Antisemitismus in Verbindung mit Kritik an israelischer Politik ist inzwischen zum öffentlichen Dauerthema geworden und Gegenstand teilweise giftiger Kontroversen. In Deutschland ganz besonders, in der Schweiz in abgemilderter Form allerdings auch.
Da kommt der vom Berliner Historiker Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband «Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen» genau richtig. Selbst hat Benz an der TU Berlin bis 2011 das Institut für Antisemitismusforschung geleitet. 15 Autorinnen und Autoren hat er hier versammelt, die das Thema durchweg nüchtern, sachlich, wissenschaftsbasiert und quellengesättigt analysieren. Mit Gewinn lesen alle das Buch, die an den verschiedenen Argumenten und Gegenargumenten, vor allem aber auch an den Motiven dahinter interessiert sind.
Kritische Sicht auf unreflektierte Antisemitismus-Kritiker
Die jüngsten Aufreger, die auch im Buch intensiv abgehandelt werden (Wiederholungen lassen sich da nicht vermeiden, wie es scheint), sind der Konflikt um das Jüdische Museum Berlin aus Anlass einer Ausstellung über Jerusalem und in jüngerer Zeit um den afrikanischen Philosophen und Kolonialismuskritiker Achille Mbembe, der wegen seinen Positionen zur israelischen Besatzungspolitik und zur palästinensischen Organisation BDS (Boykott, Divestment, Sanctions) von der Ruhrtriennale erst ein- und dann auf politischen Druck hin wieder ausgeladen wurde. Das ist nun Monate her, aber die Debatte wogt immer noch hin und her.
Sämtliche Beiträge sehen den unreflektierten Kampf gegen den Antisemitismus kritisch. Immer mehr rückt dabei israelische Politik ins Zentrum. Denn inzwischen mischt sich die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu für alle sichtbar in hiesige Debatten ein und zieht eine direkte Linie von Kritik an israelischer Politik zu Antisemitismus. In Deutschland wird diese Linie personifiziert durch Felix Klein, den sogenannten Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung. Manche, wie etwa Micha Brumlik, erkennen inzwischen schon ein denunziatorisches Klima wie unter McCarthy im Amerika der 50er Jahre
BDS-Aktivisten sind nicht automatisch antisemitisch
Die palästinensische Initiative BDS (Boykott, Divestment, Sanctions) wurde 2005 in der Westbank gegründet mit dem Ziel, gewaltfrei israelische Waren und Kulturaktivitäten zu boykottieren. Seither sieht sich BDS weltweit als antisemitisch angeprangert, wie jedermann, der sich in die Nähe von BDS begibt. Dass das um einiges komplizierter ist, zeigen verschiedene Beiträge in dem Buch. Die beiden Politologen Muriel Asseburg, Nahostspezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik, und der Frankfurter Friedensforscher Gert Krell argumentieren hier ebenso kenntnisreich wie differenziert und faktengesättigt. Nicht nur sie stellen fest, dass es innerhalb des BDS zwar auch Antisemiten gebe, dass das dem Grundanliegen der Bewegung aber nicht seine Berechtigung nehme, nämlich mit friedlichen (wenn auch nicht durchweg angemessenen) Mitteln gegen die völker- und menschenrechtswidrige Besetzung und Besiedlung palästinensischen Landes zu kämpfen.
Die offizielle israelische Politik hat BDS von Beginn an als antisemitisch gebrandmarkt, und diese Haltung wurde, wie man am Beispiel Bundesrepublik sieht, aber nicht nur dort, offiziellerseits vielfach übernommen. Das Thema hat inzwischen auch Bundesbern erreicht (etwa in Gestalt einer gegen BDS gerichteten Motion des SVP-Nationalrats Christian Imark) oder Zürcher Behörden, die ihre Lokalitäten nicht an Veranstalter vermieten, die als BDS-nahe gelten.
Israelische Kritiker der Begriffs-Vermengung
Mit Shimon Stein (ehedem Botschafter in Berlin), Moshe Zimmermann (em. Professor für Deutsche Geschichte in Jerusalem) und Daniel Cil Brecher sind auch drei Israeli unter den Autoren, alle drei ausgezeichnete Kenner der deutschen Verhältnisse. Sie wehren sich vehement gegen diese Vermengung. Stein wie Zimmermann gehörten mit zu den über 200 jüdischen und israelischen Akademikern, die sich im Mai 2019 gegen eine Entschliessung des deutschen Bundestags wendeten, mit der BDS als antisemitisch verurteilt wurde. Daniel Cil Brecher befasst sich mit dem Bild von Juden, wie es sich im Nachkriegsdeutschland entwickelt hat, nun oft unter dem Deckmantel eines realitätsfernen Philosemitismus. Heute konstatiert er, dass das Israelbild und das Bild des Nahostkonflikts vor allem vom israelischen Aussenministerium bestimmt wird.
Eine weitere Wendung hat die Antisemitismus-Debatte seit 2015 genommen, mit der Ankunft Abertausender muslimischer Flüchtlinge. Auch mit diesem Aspekt setzten sich die meisten Autoren des Buchs auseinander. Sie kritisieren, dass nun der Antisemitismus bei den Muslimen gesucht und mitunter auch gefunden wird und wie man sich solcherweise wunderbar ablenkt vom eigenen, besonders der Rechten. Bestes Beispiel, wenn auch nicht das einzige, ist die AfD. Die andere Seite der Medaille ist die plötzliche Sympathie für Israel – zu beobachten auch bei SVP oder FPÖ (bis hin zu Viktor Orban). Die AfD wirbt sogar mit dem Sohn von Benjamin Netanjahu für ihre Anti-EU-Haltung. Dass sein Vater überall Antisemitismus wittert, nur nicht bei dieser europäischen Rechten, sagt vieles aus. Über allem steht der gemeinsame Feind, der Muslim.
Plädoyer für mehr Präzision
Juliane Wetzel, langjährige Forscherin am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, plädiert für mehr Wissenschaftlichkeit. Sie verweist darauf, dass sich in Erhebungen ein anderes Bild von vorhandenem Antisemitismus ergibt als in individuellem Empfinden. Betroffenheit mache einen nicht zum Experten. Sie setzt sich auch mit Exponenten vor allem der antimuslimischen Richtung auseinander, wie der allerorten oft gelesene (auch in der NZZ) israelisch-deutsche Historiker Michael Wolffsohn, der, wie sie nachweist, mit Behauptungen ohne empirische Beweise operiere.
Mit einer differenzierten Betrachtung ihrer Einstellungen in der weiteren Öffentlichkeit können die muslimischen Neuankömmlinge also nicht rechnen, schon allein aus Mangel an Kenntnis und Interesse. Das Buch liefert hier gründliche Analysen, auch jener antisemitischen Haltungen, die es selbstverständlich auch unter den Flüchtlingen gibt. Ein wesentlicher Unterschied allerding ist hier der Einfluss des israelisch-palästinensischen Konflikts. Dervis Hizarci, in Berlin hauptberuflich mit diesem Themenfeld befasst, liefert dazu wertvolle Erkenntnisse, auch aus der Bildungsarbeit.
Ein weiterer Punkt, den mehrere Autoren kritisieren, ist die 2016 verabschiedete Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance. Sie dient seither vielen politischen Gremien als Grundlage in der Auseinandersetzung (beispielsweise auch der SP). Das Problem dieser Definition ist ihre Ungenauigkeit und somit ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit. Der Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck sieht als eine grundlegende Schwäche in den heutigen Debatten, dass sie sich überhaupt an eine solche Definition klammern und andere, präzisere Definitionen nicht zur Kenntnis nehmen.
Die Kontroverse um das Jüdische Museum Berlin
Daniel Bax und Micha Brumlik setzen sich ausführlich mit der Kampagne gegen das Jüdische Museum in Berlin auseinander, die 2019 zum Rücktritt des international hochangesehenen Judaisten und Direktors Peter Schäfer führte. Diese Kampagne, die sich an der von Israel und später auch dem Zentralrat der Juden scharf kritisierten Ausstellung über Jerusalem entzündete, zeigt wie unter dem Brennglas, was hier schief läuft. Israel monierte, dass Palästinensern überhaupt Raum gegeben wurde in der Ausstellung, und verlangte von der Regierung, das Museum nicht mehr zu finanzieren. Dieses Ansinnen immerhin wurde abgelehnt. Immer wieder bemerkenswert ist indes, wie hier gewichtige Stimmen auch jüdischer Gelehrter aus aller Welt zugunsten des Museums von der offiziellen Politik ignoriert wurden.
Das hat sich auch im Fall Achille Mbembe gezeigt. Ein Muster an ausgewogener Kommentierung gerade dieser Vorgänge ist der Beitrag von Gert Krell, der in genauer Kenntnis des Werks von Mbembe auch dessen fragwürdige Punkte analysiert, wie etwa den speziellen Furor gegen Israel (Mbembe wütet freilich nicht nur gegen Israel), aber insgesamt zum Schluss kommt, dass hier ein falsches Exempel statuiert wird.
Wolfgang Benz (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Metropol Verlag, 2020, 328 S., Fr. 27.90