In den zwei Wochen der Klimakonferenz in Paris werden in Indien, so hat ein Mitarbeiter des Indian Statistical Institute vorgerechnet, 800'000 Kinder geboren werden. 40'000 von ihnen werden, so die Hochrechnung, in den nächsten drei Jahren an den direkten und indirekten Folgen der Klimaerwärmung sterben.
300 Tote in Chennai als Folge des Unwetters
Die ersten siebzig Kinder haben den Preis bereits bezahlt. Sie starben mit 230 weiteren Bürgern der Stadt Chennai, im Gefolge des Unwetters, das letzte Woche über die viertgrösste Stadt Indiens niedergegangen ist. ‚Klimawandel’ ist ein viel zu schönes und sanftes Wort, um dessen Opfer zu bezeichnen. Zum Beispiel die Kinder in der Intensivstation des MIOT-Spitals, denen buchstäblich die Luft ausging, als der Strom ausfiel, die Notgeneratoren ausfielen, und dann die Sauerstoffzufuhr.
Die Verneiner des Klimawandels werden mit Recht darauf verweisen, dass nicht der Regen, und nicht die Überschwemmung des Krankenhaus-Areals dafür verantwortlich sind; es war menschliches Handeln, oder dessen Fehlen. Wer erlaubte den Besitzern, in einem tiefliegenden Gelände zu bauen, das früher als natürliche Flutzone diente? Wer liess zu, dass die Notstrom-Aggregate im Keller eingerichtet wurden?
Flutartige Flucht in die Städte
Warum gab es keinen Helikopterlandeplatz, so dass es 48 Stunden dauerte, bis die 57 Patienten in andere Krankenhäuser überführt werden konnten, 18 von ihnen als Leichen?
Aber dies ist nur die nächstliegende Ursache. Hinter diesem Fehlverhalten steht die gleiche Lemning-Mentalität, die auch diese extremen Wetter-Ausschläge erklärt, mit ihren orkanartig prasselnden Regenmengen: Die Landflucht in die Städte auf der Suche nach Brot und einem Dach über dem Kopf, der Bauboom, der, orkanartig auch er, alles beiseiteschiebt, was ihm im Weg steht: natürliche Flutzonen, alte Abflussrinnen, traditionelle Reservoirs.
Schmiergeld und Bauvorschriften
Die unsichtbare Hand des Markts sorgt dafür, dass sie aufgefüllt und überbaut werden. Auch sie ist Ausdruck desselben Herdentriebs, der Bürger, Verwaltungsstellen und Politiker zu einer Frage des Preises degradiert, mit dem sie geködert werden können.
Am anderen Ende des Landes, in der Hauptstadt Delhi, redet man seit drei Jahrzehnten von der verhängnisvollen Wirkung der Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke und Autoabgase. Nicht einmal der Bannstrahl des Obersten Gerichts konnte die Jagdgier nach physischer und symbolischer Sicherheit drosseln.
Delhis Rekord-Autolawine
Im Wohnungspreis ist auch das Schmiergeld eingerechnet, das für die Verletzung der Bauvorschriften bezahlt werden muss. Und wer will schon mit dem Bus zur Arbeit fahren, wenn’s der Nachbar mit dem Auto tut?
Inzwischen zählt die Kapitale mehr Fahrzeuge als die nächsten drei Grossstädte – Mumbai, Kolkata, Chennai – zusammen. Heute diagnostizieren die Schulärzte der Hauptstadt bei 42 Prozent der Kinder Verschleimung und Infektion der Atemwege. Ihre Väter fahren weiterhin mit dem Auto zur Arbeit. Im stockenden Verkehr haben sie Musse, ab und zu einen Twitter-Sturm auszulösen. Etwa, als die Stadtregierung am Donnerstag verkündete, ab 1. Januar 2016 würden Autos nur jeden zweiten Tag auf die Strasse gelassen, je nach der geraden oder ungeraden Endziffer im Nummernschild.
Flut im Süden, Dürre im Norden
Inzwischen ist ökologisches Fehlverhalten so sehr ein Teil des Systems geworden, dass es zwangsläufig wirkt. Die Bauern haben gar keine Wahl mehr, als in die Städte zu flüchten, wollen sie der Klimakatastrophe zuhause entgehen, ungeachtet dessen, dass sie ihnen auf den Fersen folgt.
Während der Süden des Landes überflutet wird, stehen grosse Teile Zentral- und Nordindiens mitten in einer Dürre. Im Staat Madhya Pradesh sind die Hälfte der Verwaltungsbezirke Notstandsgebiet, will sagen: die Reservoirs sind, nach dem zweiten oder gar dritten Ausfall des Monsuns, trocken, der Grundwasserspiegel ist auf Tiefen gesunken, die für Pumpen unerreichbar sind. Wo es noch Wasserstellen gibt, hat der Staat ein Bewässerungsverbot erlassen, damit die Menschen noch zu Trinkwasser kommen.
„Modernität“ – für die Städte gedacht
Auch hier ist der Klimawandel menschengemacht. Im Bezirk Tikamgarh, so berichtet die Journalistin Supriya Sharma im Newsportal Scroll.in, hängt der Lebensfaden der Bauern an Brunnen und Kanälen, die aus der Zeit der Chandelyas stammen. Ihre Regierungszeit? Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert.
Weder der Kolonialstaat noch die unabhängige Republik dachten daran, moderne Bewässerungssysteme anzulegen. ‚Modernität’ war für die Städte gedacht. Deren Träume und Symbole – Beton, Mobilität, Genuss-Konsum – sind dafür verantwortlich, dass der Himmel heute in Rauchschwaden gehüllt ist statt in Regenwolken.
Der Westen für die Klimakrise verantwortlich
Während Jahrzehnten hatte sich Indien in den Klima-Gipfeln standhaft geweigert, selber Hand anzulegen, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Ob BJP oder Kongress als Regierungspartei, das Mantra lautete unisono: Der Westen ist für die schwere Störung des globalen Klimasystems verantwortlich; er soll für das Ausmisten zahlen. Arme Länder hätten das Recht, reich zu werden, auch wenn dies zunächst einmal mehr Dreckschleudern fordert.
Ein Kolumnist des Indian Express fand dafür folgendes Bild: Der Inder steht auf dem Fussgängerstreifen und schimpft dem Wagen hinterher, der ihn fast umgeworfen hat – und hat keine Augen für das nächste Fahrzeug, das ihn überfahren wird.
Modi hat die Notwendigkeit zum Handeln erkannt
Man muss Narendra Modi zugutehalten, dass er diese absurde Lage erkannt hat. Er fordert weiterhin ‚gemeinsame aber differenzierte Pflichten’ zwischen reichen und armen Ländern. Aber er schliesst nicht die Augen davor, dass die Klimakatastrophe bereits in vollem Gang ist, und dass Indien auch selbständig handeln muss. In Paris verkündete er ehrgeizige Zeitziele für den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen.
Dennoch, an einem Mantra darf nicht gerüttelt werden, denn es ist der goldene Pfad zum Wohlstand: Ein rasches und hohes Wirtschaftswachstum. Und dieses lässt sich nun einmal ohne Kohle nicht erreichen. Es ist ein echtes Dilemma, denn mit einem Bauernstand von 500 Millionen Menschen, die von der Scholle nicht mehr leben können, ist Massenbeschäftigung eine selbstverständliche Priorität. Die Kampagne Make in India soll dies erreichen – Riesenfabriken, um die Welt mit Gütern zu versorgen, wie in China vor dreissig Jahren.
Es ist hier – und nicht bei seinen Sprüchen über die alten Inder, die bereits die Solartechnologie erfunden hatten – dass Modi zum Gefangenen der Geschichte wird. Die rasante technologische Entwicklung der letzten Generation hat dafür gesorgt, dass industrielle Produktion immer weniger Arbeit braucht. Wachstum ist nicht mehr gleichbedeutend mit Beschäftigung. Dies gilt gerade für Indien, dessen veraltete Arbeitsgesetze jeden Investor nach beschäftigungsarmen Produktionsmitteln Ausschau halten lassen.
„A home for lost causes“
‚India is a home for lost causes’, lamentierte der Schriftsteller Amitav Ghosh kürzlich in der Times of India. Als die Sowjetunion kollabierte, wählten die Westbengalen die KPI in die Regierung. Und nun verschreibe sich Modi einem zentralistischen Produktionsmodell, dem die Realität vernetzter, dezentraler und energiearmer Abläufe bei Herstellung und Verkauf davonläuft.
Die ökologische Krise fordert ihren ökonomischen Preis, und rasch auch einen politischen. Der Trockengürtel, der sich von Bihar über Orissa nach Andhra Pradesh und Telangana zieht, ist nicht zufällig auch der ‚Rote Korridor’, wo sich die maoistischen Naxaliten erfolgreich festgesetzt haben. Sie predigen nicht die Weltrevolution, im Gegenteil, ihr Slogan könnte sachlicher nicht sein: Jal, Jungle, Jameen: Wasser, Wald und Land.
Und warum sind dies so knappe Güter, dass sie Gewalt entfachen, sei es revolutionäre oder suizidale (150'000 Bauernselbstmorde in zehn Jahren)? Der Rote Korridor ist auch ein schwarzer. Es ist die waldreiche, mineralreiche Region, in der Kohle abgebaut wird. Der Kreis schliesst sich.