Der Trend scheint eindeutig. Unsere Gegenwart wird, zumindest im publizistisch-kulturellen Bereich, von einer pessimistischen Grundstimmung geprägt. Felix E. Müller liefert dazu in seinem Buch «Abschied von der Zukunft» ein verblüffendes Indiz: die Karriere des Modebegriffs Dystopie.
Dystopie ist das Gegenteil von Utopie, die allgemein als Vision einer idealen Wirklichkeit verstanden wird. Das Wort geht zurück auf das 1516 erschienene Werk «Utopia» des britischen Humanisten Thomas Morus, in dem er die hoffnungsvolle Vorstellung einer nahezu perfekt funktionierenden menschlichen Gesellschaft entwirft. Den Gegenbegriff prägte dessen Landsmann, der liberale Philosoph und Politiker John Stuart Mill, der in einer Rede im Parlament die Prediger einer pessimistischen Weltsicht als «Dystopians» kritisierte. Dystopie meint wörtlich einen schlechten Ort, wo alles destruktiv, hoffnungslos, lebensfeindlich ist. Müller zitiert dazu die amerikanische Historikerin Jill Lepore: «Utopia is paradise, Dystopia is paradise lost.»
«Die Grenzen des Wachstums» als Katalysator
Die steile Karriere des Dystopie-Begriffs gemäss der Statistik der schweizerischen Mediendatenbank ist tatsächlich phänomenal. In den zwanzig Jahren zwischen 1971 und 1991 wird er in journalistischen Texten ganze zwei Mal verwendet. In den folgenden zehn Jahren von 1991 bis 2001 taucht er 19 Mal auf. Zwischen 2001 und 2011 findet man 56 Treffer. Im Jahrzehnt darauf, also von 2011 bis 2021, schnellt das Dystopie-Wort auf die Höhe von 4095. Und allein im laufenden Jahr wird es vermutlich mehr als 1000 Mal in helvetischen Medien zitiert werden.
Allerdings ist das Erscheinen von dystopischer Literatur kein völlig neuartiges Phänomen, erklärt der frühere Chefredaktor der «NZZ am Sonntag». Es gab sie schon immer, von religiösen Erzählungen wie der Apokalypse in der Bibel, über die Endzeit-Beschwörungen im Mittelalter bis zu den politischen Klassikern im 20. Jahrhunderts. Zu diesen zählt Aldous Huxleys Roman «Brave New World» (1932). 1949 fand George Orwells Buch «1984» breite und bis heute andauernde Aufmerksamkeit. Beide Autoren schildern die alptraumhafte Vision totalitär organisierter Herrschaftssysteme. Auch Margaret Atwoods Bestseller «The Handmaid’s Tale» (1985) gehört in diese Kategorie. Nur, argumentiert Felix Müller unter Berufung auf Atwood, seien diese dystopischen Klassiker mehrheitlich als Weckruf gegen totalitäre Gefahren in den Gesellschaften verstanden worden. Heute jedoch sei die wuchernde dystopische Produktion in Literatur, Film und im Mediengeschäft eher eine Botschaft der Ohnmacht und Resignation – und so werde es auch vom Publikum empfunden.
Einen tiefgreifenden Umbruch von einer grundsätzlich fortschrittsgläubigen und zukunftsfreudigen Grundstimmung, wie sie in den ersten Jahrzehnten nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die westlichen Gesellschaft dominiert hatte, ortet der Autor zu Beginn der 1970er Jahre. Damals erschien der Report des Club of Rome mit dem Titel «Die Grenzen des Wachstums». Allein schon dieser Titel brachte einer breiten Öffentlichkeit zum Bewusstsein, dass unbegrenztes materielles Wachstum und eine uneingeschränkte Nutzung natürlicher Ressourcen die Menschheit mit schwersten Hypotheken zu belasten drohte.
Mehr Optimismus in China und Afrika?
Dass solche Warnungen eine derart breite Wirkung entfalten konnten, dürfte nicht zuletzt mit dem Schock der in jenen Jahren aktuellen Ölkrisen-Erfahrungen zusammenhängen. Jene Krisen waren zwar nicht primär durch einen Rohstoffmangel, sondern in erster Linie durch politische Entscheide der erdölproduzierenden Länder ausgelöst worden. Dennoch mobilisierten diese Erfahrungen zusätzlich die pessimistischen Einschätzungen über die gefährliche Abhängigkeit von unberechenbaren Entwicklungen.
Felix Müller versucht der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb ausgerechnet in unserer Zeit des vergleichsweise hohen Wohlstandes, deutlich verlängerter Lebenswartungen und technischer Fortschritte so viel «abgrundtiefer Pessimismus bis hin zur Zukunftsverweigerung und Existenzangst derart verbreitet sind». Er verweist auf eine dominierende Tendenz im Kulturschaffen, dystopische Inhalte wie Klimakatstrophen, Techno-Diktaturen, den Kollaps des Planeten Erde und andere apokalyptische Visionen in den Vordergrund zu schieben. Doch am Ende sind solche thematischen Präferenzen wohl auch nur Seismographen einer allgemeinen gesellschaftlichen Stimmungslage.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat unlängst in einem Interview auf eine Idee des französischen Politologen Dominique Moisi verwiesen, die Weltbevölkerung in Angst-, Hoffnungs- und Ressentimentgesellschaften einzuteilen. Weite Teile der westlichen Wohlstandsgesellschaften wären demnach eher der Angstzone zuzurechnen, während Chinesen, Inder und vielleicht auch Afrikaner mehr in einem Hoffnungsmodus lebten. Russen und Araber leben gemäss diesem Muster in einer Kultur des Ressentiments. Auch Felix Müller scheint einer solchen Einteilung zuzuneigen, wenn er schreibt, in China oder Afrika gebe es «keine Flut dystopischer Literatur».
Ob das allein mit einer sehr viel optimistischeren Stimmungslage zu erklären ist, bleibt indessen eine offene Frage. Möglicherweise hat der im Westen und vornehmlich unter der jüngeren Generation grassierende Zukunftspessimismus auch viel mit Verlustängsten von Wohlstandsgesellschaften zu tun. Natürlich, auch in ärmeren Weltgegenden haben die Menschen akute Sorgen, aber sie sind wohl wesentlich anders gelagert als die dystopischen Angstwellen in der westlichen Gegenwartskultur.
Praktische Sachpolitik statt Umsturz-Visionen
Felix Müller widerspricht keineswegs der Realität drängender Gefahren für die Existenz der Menschheit wie die Klimaerwärmung. Doch er beleuchtet kritisch den kulturellen Trend, diese Bedrohungen «wie die Wandgemälde des Jüngsten Gerichts in mittelalterlichen Kirchen» als dystopische Ausweglosigkeit und den Klimaschutz vorwiegend als eine Frage der Moral darzustellen. Damit werde nur von vielen kleinen Schritten in der praktischen Sachpolitik, die bereits im Gange sind oder geplant werden, abgelenkt. Denn solche Schritte seien in der Summe wirksamer als hochfliegende Visionen über revolutionäre Umstürze bestehender Verhältnisse.
Der Autor hütet sich auch, sich in seinem schlanken, flüssig geschriebenen Buch auf Prognosen über die weitere Entwicklung des heutigen Zukunftspessimismus zu versteigen. Das spricht für seinen Realitätssinn. In der Geschichte hat es, wie er schreibt, immer pessimistisch und optimistisch dominierte Stimmungsphasen gegeben. Ob und wann der jetzige Dystopie-Boom von neuen Hoffnungswellen überlagert wird, können erst spätere Historiker klären.
Felix E. Müller: Abschied von der Zukunft. Die Endzeitstimmung der jungen Generation und was sie bedeutet. NZZ Libro, 2022, 110 Seiten