In einem Bericht über die Öffnung des Archivs des Vatikans erklärte der SRF am vergangenen Donnerstag im Echo der Zeit, „Der Vatikan öffnet ab März den Zugang zu Dokumenten, die Antworten auf viele Fragen geben sollen.“ Dabei gehe es auch um die Frage, ob „prominente Nazi-Verbrecher wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele tatsächlich mit vatikanischen Pässen oder der Hilfe von römisch-katholischen Geistlichen nach Südamerika fliehen konnten. Bisher ist das lediglich ein Verdacht, der nun aufgrund der Akten widerlegt oder bestätigt werden könnte.“ Wie der SRF zu dieser Feststellung kommen konnte, wonach es sich bislang nur um einen „Verdacht“ handele, ist angesicht der Masse an bereits vorliegenden Dokumenten nicht nachvollziehbar.
Der SRF hätte nicht in der Ferne suchen müssen, schon in der Schweiz wäre er fündig geworden, so er denn gesucht hätte. In den Archiven des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes in Genf (IKRK), des Instituts für Zeitgeschichte der ETH Zürich, im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, und etwas weiter im Archiv der Südtiroler Kapuzinerprovinz (Brixen), des Franziskanerklosters Bozen, im Archivo storico dello Stato in Rom, im Berliner Bundesarchiv und dessen Außenstelle Ludwigsburg, im Istituto Santa Maria dell’Anima (Rom), Museo Storico Italiano della Guerra in Rovereto, im Militärarchiv in Freiburg und in zahlreichen anderen Stellen lagern stapelweise Dokumente, die den kirchlichen Beistand für Nazis auf der Flucht eindeutig belegen.
„Der Vatikan ist die größte einzelne Organisation, die in die illegalen Bewegungen von Emigranten involviert ist“, teilte die US-Botschaft in Rom am 15. Mai 1947 in einem streng vertraulichen Bericht dem State Department mit. „Es ist der Wunsch des Vatikans, jeder Person, unabhängig von ihrer Nationalität oder ihren politischen Ansichten, zu helfen, wenn sie nachweisen kann, katholisch zu sein.“ Der Vatikan rechtfertige seine Beteiligung mit dem „Wunsch, nicht nur in europäische sondern auch in lateinamerikanische Länder Menschen aller politischen Ausrichtungen einzuschleusen, die antikommunistisch und prokatholisch sind.“ Und nur zwei Wochen später bestätigte der US-Botschafter in Belgrad, John Cabot: Man habe „ein Arrangement mit dem Vatikan und Argentinien ausgearbeitet, mit dem jugoslawischen Kollaborateuren geholfen wird, nach Argentinien auszuwandern.“
„Gutes im Geheimen tun“
Das American Counter Intelligence Corps (CIC) organisierte in Zusammenarbeit mit der Pontificia Commissione Assistenza (PCA), der Hilfsorganisation des Vatikans für Flüchtlinge, die Fluchtrouten. 1922 war das Römische Komitee für Migranten gegründet worden, das 1930 die Opera Nazionale Assistenza Religiosa Morale Operai und 1946 schließlich als PCA so eine Art Lieblingsprojekt des Papstes wurde. In ihren Memoiren „Ich durfte ihm dienen: Erinnerungen an Papst Pius XII.“ beschrieb Pascalina Lehnert, seine Haushälterin, die Begeisterung des Stellvertreters Gottes für die Pontificia Commissione Assistenza. Geradezu „enthusiastisch“ habe der Papst die Gründung der Fluchthilfeorganisation begrüßt. „Wie interessiert der Heilige Vater war! Es war ideal, weil es seiner Neigung entsprach, Gutes im Geheimen zu tun.“
Nicht ganz so geheim arbeiteten zahlreiche Kleriker – darunter der österreichische Bischof Alois Hudal, der ukrainische Erzbischof Ivan Buchko, Kardinal Ildefonso Schuster, der Pater und Theologieprofessor Krunoslav Draganović oder Pater Josip Bujanović – eifrig in der Flüchtlingshilfe für verfolgte Nazis und schleusten sie ins sichere Exil. Auf diesen Rattenlinien, wie sie in Geheimdienstkreisen genannt wurden, brachten das CIC, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC )und der Vatikan in fröhlicher Zusammenarbeit Tausende ungarische Pfeilkreuzler, Mitglieder der serbischen Zbor-Bewegung, fanatische NS-treue Auslandsdeutsche, kroatische Ustascha, slowenische Weiße Garden, rumänische Eiserne Garden, lettische und litauische SS-Divisionäre oder Gestapo-Polizisten nach Australien. Weitere Zehntausende landeten in Lateinamerika, Kanada und den USA und lebten dort ungeschoren viele Jahre: SS-Offiziere, KZ-Wächter, Klaus Barbie, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Franz Stangl, der Kommandant der Konzentrationslager Sobibor und Treblinka, Ante Pavelić (Gründer der kroatischen Ustascha) oder der lettische Massenmörder Argods Fricsons.
Besonderer krichlicher Beistand
Für das Arrangement einer Flucht auf der Rattenlinie bezahlten das CIC und das OSS (Office of Strategic Services) dem Vatikan 1000 Dollar, über Sechzigjährige waren etwas teurer, und auf die Kinder der fliehenden Nazis gab’s fünfzig Prozent Preisnachlass. Den Erste-Klasse-Preis, der für die VIP-Behandlung prominenter Flüchtlinge wie Barbie oder Eichmann erhoben wurde, setzten die frommen Kirchenmänner auf 1400 Dollar fest. Etliche Kriegsverbrecher wie der Ungar Ferenc Vatja, der für zahlreiche Massenhinrichtungen in seiner Heimat verantwortlich war, fanden zeitweilig sogar Unterschlupf in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz des Papstes.[1]
Auf Bitte der Pontificia Commissione Assistenza stellte das ICRC bereitwillig Reisedokumente aus, auch Kriegsverbrechern wie Pavelić oder Fricsons. In prominenten Fällen hielten hohe Geistliche auch gerne selbst ihre schützende Hand über die Flüchtlinge. Zwar hatte der Journalist und Schriftsteller Evelyn Waugh, der während des Partisanenkrieges als Hauptmann in der britischen Militärmission in Titos Hauptquartier gedient hatte, seinen Vorgesetzten mitgeteilt: „Es gibt glaubwürdige Berichte, dass der Franziskanerpater Josip Bujanović in Gospic an Massakern orthodoxer Bauern beteiligt war.“ (Während die Kroaten überwiegend der römisch-katholischen Lehre anhängen, sind die serbischen Christen meist griechisch-orthodoxen Glaubens.) Doch der Vatikan unterstellte den Diener Gottes, der auch noch nach dem Krieg an terroristischen Untergrundaktionen gegen Jugoslawien teilnahm, dem Schutz diplomatischer Immunität. Fortan durfte er auf der Rattenlinie Nazis und Nazikollaborateure ins sichere Exil schleusen. Seine bedeutendste Nachkriegsaufgabe war es, 1947 persönlich die geheime Verschiffung Ante Pavelić' nach Argentinien zu organisieren. 1964 zog er aus Südamerika nach Adelaide um.
Auch Klaus Barbie erfuhr den besonderen krichlichen Beistand. Das 430. Gegenspionagekorps der US-Armee bat Pater Krunoslav Draganović um Hilfe, Barbie aus Europa zu bringen. Also besorgte der stramme Franziskanerpater beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes Ausweise und Reisedokumente für Barbie und seine Familie. Nach ihrer Ankunft im bolivianischen Cochabamba am 23. April 1951 übernahm Pater Stjepan Osvaldi-Toth, den der Vatikan seiner Kriegsverbrechen wegen ebenfalls mit einer neuen Identität (Roque Romac) versehen hatte, die weitere Betreuung des einstigen Gestapochefs von Lyon, bis dieser in seiner lateinamerikanischen Laufbahn Fuß gefasst hatte.[2]
Die Rettung des KZ-Kommandanten
Bischof Alois Hudal, der zehn Jahre zuvor in seinem Hauptwerk „Die Grundlagen des Nationalsozialismus“ eine „Symbiose“ zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus angestrebt hatte und nun Amnestie für Kriegsverbrecher forderte, brachte seinen Schützling Franz Stangl zunächst in seiner Residenz in Rom unter. Dann besorgte er ihm die notwendigen Reisedokumente für seine Flucht nach Syrien, den sogenannten Rote-Kreuz-Pass, der ursprünglich nur für eine einmalige Fahrt, etwa nach Argentinien, gültig war, später aber eine zunehmend längere Gültigkeitsdauer bekam. Alleine das Büro in Rom (daneben betrieb das ICRC in Italien noch Büros in Verona, Genua, Mailand und Neapel) stellte zwischen März 1945 und Oktober 1948 rund 50 000 derartige Pässe aus.
Den zum Erhalt eines solchen Passes notwendigen Ausweis stellte die Pontificia Commissione Assistenza aus. Dazu mussten zwei Zeugen die Angaben des Antragstellers über Geburtsdatum, -ort und Nationalität bestätigen. So konnte jeder flüchtige Kriegsverbrecher problemlos eine neue Identität und die notwendigen Dokumente bekommen. Drei SS-Männer etwa mussten sich einfach gegenseitig ihre neue Identität bestätigen. „Natürlich haben wir Fragen gestellt“, schilderte der damalige Direktor von Caritas International, Monsignor Karl Beyer, das Dilemma. „Damals aber konnte in Rom jedes Papier und jede Information gekauft werden. Wenn ein Mann uns erzählen wollte, dass er in Viareggio geboren worden sei – gleichgültig ob er in Berlin zur Welt gkommen war und kein Wort Italienisch sprach -, musste er nur auf die Straße gehen, wo er ein Dutzend Italiener finden konnte, die bereit waren, für 100 Lire auf einen Stapel Bibeln zu beschwören, dass er in Viareggio geboren sei.
Klöster als sichere Zufluchtsorte
Die PCA stellte nicht nur Ausweise und Persilscheine für Nazis aus. Sie stellte den Gesuchten und Verfolgten mit der richtigen Gesinnung Kirchen und Klöster als Unterkunft zur Verfügung. „Es war seltsam, dass katholische Priester mir auf meiner Reise immer wieder und ohne Fragen zu stellen halfen“, wunderte sich Adolf Eichmann in seinem „Bericht aus der Zelle in Jerusalem“: „Ich war nur einer unter vielen, die ihre Hilfe brauchten.“ In den Jahren nach dem Krieg wimmelten die italienischen und österreichischen Klöster von flüchtigen SS-Soldaten und Kriegsverbrechern. „Da waren Einige, die in Mönchskutten von Kloster zu Kloster durch die Alpen gezogen sind“, erinnerte sich ein dankbarer Kampfpilot Hans-Ulrich Rudel später: „Ganz gleich, welche Haltung man gegenüber dem Katholizismus einnimmt, aber eine nicht unerhebliche Zahl unserer Leute wurden in jenen Jahren von der Kirche gerettet, oft vor dem sicheren Tod.“
Am 1. Dezember 1945 durchsuchten italienische Carabinieri das Kloster des deutschen Templerordens in Lana bei Meran, verhafteten 15 Soldaten und Nazikollaborateure aus der Tschechoslowakei, aus Kroatien, Frankreich und Deutschland und fanden Waffen und anderem militärischem Material, Autos, Kunstgegenstände, die der vormalige Tiroler Gauleiter Franz Hofer zusammengeraubt hatte, sowie eine beträchtliche Summe Geldes. Die Kapuziner und Franziskaner-Klöster galten als die sichersten. „Es ist schwierig, die Motive dieser Priester zu erraten. Viele unter ihnen haben zweifellos aus missverstandener christlicher Nachstenliebe gehandelt“, schrieb Simon Wiesenthal in seinen Erinnerungen „Recht, nicht Rache“: „Einige haben vielleicht das Gleiche für
Juden getan. Die Tatsache, dass von Roms 8000 Juden 4000 überlebt haben, ist sicherlich vor allem der Kirche zuzuschreiben... Ich denke, die Kirche war gespalten in Priester und Mönche, die in Hitler den Antichristen und jene, die die Nazis als Ordnungsmacht im Kampf gegen den Niedergang der Moral und den Bolschewismus sahen.“
[1] Vatja wurde zunächst vom militärischen US-Abwehrdienst in Dachau interniert, von wo er nach Innsbruck floh, arbeitete in Westösterreich für die französischen Besatzungsbehörden, half danach in Rom, die katholische Hilfsorganisation Intermarium aufzubauen, wurde im Juli 1947 von CIC-Agenten angeheuert und reiste 1950 via Spanien nach Kolumbien, wo er später als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität von Bogotá lehrte.
[2] In Bolivien stellte Barbie seine tödlichen Fähigkeiten lateinamerikanischen Militärdiktaturen zur Verfügung. Noch 1980 organisierte er zusammen mit anderen Nazi-Kriegsverbrechern wie dem holländischen SS-Untersturmführer und –Propagandisten Willem Sassen den Putsch des bolivianischen Drogengenerals García Meza gegen die christdemokratische Präsidentin Lydia Geiler. Stjepan Osvaldi-Toth alias Roque Romac, der von den alliierten Nachrichtendiensten als „ein führender Ustascha-Offizier“ beschrieben worden war, stand bei der Kirche in so hohem Ansehen, dass Sydneys Kardinal Norman Gilroy nach seinem Tod im März 1970 die Beerdigungsmesse las.