Hinter den Attentaten und Anschlägen, die sich in jüngster Zeit in verschiedenen europäischen Ländern ereignet haben, stehen nicht nur einzelne Täter oder Tätergruppen. Dahinter stehen Konzepte und Ideen. Sie zielen darauf, das multikulturelle und liberale Europa zu zerstören.
Das Ziel des Bürgerkrieges
Diese Ideen sind sehr unterschiedlich. Der Norweger Anders Breivik will mit allen Mitteln die vermeintliche Identität der europäischen Kultur verteidigen, während der „Eurasier“ und Putin-Berater Alexander Dugin eben diese Kultur nicht zuletzt im Zeichen der russischen orthodoxen Kirche zerstören will. Und der strategische Kopf des IS, der Syrer Abu Musab al-Suri, sieht in der Vernichtung des Westens die eigentliche Mission des Islam.
Der Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, Claus Leggewie, sieht hinter diesen Differenzen aber die grossen Gemeinsamkeiten. Als Erstes sticht die Gewaltbereitschaft ins Auge. Er resümiert: „Die drei Protagonisten trennen Welten, und sie betrachten sich als Todfeinde; sperrte man sie gemeinsam in eine Zelle, gingen sie sich an die Gurgel. Doch ihr eigentliches Ziel ist nicht die Vernichtung dieses Feindes, es ist das Anzetteln eines Bürgerkriegs in Europa.“
Das rote Tuch der Freiheit
Die Gewalt ist für sie weitaus mehr als ein punktueller Regelbruch. Sie ist das Gegenkonzept zu den europäischen Werten. Denn diese basieren auf einem jahrhundertelangen Prozess der Überwindung der Willkür gewaltsamer Akte. Auch wenn das nie ganz gelungen ist und mit den Kriegen Zeiten grösster Gewaltausübung zurückgekehrt sind, so gibt es doch den starken Konsens, dass die Unverletztlichkeit des Menschen Vorrang hat.
Dazu gehört die Freiheit. Das westliche Ideal besteht in der Selbstbestimmung des Individuums. Daraus folgt die Toleranz auch in Bezug auf die sexuelle Orientierung. Und generell gilt sie gegenüber anderen Kulturen und Religionen. Diese Toleranz ist für Anders Breivik das rote Tuch. Im Gegensatz zu Dugin und al-Suri zielt er nicht auf die Vernichtung Andersgläubiger, aber er will diejenigen vernichten, die in seien Augen zu tolerant sind.
Fatale Gemeinsamkeiten
„Die Anschläge von Oslo und Utøya galten nicht den klar identifizierten Feinden, also den Muslimen selbst, sondern jenen, die gegenüber diesen in vorauseilendem Gehorsam ein abwieglerisches Appeasement betreiben, hier den Sozialdemokraten, die Breivik besonders vaterlandsverräterisch vorkommen.“ – Es ist nur ein Zufall gewesen, dass die ehemalige Regierungschefin Gro Harlem Brundtland die Insel Utøya schon verlassen hatte, als Breivik mit seinen Mordtaten anfing. In seiner sorgfältigen und über mehrere Jahre andauernden Planung hatte er sich minutiös die „Hinrichtung“ nach dem Muster der Islamisten ausgemalt.
Vorbereitet waren diese Untaten auch durch eine Schrift mit dem Titel: „2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“ von 1'500 Seiten. Leggewie vergleicht sie mit Ausführungen von Dugin und al-Suri. Aus der Sicht der westlichen Kultur und westlichen Rationalität handelt es sich bei Breivik und Dugin um unsägliches Geschwafel. Sie hängen Ideen der „identitären Bewegung“ und der „Konservativen Revolution“ an, die keiner ernsthaften Untersuchung standhalten. Aber das Fatale besteht eben darin, dass hier Gemeinsamkeiten mit dem Front National aufscheinen. Es gibt eine gefährliche Internationale der Wirrköpfe.
Abkehr vom Westen
Al-Suri aber ist kein Wirrkopf, jedenfalls nicht als Stratege. Claus Leggewie bescheinigt ihm sogar eine Art professorales Auftreten und findet ihn wesentlich zeitgemässer als noch Osama bin Laden. Aber jenseits der eiskalt berechneten Terrorstrategie kommt auch hier ein Widerlager zur westlichen Kultur zur Geltung: Diejenigen, die sich für den Dschihad entscheiden und die Strategie von al-Suri umsetzen, kehren der westlichen Kultur, in der sie gelebt und die sie zeitweilig übernommen haben, in tiefster Frustration den Rücken, um ihrem Leben durch die Rückkehr in die archaische Glaubenswelt eines unaufgeklärten Islams Sinn zu verleihen.
Dugin ist auf ähnliche Weise gefährlich. Seine Theorien mögen noch so verquast sein, und er selbst irrlichtert herum. Offenbar ist ihm 2014 seine Professur an der Lomonossow-Universität genommen worden. Aber er erreicht Tausende von Anhängern in den sozialen Netzwerken – und er erreicht Putin. Damit stärkt er dessen Furor gegenüber dem „arroganten“ Westen. Dazu kommt die russische orthodoxe Kirche, und schon ist ein Gebräu fertig, das im Westen nur noch in einem Donald Trump die Entsprechung findet.
Der Band „Anti-Europäer“ enthält vorzügliche Analysen und ist trotz seiner Kürze ein unentbehrliches Kompendium.
Claus Leggewie, Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. 177 Seiten, Sonderdruck edition suhrkamp, Berlin 2016