die pluralistische Demokratie gekostet.
190 Parteien, aber zwei Fronten
Es werden 190 Parteien sein, die am kommenden Sonntag um das Parlament konkurrieren. Doch es gibt auch seit Jahren die beiden Fronten, die einander gegenüberstehen: die islamistische, aber doch demokratische an-Nahda-Partei, und auf der Gegenseite als Sammelbecken der «säkularen» Kräfte, 2012 gegründet, die Nida Tunes (Ruf, Stimme Tunesiens) des Altpolitikers aus der Zeit Bourguibas, Beji Caid Sibsi.
Die Wahlen werden darüber entscheiden, welche dieser beiden Formationen eine Mehrheit erhält, die ihr erlauben wird, eine Regierungskoalition zu bilden. Das Sammelbecken Nida Tunes umfasst auch einige der ehemaligen Politiker, die Ben Ali gedient haben. Seine Gegner erklären, ein Sieg von Nida Tunes werde das Ende der Revolution bedeuten. Umgekehrt würde ein Sieg der an-Nahda für die Gefolgsleute Sibsis den Einsturz der Errungenschaften des modernen tunesischen Staates bewirken, besonders den Verlust der Rechte der Frauen Tunesiens, obwohl diese in der neuen Verfassung ausführlich verbrieft sind.
Die bei jedem Wahlausgang voraussichtlich notwendigen Koalitionen werden jedoch bewirken, dass die Zukunft sich weniger schroff nach dem einen oder dem anderen Extrem hin ausrichten wird, als die Wahlpropaganda der beiden Lager es wahrhaben will.
Semi-präsidentielle Regierungsform
Ausserdem wird Tunesien gemäss der neuen Verfassung ein «semi-präsidentielles» politisches Regime erhalten. Das Parlament bestimmt den Ministerpräsidenten, doch der Präsident ernennt den Verteidigungs- und den Aussenminister, und er wird die Hoheit über Sicherheitsfragen und Aussenpolitik innehaben. Er kann auch den Vorsitz des Kabinets ausüben, Gesetzgebung zurückweisen und unter bestimmten Voraussetzungen das Parlament auflösen.
Es gibt bereits 29 Kandidaten für die Präsidentschaft. An-Nahda hat erklärt, die Partei werde keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellen, sondern einen gemeinschaftlichen Kandidaten unterstützen, auf den man sich einigen werde. Wie immer die gegenwärtigen Parlamentswahlen ausfallen, die Präsidentenwahlen im kommenden Monat werden für ein Gegengewicht sorgen.