Über den moralischen Stellenwert des Antisemitismus braucht man in einem zivilisierten Diskurs spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg und dem von den Nazis verbrochenen Holocaust nicht weiter zu debattieren. Es ist, wie tendenziell jede Form des Rassismus und der und ihm innewohnenden Ausgrenzungstendenz und Gewaltverführung, eine fundamental destruktive, teuflische gesellschaftliche Kraft.
Dieser zumindest in westlichen Ländern weitherum verbreitete Konsens in der veröffentlichten Meinung bedeutet indessen nicht, dass antisemitische Erscheinungen und Tendenzen in der Gegenwart einfach verschwunden wären. Das wird, gestützt auf konkrete Fakten und Beispiele, denn auch immer wieder zu Recht beklagt und kritisiert. Doch daneben gibt es auch einige diskussionswerte Gründe, dem Begriff des Antisemitismus eine gewisse Skepsis entgegenzubringen.
Zum einen ist der Begriff schon von seiner Wortschöpfung her unscharf. Antisemitismus bezieht sich streng wörtlich genommen auf die sprachgeschichtliche Völkergruppe der Semiten, und zu dieser zählen nicht nur die Juden, sondern auch die Araber, die Malteser und einige andere Völker. Der Begriff Antisemitismus ist im 19. Jahrhundert entstanden und offenbar war man sich damals zu wenig bewusst, dass damit vom reinen Wortsinn her nicht nur Feindschaft gegen die Juden gemeint sein könnte. Es bleibt deshalb ein Rest von Irritation, wenn Arabern oder bestimmten arabischen Gruppen Antisemitismus vorgeworfen wird - wofür es von der Sache her ja durchaus naheliegende Gründe gibt, doch nach sprachlichem Empfinden ist das nicht überzeugend. Da gäbe es präzisere Begriffe wie antijüdisch, judenfeindlich, antizionistisch, anti-israelisch.
Zum zweiten kann der Ausdruck Antisemitismus auch als moralische Keule zur Verhinderung legitimer Kritik oder Debatten etwa über die israelische Politik missbraucht werden. Wer zum Beispiel die laufende Siedlungsexpansion der Regierung Netanjahu in den besetzten Gebieten als völkerrechtswidrig und als politisch-moralisch kontraproduktiv anklagt, dem kann nicht glaubwürdig schon eine antisemitische Haltung unterstellt werden, wie das bestimmte jüdische Hardliner tun. Übrigens werden solche Antisemitismus-Vorwürfe in den oft heissblütigen innerjüdischen und innerisraelischen Kontroversen selbst gegen eigene Volks- oder Glaubensangehörige ins Feld geführt. Was nur unterstreicht, dass es sich bei dem Antisemitismus-Begriff bei allem Wissen um dessen destruktiven Kern um eine ziemlich dehnbare Grösse handelt.
Ähnliche Vorbehalte können auch gegen den Ausdruck "Islamophobie" geltend gemacht werden. Er ist wesentlich jüngeren Datums als der Antisemitismus-Begriff und soll eine pauschale Islam-Feindlichkeit anprangern. Das ist in manchen Fällen zweifellos berechtigt. Doch gleichzeitig wird der Vorwurf der Islamophobie von radikalen Islam-Apologeten auch als Kampfbegriff eingesetzt, um jede Art von Kritik am muslimischen Glauben zu diskreditieren. Dass dies angesichts der verbreiteten Propaganda islamistischer Hassprediger gegen sogenannte Ungläubige und vor allem angesichts der seit Jahren andauernden mörderischen Terroranschläge in unzähligen Ländern nicht akzeptiert werden kann, versteht sich von selbst.
Der bekannte französische Islam-Experte Gilles Kepel hat denn auch unlängst in einem Gespräch im NZZ-Feuilleton darauf hingewiesen, dass der Islamophobie-Vorwurf heute hauptsächlich von salafistischen (also radikal-islamistischen) Propagandisten erhoben werde. Soweit dies der Fall ist, kann er auch keine nähere Glaubwürdigkeit beanspruchen. Wer sich kritisch mit dem Zustand des Islam und verschiedenen seiner extremistisch-terroristischen Erscheinungsformen auseinandersetzt, tut gut daran, sprachlich konsequent auf die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus, respektive islamisch und islamistisch zu achten.